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- 24.01.2009
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Wie schon bei Nico. Bei Linus. Bei Ivo.
Vor der Rettungsschwimmerstation sitzen drei Morgenmuffel und klammern sich an ihre Kaffeetassen. Nina betrachtet das Bild und schmunzelt.
„Sieht ganz so aus, als wäre die erste Schicht meine“, sagt sie, zieht sich um, setzt sich auf den Steg und lauscht der Stille, die nur noch ein paar Minuten anhalten wird. Die erste Schicht ist Nina die liebste.
Eine halbe Stunde später kommt Rike zur Ablösung. Die ersten Urlauber haben das Frühstücksbuffet im Speisesaal abgeweidet, nun falten sie Decken auseinander, blasen Luftmatratzen auf und schmieren Rücken und Schultern mit Sonnencremé ein.
„Ich glaub, Max steht auf dich“, sagt Rike, als sie mit Nina zum Dienstwechsel abklatscht.
„Wieso?“
„Keine Ahnung.“
„Ich mein, wie kommst du darauf?“
„Bauchgefühl.“
Nina zieht sich das Wasserwacht-Shirt aus, wirft es auf den Steg neben Rike.
„Ich wette ein Stück Käsekuchen drauf.“
„Nimmst du nachher mein Shirt mit vor?“, bittet Nina und springt ins Wasser. Nach zwei, drei Zügen ruft sie: „Ich halte zwei dagegen!“
Rike hält den Daumen hoch. Dann zieht es Nina auf den See hinaus, weg von dem Gewimmel, Gejaule, Gejuchze und Gekreische der Kinderhölle. Da ist nur noch das Wasser und ihr Körper. Normalerweise. Heute sind da auch noch Rikes Worte.
Auf dem Steg gibt es keine Chance, der Sonne zu entkommen. Sie kocht einem direkt das Hirn weich. Es herrscht Hochbetrieb im Wasser, deshalb schieben sie jetzt zu zweit Wache. Max in der rechten, Nina in der linken Ecke des Stegs, der in U-Form den bewachten Badebereich umschließt. Neben ihr knutschen Teenager. Sie geht ein paar Schritte weiter. Ein älteres Pärchen kommt ihr entgegen, Hand in Hand. Zwei Frauen sitzen auf dem Steg und lästern über schwarze Kondome. Ein Typ steht wie eine Insel im Wasser und glotzt den Frauen hinterher.
Es ist fast dunkel, als Nina nach ihrer Abendrunde im See zur Unterkunft kommt. Der Wind ist kühl und sie wickelt das Handtuch fester um den Körper. Sie freut sich auf eine warme Dusche und den Rotwein, für den sie nach Feierabend extra zum Supermarkt in die Stadt gefahren ist.
Max sitzt vor dem Nachbarbungalow, trinkt Bier, isst Chips und klimpert auf seiner Gitarre.
„Ich würde da jetzt nicht reingehen“, ruft er ihr zu.
„Weil?“
„Bist du taub?“
Nina lauscht. Doch, sie hört es. Eigentlich ist es überhaupt nicht nicht zu hören.
„Ist nicht wahr, oder?“, sagt sie zu Max.
„Hört sich sehr wahr an, wenn du mich fragst.“
„Kann ich eure Dusche benutzen? Mir ist saukalt.“
„Klar. Fühl dich wie zu Hause.“
Als sie fertig ist, bietet ihr Max eins seiner Sweatshirts an: „Hab es erst einmal angehabt.“
„Danke“, sagt sie. „Aber die beiden werden ja wohl nicht ewig vögeln.“
„Wer weiß?“ Er klimpert weiter auf seiner Gitarre. Nina schaut zu, wie seine schmalen Finger über die Bunde gleiten. Ihn bringt nichts aus der Ruhe. Vielleicht hat es mit seinem richtigen Job zu tun. Er pflegt im Zoo die Wollschweine. „Die coolsten Tiere, ever“, sagt er. Wollschweine, das hört sich gemütlich an, findet Nina.
„Willste ein Bier? Steht im Kühlschrank.“
„Ich habe Rotwein drüben. Danke.“
„Wie du meinst.“
Es ist keine wirkliche Melodie, die er spielt und trotzdem klingt es schön. Irgendwann stellt er die Gitarre weg und schaut Nina an. Einfach so, ohne ein Wort zu sagen, ohne seinen Blick wieder von ihr zu lösen. Es macht sie nervös.
„Vielleicht will ich doch ein Bier“, sagt sie und steht auf.
Max erzählt von seinem Bruder, der nach Alaska ausgewandert ist. Beim nächsten Bier von seiner ersten Freundin, seinem ersten Mal. „Und bei dir?“
„Ivo. Keine aufregende Geschichte.“ Das stimmte. Es gab keine Ameisenarmee auf ihrer Haut, keinen Wirbelsturm, der durch sie hinwegfegte, keinen Himmel und keine Hölle, Nina spürte einfach: Nichts. Dabei hatte sie ihn so geliebt. Irgendwann fuhr Ivo nach Italien, dort lernte er Layla kennen, eine Königin der Nacht. Danach holte er seine Sachen bei Nina ab. Ein T-Shirt vergaß er, und sie weinte hinein.
„Ich hatte mal eine, die stand total auf Wald. Total schräg war das“, sagt Max.
Nina lächelt höflich, nickt. Sie fand den Alaskabruder und die Wollschweine interessanter. Wieder ruht Max‘ Blick auf ihrem Gesicht.
„Was?“, fragt sie.
„Nichts. Nur so.“
„Es macht mich nervös.“
„Gut.“
Endlich kommen Rike und Udo aus der Hütte. Nina atmet auf.
Am nächsten Tag durchkreuzt ab und an ein Wölkchen das Blau am Himmel. Kleine Schäfchen, die ihre Herde verloren haben. Der Tag verläuft wie all die anderen zuvor. Nina übernimmt die erste Schicht, dann, alle halbe Stunde Wechsel auf dem Steg. Rike und Udo knutschen. Ein Typ steht wie eine Insel im Wasser.
Abends türmen sich Wolken auf. Nina schwimmt auf den See hinaus. Zug um Zug spürt sie mehr ihren Körper, der das Wasser pflügt. Es donnert. Sie sollte umkehren. Sie weiß es. Aber sie will nicht. Noch nicht. Ihre Gedanken kreisen um Max und Käsekuchen. Der erste Blitz drüben bei der Fischerhütte. Nina kehrt um, sie muss.
Max sitzt auf dem Steg, er ist klitschnass vom Regen. Nina wartet auf seine Vorwürfe; aber Max schweigt, sieht ihr stumm zu, wie sie sich trocken reibt. Eine völlig sinnlose Aktion bei dem Wetter.
„Hab Tee gekocht. In der Station“, sagt er schließlich und geht. Sie schaut ihm nach, wie er sich Schritt für Schritt von ihr entfernt und schließlich in der Baracke verschwindet. Jetzt wünscht Nina sich eine Zigarette. Die letzte hatte sie vor mehr als drei Jahren geraucht. Mit Nico. Als Nico sie verließ, hat sie das Rauchen aufgegeben. Ihn hat sie lange vermisst im Gegensatz zu den Zigaretten.
Ganz langsam, wie in Zeitlupe, nähert sie sich der Station. Max hat Hose und Trainingsjacke zum Trocknen aufgehängt, rubbelt sich die Haare trocken. Nina legt sich einfach nur eine Decke um. Gemeinsam stehen sie mit ihren Teetassen am Fenster, lassen den Dampf ihre Gesichter wärmen, zerstören das Wetterspiel nicht mit Worten, bis nur noch stetig Regen fällt.
Max schläft auf der Liege für die Verletzten und Kranken. Nina beobachtet ihn im Schein der Laterne. Wäre sie doch nur ein bisschen mehr wie Ivos Layla, eine Nachtkönigin, es wäre bestimmt sehr schön mit Max gewesen. Aber sie ist Nina. Wie sie es schon bei Nico war. Bei Linus. Bei Ivo. Keine Ameisenarmee, kein Wirbelsturm, kein Himmel und keine Hölle. Nicht für sie. Nicht, wenn man asexuell ist.
Nina atmet Max‘ Duft ein und schließt die Augen. Das Gewitter ist abgezogen. Sie zieht die Decke über seinem Körper zurecht, schlüpft in ihren Badeanzug, und kaum, dass sie draußen ist, läuft sie auf den See zu.
Rike und Udo haben sich gestritten. Max und Nina knutschen nicht. Nur ab und an, wenn sie allein sind, berührt Max sie sacht. Nina lächelt dann für ihn. Es ist ihr letzter Tag. Morgen ist ihre Zeit am Waldsee abgelaufen. Abends grillen sie vor den Bungalows. Rikes Laune bessert sich stetig, während Udo sinnlos Bier in sich hineinkippt. Max hält es kaum noch auf seinem Stuhl. Nina spürt es. Sie wird mit ihm runter zur Station gehen. Sie mag ihn gern. Für ihn wird sie ein letztes Mal diese Leere spüren.
Am nächsten Vormittag packt sie ihre Sachen, hält Max‘ Sweatshirt in den Händen. Sie atmet seinen Duft ein, streicht mit der Hand drüber, legt es zusammen und in ihren Koffer. „Ich weiß, das gehört sich nicht“, flüstert sie. Anschließend kauft sie zwei Stück Käsekuchen für Rike. Unten, in der Station, umarmt sie alle, Max ein wenig enger.
„Du fehlst mir jetzt schon“, flüstert er.
„Du mir auch“, flüstert sie.
Max‘ Silhouette wird im Rückspiegel kleiner, bis eine Kurve ihn ganz verschwinden lässt. Kurz vor der Autobahn stoppt Nina den Wagen. Sie schaut hoch zum Himmel, es ist Badewetter. Keine Auszeit für die Rettungsschwimmer.
Auf Dauer geht es nicht gut. Ist es nie gut gegangen, entschuldigt sich Nina bei Max, und löscht seine Nummer aus dem Handy.