Mitglied
- Beitritt
- 24.01.2003
- Beiträge
- 331
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Wie ich meinem Vater die Augen öffnete
Entgegen falschen Vorurteilen bin ich der Ansicht, dass nicht die Männer die Starken in unserer Gesellschaft sind, sondern die Frauen. Sie sind es, die persönliche Beziehungen der Opportunität unterordnen, nicht wir Männer. Zu dieser Einsicht konnte ich nur kommen, weil ich neben einer wachen Neugier auch ein überragendes emotionales Verständnis für meine Mitmenschen habe. Diese beiden charakterlichen Vorzüge machte ich mir schon früh zunutze. Beispielsweise als ich es mit sechs Jahren für nötig hielt, meinem Vater in gewisser Hinsicht die Augen zu öffnen.
Es war Frühsommer in München, ich erlebte meine ersten Pfingstferien und schon die ganze Woche war blendendes Wetter. Mein Vater war gerade arbeitslos geworden, und so sahen wir uns oft gemeinsam das Vorabendprogramm im Fernsehen an. Mein Vater schlief dabei allerdings regelmäßig ein. So auch, als der Bericht über die Flugschau kam.
"Können wir da nicht hinfahren?" bettelte ich beim Abendessen. "Man kann sogar mitfliegen. Ach bitte."
"Humm, wann soll das sein", brummte mein Vater.
"Schau mal in der Zeitung", schlug meine Mutter vor.
"Die haben wir doch abbestellt."
Die Augen meiner Mutter wurden für einen Augenblick zu Schlitzen. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und gab meinem Vater die Stadtteilzeitung, die gratis ins Haus kam. Schnell hatte er es gefunden.
"Da ist es. Ju 52, amerikanische F16, humm, vom fünften bis zehnten Juni. Der Fünfte, das ist Samstag. Also geht es morgen los."
"Ihr wollt doch nicht bei dem schönen Wetter die blöden Flugzeuge angucken", maulte meine Mutter. Sie wollte lieber ins Gebirge.
Mein Vater zögerte. Sicher wollte er nicht ins Gebirge, er wollte nie ins Gebirge. Aber er war nicht schnell zu begeistern. Er sagte immer, er müsse abwägen. Ich nannte das "einen Anlauf nehmen".
Doch allmählich rutschte sein Brummen vom tiefsten Bass in den Bariton hinauf. Schließlich hatte ich ihn so weit, dass es wie ein normales "hm" klang. Die Haltung meiner Mutter dagegen blieb ablehnend.
Das Telefon unterbrach uns. Meine Mutter lief hinaus und hob ab. Gott sei Dank dauerte es nicht allzu lang. Sie antwortete ein paarmal mit Ja und Nein, dann mit Okay, und sagte schließlich Ciao. Dann kam sie zurück zu uns. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen.
"Wie ist das jetzt mit morgen", drängelte ich, "fahren wir oder nicht?"
Mein Vater runzelte die Stirn, zögerte und fragte schließlich meine Mutter: "Was meinst du?"
"Also gut", sagte sie. "Fahrt ihr mal. Ich muss sowieso noch Hausarbeiten korrigieren."
Ich jubelte. Zum ersten Mal im Leben war ich froh, dass meine Mutter Lehrerin war. Sonst bedeutete das doppeltes Abfragen, einmal zu Hause, einmal in der Schule.
Auch mein Vater war begeistert, ich meine, zumindest im Rahmen seiner Möglichkeiten. Bei ihm drückte sich das so aus, dass er meiner Mutter einen Kuss auf die Wange gab. Er versprach, dass wir am frühen Nachmittag zurück sein würden.
Im Bett, nachdem ich das Licht ausgemacht hatte, sah ich die Flugzeuge schon vor mir, überlegte, wie es sein würde, mit einem Militärjet die Schallmauer zu durchbrechen. Zu meinen Favoriten zählten die französische Mirage und vor allem die amerikanische F16. Die Doppeldecker und Wellblech-Flugzeuge von anno dazumal überließ ich gerne meinem Vater. Schneller, höher, weiter - das war schon damals meine Devise. Meine Mutter dagegen lehnte alle Flugzeuge ab. Später erzählte sie mir, warum. Für sie waren das nur Projektionsflächen für Männerphantasien, vor allem von Allmachtsträumen. Natürlich ist das Unsinn - aber das gehört nicht hierher.
Ich drehte mich auf die andere Seite und musste an meine Mutter denken. Ihr plötzliches Einverständnis kam mir seltsam vor. Hatte es etwas mit dem Telefongespräch zu tun? Oder mit meinem Geburtstag? Vielleicht eine Überraschung für meinen Vater? Ich konnte mich nicht damit abfinden, dass etwas vor mir geheim gehalten wurde. Pädagogische Geheimnisse konnte ich gerade noch ertragen. Aber hier machte meine Mutter auch meinem Vater etwas vor. Das war keine kleine Lüge, sagte mir mein Gefühl. So sehr ich mich auch abmühte, so sehr ich mir den Kopf zerbrach - ich fand keine Erklärung. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, was dahinter steckte: Ich musste ein Opfer bringen.
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, machten mein Vater und ich uns auf den Weg. Ich glaube, wir waren beide aufgeregt, er voller Vorfreude auf die Flugzeuge, ich gespannt auf die Entdeckung, die mir heute bevorstehen würde. Meine Pläne standen im Groben fest, wenn ich auch bei den Details wie immer bereit war, spontanen Ideen nachzugehen.
An diesem Junitag machte es mir das Wetter leicht. Schon auf dem Weg zum Auto begann ich zu niesen, und es hörte auch im Wagen nicht auf. Obwohl ich mir die Nasenflügel fest mit den Fingern zuhielt, fanden irgendwelche Gräserpollen ihren Weg in meine Nase. Der Schleim an meinem Daumen und meinem Zeigefinger färbte sich allmählich rot. Ich hielt meinem Vater die blutigen Finger hin.
"Achje", sagte er und fuhr unseren Volvo-Kombi rechts ran. "Da hast du ein Tempo. Leg den Kopf in den Nacken, dann hört es schon wieder auf."
Jedes Kind weiß, dass es besser ist, sich bei Nasenbluten vornüber zu beugen. Aber um ihm einen Gefallen zu tun, tat ich, was er wollte. Als es nach einer Viertelstunde nicht besser war, sagte er: "Das hat keinen Zweck so."
Er wendete, und ich begann zu heulen.
"Aber Oliver, es hat doch keinen Sinn", versuchte er mich zu beruhigen.
"Wir werden die Flieger nicht sehen, nie nie wieder, ich werd sie im ganzen Leben nicht mehr sehen."
"Oliver, sei doch vernünftig. Vielleicht klappt es morgen oder übermorgen ..."
Die ganze Fahrt über versuchte er, mich zu beruhigen. Mich belustigte die Naivität, mit der er mir meine Show abnahm. Es war so einfach. Wer lange Heuschnupfen gehabt hat wie ich, weiß, wie man einen Niesreiz provoziert.
Eine halbe Stunde später standen wir wieder vor der Wohnungstüre. Meine Nase blutete stark vom Treppensteigen - wir wohnten im dritten Stock. Mein Vater kramte den Schlüssel hervor und wollte ihn ins Schloss stecken, da stutzte er: Das Schloss war blockiert, er brachte den Schlüssel nicht hinein.
"Warum sperrt Mami ab?" fragte ich ihn.
"Wahrscheinlich hat sie versehentlich den Schlüssel stecken lassen", antwortete er.
Wir klingelten und warteten. Es dauerte viel länger, als man in unserer kleinen Dreizimmerwohnung bis zur Tür brauchte.
"Vielleicht denkt sie, wir stehen unten auf der Straße", vermutete mein Vater und klingelte noch einmal, zweimal kurz hintereinander.
Es tat sich wieder nichts, und wir standen eine Ewigkeit im Treppenhaus herum. Meinem Vater gingen die Taschentücher aus, und meine Nase blutete auf den gebohnerten Boden.
"Vielleicht schläft sie", vermutete er schließlich. Er klingelte noch mal, dann ein drittes und ein viertes Mal. Schließlich klingelte er Sturm.
Endlich öffnete sich die Wohnungstür; die Kette war eingehängt. In dem Spalt erschien meine Mutter; ihr Haar war zerdrückt und sie trug nur einen Bademantel.
"Ihr schon", sagte sie und öffnete die Türe ganz. Sie blickte meinen Vater an, dann zu mir herunter. "Ach so, wieder Heuschnupfen", sagte sie, und ließ uns hinein.
Meine Nase blutete immer noch stark, und so stürmte ich gleich zur Toilette. Aber die Tür war abgesperrt. Aha, dachte ich, und trat mit dem Fuß dagegen, damit mein Vater es auch merkte. Dann lief ich weiter zum Bad, hielt mein Gesicht übers Waschbecken und drehte den Hahn auf. Dicke dunkelrote Blutkleckse mischten sich mit dem Wasser. Es roch seltsam im Bad, nicht von dem Blut, und vor der Wanne stand ein Paar Herrenschuhe. Draußen im Flur stritten meine Eltern. Was sie sagten, war nicht zu verstehen, denn sie hatten die Tür hinter mir geschlossen. Aber sie stritten, ziemlich heftig sogar.
Etwas später kam mein Vater herein.
"Hat fast aufgehört", sagte ich.
"Warte", sagte mein Vater und säuberte mir mit einem Kleenex das Gesicht. "Wir gehen noch mal an die frische Luft, Oliver." Er nahm mich an der Hand und zog mich hinaus in den Flur. Meine Mutter stand in der Küche. Sie wendete uns den Rücken zu und starrte mit verschränkten Armen aus dem Fenster.
"Inzwischen räumt Mami die Wohnung auf", sagte er beim Hinausgehen. Ich glaubte, etwas Drohendes in seiner Stimme zu bemerken.
Unten auf der Straße stellte ich meinen Vater zur Rede.
"Was sollen wir hier?"
Vater brummte unwillig und bekam einen roten Kopf.
"Warum war die Klotür zu", fragte ich, mich naiv stellend.
"Das verstehst du noch nicht", antwortete er. Offensichtlich hatte ich die richtige Frage gestellt, er war aber nicht bereit, darüber zu reden.
Warum ich diese Geschichte erzählt habe? Nun ja, die Sache hat damals meinem Vater die Augen geöffnet. Sechs Jahre später ließ er sich scheiden. Und mir selbst ist auch so einiges klar geworden, was die Frauen angeht: Es hat mir ein gesundes Misstrauen eingeimpft.