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Wie ich meine Rachephantasie verlor - Serie - 1
Als ich siebzehn war, drohte mir ein Kroate Gewalt an. Es war eine Scheißsituation, und sie sollte mir noch sehr lange Zeit zu schaffen machen. Auch Jahre später vergaß ich den Kroaten nicht, in meiner Erinnerung bleib er ein Gigant von einem Menschen, ein Berg aus harten Knochen, ein Hindernis, an dem ich nie vorbeikam. Diese Geschichte beginnt jedoch, wie so häufig, mit einem zarten Mädchen.
Eine Woche vor meiner Begegnung mit dem Kroaten traf ich Lisa in einer Bar. Sie war bei mir auf der Schule und ein Jahr jünger als ich, ein schmales, blondes, scheues Wesen, wie es sie in unseren Breiten massenhaft gibt. Ich saß an der Theke und unterhielt mich mit meinem besten Kumpel, der irgendwann zu mir meinte: „Hey, sprich sie an.“ Phil machte das gern: mit Imperativen kommen, wenn uns langweilig wurde. Früher, als wir noch jünger waren, hatten solche Sätze Mutprobencharakter, mittlerweile dienten sie vor allem der Kurzweile.
Ich drehte mich zu Lisa, wir hatten kurz Augenkontakt, und ich dachte, wie man eben so denkt, wenn man schon vier oder fünf Bier intus hat: Na gut, dann sprech ich sie halt an. Ich ging rüber, sie lächelte gleich, wir wechselten ein paar Worte, ohne Zweifel richtig banales Zeug, dann gingen wir zusammen raus, wahrscheinlich, weil ich sie fragte, ob sie Lust auf frische Luft hätte. Das war so meine Standardfrage.
Bald hatte ich sie gegen einen Baum gedrückt und wir machten rum. Ich weiß noch, wie sie zwischen mir und dem Baum regelrecht pulsierte, wie sie auf und ab rutschte wie ein warmes kleines Tier, wie sie mmmm machte, als ich ihren Hals küsste, und wie ich ihre Brust mit der Hand umfasste und dachte: Hast recht, fühlt sich verdammt gut an.
Später sind wir noch zu mir gegangen, Phil, Lisa und ihre Freundin. Mein Zimmer war im Keller, da konnten wir so laut sein, wie wir wollten, und meine Mutter bekam nichts mit. Das hatte ich mir echt gut eingerichtet. Wir saßen zusammen auf dem Bett, mixten uns Vodka-Orange und lachten über Scheißlehrer. Lisa sah immer wieder zu mir auf und fuhr mit der Hand über meinen Rücken, über den Lendenwirbelbereich, so ein aufgeregtes Frauenstreicheln war das, als würde sie mich wachhalten wollen, und da fragte ich mich, wie weit ich mit ihr gehen konnte. Beziehungsweise sollte. War bumsen drin? Sex lag irgendwie in der Luft, fand ich. Und vielleicht wär's auch wirklich dazu gekommen, eine rundum gelungene Nacht, wie man so sagt, doch dann ist Lisa schlecht geworden, wirklich von einem Moment zum nächsten, sie beugte sich vor und kotzte meinen Teppichboden voll.
„Whooaaa …“, sagte Phil, und wir sprangen alle vom Bett auf.
Das Zeug schoss aus ihrem Mund, Orangensaft, Bier und Vodka, und dann noch etwas, das schwer auszumachen war, Sushi vielleicht, keine Ahnung, da hab ich nie nachgefragt, jedenfalls stank es widerlich und sah auch so aus. Als Lisa fertig war, schlug sie die Hände auf den Kopf und sagte langsam und mit bleichem Gesicht: „O Gooooooooooott …“
Ich putzte die Kotze weg, holte Lisa ein Glas Wasser und brachte sie zur Couch, wo sie sich hinlegte. Eine halbe Stunde Später begleitete ihre Freundin sie nach Hause, zu Fuß. Also laufen konnte Lisa schon noch, so schlimm war's nicht. Und damit wäre diese Episode normalerweise für mich gegessen gewesen, wirklich vorbei. Gut, in der Raucherecke sprach man natürlich darüber. Am Montag in der großen Pause traf ich Lisa dort, wir wechselten ein paar Worte und ich war freundlich, das Kotzen erwähnte ich nicht, ich fragte lediglich, wie es ihr ging, sie sagte gut, und das war's.
Im Laufe der Woche bekam ich noch zu hören, dass Lisa schon länger auf mich stand, und ihre Freundinnen sie jetzt ganz schön mit der Kotzaktion aufzogen, weil sie es vermasselt hatte und so weiter. Ich nahm das alles wortlos zur Kenntnis und sagte nichts dazu. Natürlich hatte Lisa nichts „vermasselt“, es war einfach eine lange Nacht mit viel Alkohol gewesen, das nahm ich ihr überhaupt nicht übel. Und was „uns“ anging, naja … ich sag's mal so: Die hätte ich bestimmt nicht geheiratet, Kotzen hin oder her.
So gesehen hatte das Magenfiasko vielleicht auch was Gutes, weil angenommen, sie wäre wirklich verliebt in mich gewesen und dann hätte ich mit ihr geschlafen - wer weiß, wie sie dann reagiert hätte? Manche Frauen werden dann unberechenbar. So hatte Lisa im letzten Augenblick die Nacht unvermittelt für beendet erklärt und uns vor Schlimmerem bewahrt. Alles gut gelaufen also. Klar, jetzt war das vielleicht peinlich für sie, aber so war das jeden Montag in der Raucherecke: Irgendwer hatte es am Wochenende übertrieben und musste als Lästerobjekt herhalten.
Und nächste Woche war dann jemand anderes dran.
Am Freitag nach dem Sportunterricht kam Sandro in der Kabine auf mich zu, ein kleiner Italiener mit freundlichen Augen, eigentlich ein lustiger Typ.
„Hey, kennst du Vlatko?“, fragte er mich.
Ich hatte gerade den Cooper-Test in persönlicher Bestzeit absolviert und war völlig fertig. Acht Stadionrunden in zwölf Minuten. Gott, was man nicht alles für ne Eins tut. Ich lehnte mich gegen die Wand, zog mein T-Shirt aus und wischte mein Gesicht damit ab. „Wer?“
Sandro stand in der Tür. „Der Vlatko, er ist auf der TG, Kroate , so alt wie wir … “
„Was ist mit dem?“
„Er steht auf Lisa.“
„Und?“ Ich beugte mich vor, um meine gelben Nikes auszuziehen.
„Er möchte was mit dir klären, hab ich gehört …“
„Was möchte er mit mir klären?“
„Das mit Lisa …“
Ich kämpfte mit den Schnürsenkeln. „Ist das seine Freundin?“
„Nein.“
„Seine Schwester?“
„Nein.“
„Na, was will er dann klären?“ Ich zog den linken Schuh einfach mit Gewalt aus, ohne die Schnursenkel vorher aufzumachen.
„Ich weiß nur, dass er das mir dir klären will.“
„Will er mich schlagen, oder was?“ Ich grinste bei der Vorstellung.
Sandro zuckte mit den Achseln, sein Ausdruck völlig unverändert. „Keine Ahnung, ich weiß nur, dass er was mir dir klären will.“
Etwas an seiner Tonlage gefiel mir nicht. „Hat du mit ihm darüber gesprochen oder wie?“
„Nein, nein, das nicht … Aber offenbar war er am Wochenende auch da.“
„Wo denn?“
„Im Trödler, als du Lisa abgefüllt hast.“
Ich machte ein irritiertes Gesicht. „Ich hab Lisa gar nicht abgefüllt.“
Wieder zuckte Sandro nur mit den Achseln.
„Wie sieht dieser Vlatko denn aus?“
„Er ist Jugo, hat so krasse blaue Augen, er trägt immer eine schwarze Lederjacke und …“ - Sandro drückte sein Kinn auf die Brust, hob die Schultern an und sprach genuschelt weiter - „und der hat keinen Hals. Der geht ungefähr so.“
„Nicht zu übersehen, was?“
„Also wenn er vor dir steht … eigentlich nicht.“
Am Samstag fand die alljährliche Glitzer-Funk-Soul Party im Jugendhaus statt, für die ich fast schon zu alt war. In drei Monaten würde ich achtzehn werden und mich drängte es in die Clubs, an den Türstehern vorbei, Richtung Führerschein, Abitur etc. Aber die Glitzer-Funk-Soul war wirklich legendär, allein schon wegen dem vielen Glitzer, der tonnenweise in Schalen auslag, bis Ende der Nacht jeden wie ein Diamant strahlen ließ, und irgendwie dazu drängte, ganz viel Alkohol zu trinken und sich auszuziehen. Frag mich nicht, wie das zusammenhängt, aber wenn man voll mit Glitzer ist, passieren komische Dinge. Unten im Soul-Room legte man Black auf, oben Eighties, draußen gab es eine riesige Cocktailbar, die Leute dahinter schenkten völlig unverantwortlich aus … also die Parties waren der Hammer, keine Ahnung, warum es mich woanders hingedrängt hat. Ein Haufen Leute waren da, meine ganze Schule, sämtliche andere Schulen, fast jeder, den ich kannte, und sogar meine kleine Schwester. Sie war vierzehn, hatte einen Jeansrock und was Rückenfreies an, und sie lief mit einem Cocktail in der Hand herum. Das bereitete mir Kopfschmerzen, denn zum einen war sie meine Schwester, und zum anderen war das hier die Glitzer-Funk-Soul, und sie hatte einen Jeansrock und was Rückenfreies an und sie lief mit einem Cocktail in der Hand herum. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, sah sie dabei auch noch gut aus. Am liebsten hätte ich meine Schwester nie mit solchen Augen sehen müssen, aber ich war leider nicht blind, und aussehtechnisch lag sie nun mal im oberen Bereich, was natürlich alles viel schlimmer machte. Wer weiß, zu was die sich heute Nacht nicht alles verleiten ließ? Ich knirschte bereits mit den Zähnen bei diesen Gedanken. Ich wollte an der Bar rumhängen, mich ganz gemütlich betrinken, mich mit den Weibern unterhalten, vielleicht gegen Ende noch eine abgrätschen. Mehr nicht. Alles ganz easy und locker. Doch jetzt die Schwester.
„Hey, deine Schwester hat wieder einen Zombie bestellt“, sagte Phil.
Wir standen draußen bei der Bar, jeweils ein Bier in der Hand, und betrachteten das Glitzern. Normalerweise war der Hof hinter dem Jugendhaus recht dunkel, doch heute schienen von über der Bar blaue und grüne Lichter auf die Menge.
„Das ist dann ihr zweiter Zombie, oder?“, fragte ich.
„Ich glaube schon“, sagte Phil. „Aber chill mal. Wir sind hier im Jugendhaus, da passiert schon nicht so viel.“
„Von wegen hier passiert nicht so viel! Du hast ein Gedächtnis wie ein Fisch.“
„Jetzt komm …“
„Weißt du überhaupt, was alles drin ist in diesen Zombies? Alles! Die hauen einfach alles rein! Und ausgerechnet darauf steht sie. Das ist nicht so wie bei uns, als wir noch vierzehn waren, das artet alles aus jetzt.“
„Laber nicht, bei uns war das genau so.“
„Aber du kennst meine Schwester nicht! Du müsstest mal ne Woche bei uns wohnen, Phil, mal erleben, wie das ist, wenn die wieder meint, nichts zum Anziehen zu haben, oder wenn die ihr Lieblingstop nicht finden kann oder so was, Alter, dann bebt das ganze Haus, ich schwör, da wackeln die Fenster, ich geh dann in Deckung und schicke Mama rein, alles andere ist zu gefährlich.“
„Komisch, ich erleb sie gar nicht so. Zu mir ist sie immer voll nett. Sogar lieb würde ich sagen.“
„Willst du mir jetzt auf den Sack gehen, oder was?“
Phil nahm einen Schluck Bier. „Was sagt denn deine Mutter dazu, wenn sie hier unterwegs ist?“
„Meine Mutter hat gemeint, ich soll ein Auge auf sie werfen. “
„Tja …“
„Das ist wirklich nicht witzig, Phil, wirklich nicht witzig. Was grinst du so?“
„Wenn man vom Teufel spricht …“
Meine Schwester hatte uns gesehen und kam mit einer Freundin auf uns zu. Sie lächelte, hob den Zombie mit beiden Händen in die Höhe – dabei rutschten vierzig oder fünfzig bunte Bändchen Richtung Ellenbogen – und tapste durch die Menge. Als sie vor uns stand, schlang sie den rechten Arm um meinen Hals und sagte: „Hey, was geeeeeeeeht?“
Die Freundin quietschte vor Freude, und meine Schwester lächelte verschmitzt.
„Nicht so viel“, sagte ich. „Bei dir?“
„Voll viel! Schau mal, ich glitzere! Cool, was? Hallo Phil! Wow, schönes Hemd! Echt schön, darf ich mal anfassen?“
„Klar.“
Sie streichelte seine Schulter wie ein Tigerfell. „Wow, echt schön …“
Es war ein stinknormales schwarzes Hemd.
„Danke“, sagte Phil und er wurde tatsächlich ein bisschen rot. Er rückte seinen Kragen zurecht und sagte: „H und M.“
„Haha!“ Meine Schwester lachte mit der Freundin. „Ach ja, kennt ihr schon Lydia? Das ist mein Bruder und das ist der Phil!“
Phil nickte und sagte Hallo, und ich nickte und sagte Hallo, und Lydia auch - eine kleine Brünette mit Mördertitten und einem total dämlichen Grinsen. So eine „Schüchterne“, bei der es schon nach zwei Drinks alle Sicherungen raushaut.
„Euer wievielter Zombie ist das jetzt?“, fragte ich.
„Ach …“ meine Schwester ließ sich von meinem Hals baumeln, als wäre ich eine Stange, und sah ihre Freundin an. „Er fragt immer, wie viel ich getrunken hab, immer das Gleiche, voll langweilig …“ Und dann im Flüstern, sodass es jeder hören konnte: „Aber selbst ist er der größte Dichtkopf, den es je gab! Er ist mal nach Hause gekommen und hat das Klo nicht gefunden und dann hat er einfach in einen Blumentopf gekotzt! Und ein anderes Mal, da waren wir im Urlaub …“
„Jetzt zieh hier nicht so ne Show ab“, sagte ich und nahm ihren Arm von meinem Hals.
Sie zog die Brauen an. „Ich? Eine Show? Aus deinem Mund? Das muss ich mir merken!“
„Soll ich ein paar Geschichten von dir erzählen?“, fragte ich.
Da sagte sie nichts.
„Hör mal“, sagte ich, „ich spreche aus Erfahrung, okay? Und ich komme dir ein ganzes Stück entgegen, wenn ich sage: nur noch ein Zombie. Wirklich ein ganzes Stück entgegen. Ich meine … das wären dann insgesamt drei.“
„Aber die schmecken soooo gut. Und wir haben erst elf, wie soll das gehen?“
„Hey, ist dir überhaupt klar, was ich gerade gesagt hab? Insgesamt drei Zombies. Hast du das gehört, Phil? Ich kann selbst gar nicht glauben, dass ich das gesagt hab. Ich meine, das sind drei Zombies mehr, als du trinken solltest. Du bist nicht mal mit dem Zweiten fertig und du lallst schon, nach dem dritten wirst du kaum noch laufen können, und wenn du vier trinkst, fällst du wahrscheinlich ins Koma. Und ich sage nicht mehr als drei! Ich hab schon aufgegeben, normale Sachen von dir zu verlangen, weil das eh nichts bringt, jetzt geht’s quasi nur noch ums Überleben. Das ist ja wie, wenn ich sagen würde: Iss maximal vierzehn Cheeseburger, wenn du das nächste Mal zu McDonald's gehst. Weil beim Fünfzehnten könnte es sein, dass du stirbst. Und dann sagst du: Sei nicht so spießig. Ungefähr so ist das. Ich meine, über Falafel oder so was reden wir ja gar nicht. Falafel stehen hier nicht mal zur Debatte. Hey, hörst du mir zu?“
„Ja, jaaaa …“
Ich warf Phil einen Blick zu.
„Ich mag Falafel“, sagte er. „Die schmecken gut.“
Meine Schwester streckte angeekelt die Zunge raus. „Ich find sie scheiße.“
„Warum?“, fragte Phil.
„Ich mag Fleisch.“
Phil lachte und klopfte mir auf die Schulter. „Die ist halt so wie du!“
Meine Schwester verzog den Mund, als hätte sie nie etwas Abwegigeres gehört. Dann flüsterte ihr Lydia etwas ins Ohr, und meine Schwester flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie kicherten zusammen los.
„Aber“, sagte Phil und er machte einen halben Schritt nach vorn, „man muss sagen, es stimmt schon, was dein Bruder sagt, Eva. Weil auch, wenn Cheeseburger deiner Meinung nach besser schmecken, Falafel sind natürlich viel gesünder. Und manchmal ist es im Leben nun mal so, dass man das tun muss, was gesünder ist, und nicht, was besser schmeckt. Oder was sich besser anfühlt. Oder was cooler kommt. Das ist eine wichtige Lehre auch.“
Meine Schwester runzelte die Stirn. „Phil, wenn du so redest, klingst du schwuler als ein Homopfarrer.“
„Hahahahaha!“ Lydia brach in wieherndes Gelächter aus und meine Schwester gleich hinterher. Sie klammerten sich aneinander und fielen fast um. „Hahahahaha!“
„Na komm“, sagte Phil, „ich meine … ich mein ja nur … also im Grunde wollte ich nur sagen, dass Falafel halt wirklich gesünder sind. Guck mal, das ist wirklich so. Habt ihr die Doku Super Size Me gesehen? Die ist krass, weil …“
„Guck mal, hier geht’s nicht um Falafel!“, unterbrach ich ihn. „Wir dürfen uns jetzt nicht auf Falafel versteifen! Hier geht’s um Zombies! Und vier Zombies sind Gott weiß zu viel! Drei Zombies ist eine absolute Obergrenze, die keine sterbliche Vierzehnjährige jemals überschreiten sollte! Niemals!“
„Schwuler als ein Homopfarrer! Hahahahaha!“
Phil zuckte resigniert mit den Schultern und wandte sich mir zu. „Na dann trinkt sie halt vier, was soll's? Ich wette, das wiederholt sie nicht mehr so schnell, vielleicht muss das jeder mal machen.“
„Ja, vielleicht.“
„Komm, holen wir Bier.“
„Gleich …“ Ich wollte noch eine letzte Mahnung aussprechen, bevor ich ging, noch ein letztes Mal an die Vernunft appellieren, vielleicht noch auf die Mutter und mögliche Konsequenzen zu sprechen kommen, doch dann sah ich etwas aus dem Augenwinkel auf uns zukommen. Drei Jungs bewegten sich durch die Menge, schnell und zielstrebig. Einer von ihnen stieß unterwegs mit einem Betrunkenen zusammen und verzog wütend das Gesicht. Der Betrunkene wollte sich entschuldigen, sah das wütende Gesicht, und hob nur die Hände.
Das gibt Ärger, dachte ich sofort.
Sie stellten sich vor uns, zu dritt nebeneinander, und musterten mich. Mein Puls schnellte in die Höhe. Meine Schwester und ihre Freundin hörten auf zu lachen.
Vlatko war der in der Mitte, da war ich mich sicher. Er war so alt wie ich, hätte aber auch 27 sein können, so wie er aussah. Wir waren etwa gleich groß, aber er war viel breiter, so ein richtiger Brecher, mit massiger Brust, kaum Hals, und einem Gesicht wie eine Skulptur - aber nicht im Sinne von schön, sondern im Sinne von aus Stein gemeißelt, und das ziemlich grob. Er hatte einen extrem ausgeprägten Kiefer, einen Drei-Tage Bart, und Wangen- und Kinn- und Nasen- und Stirnknochen überall. Er trug eine schwarze Lederjacke, eine Goldkette und saubere Jeans. Die anderen beiden standen daneben wie Bodyguards und sahen aus, als wären sie einem Heim entflohen: ärmellose weiße Oberhemden, Fitnessstudio-Arme, goldene Ringe an den Fingern, pechschwarzes, hingeschlotztes Haar.
„Du weißt, warum ich hier bin?“, sagte Vlatko, sein Blick auf mich gerichtet.
„Nein, Mann.“
Vlatko wandte den Blick nicht vor mir ab. Seine Augen waren blau und hatten etwas ungemein Durchdringendes an sich. „Du denkst, du kannst dir einfach alles erlauben, was? Führst dich auf, wie's dir passt, oder? Denkst, du bist der King?“
„Ich weiß wirklich nicht, worauf …“
„Letzte Woche hast du Lisa abgefüllt und mit nach Hause genommen.“
„Guck mal, das mit Lisa war …“ Ich stoppte mitten im Satz. Das Nacht mit Lisa kam mir wieder in den Sinn und das Gespräch mit Sandro und … die Situation rückte in meinem Kopf an ihren Platz, sie rastete quasi ein. Aber stimmte das so? Was hatte ich eigentlich getan? Was wollte Vlatko jetzt von mir? Ich wollte das alles gar nicht wahr haben. Ich sah mich kurz um. Meine Schwester sah besorgt aus. Phil auch.
„Pass auf“, sagte ich. „Erstens: Ich hab sie nicht abgefüllt. Und zweitens: Da ist nichts gelaufen. Nicht wirklich. Und jetzt läuft gar nichts mehr mit ihr. So wie ich das sehe, ist alles cool zwischen uns. Mit Lisa hab ich kein Problem.“
„Aber ich eins mit dir.“
Er ließ seinen Blick weiterhin auf mir ruhen, und ich dachte an die Boxer, die sich kurz vor dem Kampf ein Blickduell liefern. Es kostete mich jede Menge Anstrengung, aber ich hielt seinem Blick stand.
Die Zeit verstrich.
„Und jetzt?“, fragte ich.
„Du hast zwei Möglichkeiten“, sagte er. „Entweder kommst du jetzt mit und wir regeln das wie Männer, eins gegen eins, oder du kriegst den Überraschungseffekt.“
Ich spürte ein Ziehen im Bauch, als drehten sich meine Eingeweide im Kreis. Ein Scheißgefühl. Ich atmete leise durch, ein kleines wooooo-shhhhhhhh, und stellte dann die leidige Frage, die ich einfach stellen musste. „Und was ist der Überraschungseffekt?“
„Das siehst du dann, wenn du auf dem Boden liegst und blutest.“
Es wurde ganz still. Als hätte mir jemand eine Vakuumglocke über den Kopf gestülpt. Kurz glaubte ich, dass die Menge wirklich still geworden war, aber das war nur Einbildung. Ich war gelähmt.
Das siehst du dann, wenn du auf dem Boden liegst und blutest.
Darauf war ich nicht gefasst gewesen, und ich konnte mich nicht bewegen. Langsam versuchte ich, etwas zu erwidern, den Mund aufzukriegen und verdammt nochmal etwas zu antworten, etwas wie: Verpiss dich, du Hurensohn. Aber das traute ich mich nicht. Ich ließ den Mund zu und wusste, dass dieser Satz sofort eine Schlägerei nach sich ziehen würde, die wir bestimmt verlieren würden. Verpiss dich du, Hurensohn war aber leider auch die einzige Erwiderung, die mir einfiel, und vielleicht auch die einzige, die angebracht war. Was denn sonst? Praktisch alles „Versöhnende“ - Können wir nicht darüber reden?, Es tut mir leid … - hätte mich wie eine Totalmuschi aussehen lassen. Ich stand also da und sagte gar nichts, weil ich einerseits Schiss hatte, auf die Fresse zu kriegen, und andererseits Schiss hatte, wie eine Muschi auszusehen. Vlatko und seine Jungs sahen mir das sicher an. Sie spürten, welche Wirkung der Überraschungseffekt auf mich hatte, und das genossen sie. Sie ließen mich in meiner Angst schmoren und schmunzelten sogar ein bisschen, sie schmunzelten wie richtige Sieger.
Schließlich nahm meine Schwester mir die Glocke ab.
„Jetzt lass ich ihn doch“, sagte sie mit kleinen Falten auf der Stirn. „Er hat doch nichts getan, was soll das?“
Vlatko schüttelte leicht den Kopf, wirklich nur ganz leicht. „Das geht dich nichts an, halt dich besser raus.“
„Aber das ist doch …“
Er rückte schlagartig mir dem Oberkörper nach vorn und riss die Augen auf. „Ich hab gesagt, halt dich da raus!“
„Ich bin seine Schwester“, sagte sie.
Er riss die Hände hoch. „Na, und?“
So sagte er das. Genau so: Na, und?
Meine Schwester stand einen Moment lang fassungslos da, dann blickte sie irritiert nach unten - und schwieg. Phil war ganz blass im Gesicht. Lydia stand meterweit hinter uns. Und ich bekam immer noch nicht den Mund auf. Das Einzige, was ich tat: Ich drehte mein Handgelenk. Ich hielt mein Bier so, dass mein Daumen Richtung Flaschenboden zeigte, statt wie üblich Richtung Flaschenhals. Das Bier hing locker an meiner Seite, und ich dachte: Wenn er meine Schwester anfasst, schmettere ich ihm die Flasche mit solcher Wucht über seinen hässlichen Kanakenschädel, dass das Blut spritzt.
Genau das dachte ich in diesem Moment. Im Grunde dachte ich nur noch das.
„Und?“, fragte Vlatko. Er richtete den Blick wieder auf mich, und jetzt änderte sich etwas in seinem Gesicht. Hatte er gesehen, wie sich mein Handgelenk drehte? Sämtliche Coolness bröckelte aus seiner Miene, und was zum Vorschein kam, war mörderisch.
„Kommst du mit oder nicht?!“
„Ich gehe nirgendwo hin“, sagte ich.
„Dann bekommst du den Überraschungseffekt.“
Ich sah ihm in die Augen und hielt meine Flasche ganz fest.
Er nickte. „Gut, dann kannst du nachher was erleben, du Votze. Ich werd dich ficken, bis du schreist.“ Er machte eine Bewegung mit dem Kopf nach hinten „Gehen wir, Jungs.“
Wir zogen uns an die Bar zurück.
„Scheiße“, sagte Phil. Er schlug beide Hände auf den Kopf. „Was war das?“
„So ein Assi“, sagte meine Schwester. „Gott! Ich hab noch nie einen solchen Assi erlebt.“
„Voll schlimm“, sagte Lydia.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Phil.
Ich ließ meinen Blick über die Menge streifen. Vlatko war bereits in dem Glitzerhaufen verschwunden. Ich hatte ihn aus den Augen verloren. Er konnte überall sein.
Meine Schwester rüttelte an meiner Schulter. „Hey! Hörst du mich?“
„Ja.“
„Glaubst du, dass sie das wirklich machen? Das mit dem Überraschungseffekt?“
„Nein“, sagte ich.
„Nein?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“
Alle sahen zu mir auf.
„Der wollte sich nur aufspielen“, sagte ich. „Aber die machen nichts.“
„Bist du dir sicher?“, fragte meine Schwester.
„Klar, bin ich mir sicher. Warum hängst du hier so rum? Geh tanzen oder so.“
„Was?“
„Ja, geh tanzen, hab Spaß, trink nicht so viel. Also wenn irgendwas sein sollte … komm sofort zu mir. Aber da wird nichts sein, geh tanzen.“
Meine Schwester tauschte mit Lydia einen Blick aus.
„Jetzt geh! Ich bin bei der Bar, wenn du mich suchst. Kannst auch anrufen.“
„Gut …“
Nachdem sie gegangen war, rückte Phil an mich ran und senkte die Stimme. „Das hast du nur so gesagt, oder? Vor deiner Schwester. Dir ist schon klar, dass das gerade alles andere als ein Spaß war.“
„Wahrscheinlich hast du recht.“
„Natürlich hab ich recht. Hast du seine Augen gesehen?“
„Ja, hab ich.“
„Das waren gigantische, blaue Löcher, Mann! Das waren Nordpolkrater. Ich glaub, der Typ ist völlig drauf, vielleicht auf Koks oder so … oh Mann!“ Phil fuhr mit einer Hand durch sein verstrubbeltes Haar. „Das war schon metaphorisch gemeint, oder? Das mit dem Ficken, bis du schreist?“
„Geh ich mal stark davon aus …“
„Alter! Was machst du jetzt?“
„Keine Ahnung!“ Ich brüllte ihn an. „Was fragst du so doof? Ich habe keine verfickte Ahnung!“
Die Leute in der Menge wurden still. Sie sahen mich an. Ich lehnte mich über die Theke. „Einen Zombie bitte!“
Der Barkeeper nickte, kam auf mich zu und griff nach der leeren Bierflasche in meiner Hand. „Nein, nein …“ Ich zog die Hand zurück. „Die möchte ich behalten.“
„Wir sollten einfach gehen“, sagte Phil. „Einfach verschwinden. Was bringt das jetzt noch? Fühlst du dich etwa wohl hier?“
Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen, die mit jedem Schluck Zombie dunkler und undurchdringender zu werden schien.
„Also ich fühle mich nicht so wohl“, sagte Phil.
„Ich auch nicht“, sagte ich, „aber wir können nicht gehen, solange meine Schwester noch hier ist.“
„Glaubst du, er könnte deine Schwester angreifen?“
„Nein, nein … das glaube ich nicht. Aber ich bleibe trotzdem hier, bis sie weg ist.“
„Aber warum?
„So halt.“
„Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?“
„Ich werde bleiben, verstanden? Ich komme jedes Jahr hierhin, jedes verfickte Jahr! Und jetzt soll ich wegen irgendeinem Scheißwichser einfach gehen? Bullshit! Ich werde hier stehen und meinen Zombie zu Ende trinken und vielleicht noch ein Bier bestellen und dann werden wir weitersehen!“
Die Zeit zog sich wie Spucke aus dem Mund eines Schlaganfallopfers. Ich holte mein Handy aus der Tasche, und fragte mich, ob ich ein paar Fußballkollegen anrufen sollte, ein paar ganz bestimmte. Ich wählte ihre Nummern, aber sie gingen nicht ran.
Wahrscheinlich waren sie im Club.
„Aber angenommen, er kommt jetzt einfach auf uns zu“, sagte Phil. „Jetzt wirklich nur mal angenommen. Und dann sind sie zu dritt, und wir sind zu zweit … Was machen wir dann? Hast du dir das überlegt?“
Ich hob meine Bierflasche in die Höhe. „Dann zieh ich ihm die hier über den Kopf.“
„Was?“
„Du hast schon richtig gehört.“
Phil sah mich eindringlich an. „Weißt du, was das eigentlich bedeutet, wenn man jemandem eine Flasche über den Kopf zieht. Hast du da schon mal drüber nachgedacht?“
„Was gibt’s da zum Nachdenken?“
„Wir sollten gehen, Marc! Und zwar jetzt. Du bist doch gar nicht mehr richtig da! Du könntest ihn töten, wenn du ihm die Flasche über den Kopf ziehst. Das ist kein Spaß mehr. Komm, wir gehen jetzt nach Hause. Ich ruf ein Taxi …“ Er holte sein Handy aus der Hosentasche.
„Ein Taxi? Ich wohn gleich um die Ecke!“
„Sag mal, bist du behindert oder was?“
„Du kannst gehen, wenn du willst, ich bleibe hier.“
„Oh Mann …“ Phil klappte das Handy zu, schüttelte den Kopf und sah einen Moment lang in die Menge. „Hör mal, Marc, ich verstehe, dass du aufgeregt bist und so, verstehe das wirklich, aber als dein Freund, sage ich dir, dass du jetzt nach Hause gehen musst. Wirklich unbedingt. Und ich rate ganz dringend davon ab, irgendwem eine Flasche über den Kopf zu ziehen, wirklich, ich rate echt davon ab.“
„Soll ich sie dann wegwerfen, wenn er kommt?“
„Du solltest sie ihm auf keinen Fall über den Kopf ziehen …“
„Soll ich dann sagen: Hey Vlatko, du koksverseuchter Freak! Wart mal kurz! Bevor du mich blutig schlägst und fickst, so wie angekündigt, will ich diese Flasche noch wegwerfen, damit ich dich nicht verletze! Okay gut, alles klar … jetzt kann's losgehen! Auf welchem Planeten macht das Sinn?“
„Marc, wir sollten gehen. Wirklich. Wir sollten einfach gehen.“
„Aber ich werde nicht gehen! Das hab ich dir schon gesagt.“
Ich lehnte mich an die Bar, kaute an meinen Fingernägeln und dachte drüber nach, was das eigentlich bedeutete, wenn man jemandem eine Flasche über den Kopf zog. Bisher hatte ich noch nie eine solche Tat in Betracht gezogen. Und doch hätte ich, das wusste ich ganz genau, die Flasche genau so eingesetzt, wenn Vlatko meine Schwester angefasst hätte. Ich hätte mit aller Kraft versucht, seinen Schädel zu zerstören. Der Impuls war spontan gekommen, ich hatte mir vorgestellt, wie ich ihm die Flasche über den Kopf donnere, und diese Vorstellung hatte mir Kraft gegeben. Sie gab mir immer noch Kraft. Meine Bierflasche hatte sich in eine Waffe verwandelt, und wenn er mich jetzt angriff, war alles möglich. Ich war selbst ein wenig erschrocken über diese Erkenntnis, aber so was das nun mal. Da konnten wir doch alle hoffen, dass er mich nicht angriff.
Ich trank den Zombie aus, bestellte noch ein Bier und unterhielt mich mit zwei, drei Leuten aus der Schule, die auf mich zukamen und sich gleich wieder verzogen, als sie merkten, dass ich nicht gerade gute Laune verbreitete. Phil unterhielt sich neben mir und machte ebenfalls keinen entspannten Eindruck.
Nach einer Weile spürte ich, dass ich pissen musste. Das kam mir sehr ungelegen. Ich versuchte meinen Harndrang zu unterdrücken und hörte auf zu trinken, aber ich hatte schon zu viel Flüssigkeit zu mir genommen und das Gefühl wurde immer stärker.
„Was los?“, fragte Phil.
„Ich muss pissen.“
„Verdammt.“
Ich wollte es mir selbst nicht eingestehen, aber ich hatte Angst, von der Bar wegzugehen. Die Bar war beleuchtet, da hatte man etwas Festes im Rücken und ein bisschen Überblick. Sobald ich mich von der Bar entfernte, würde alles dunkel und undurchsichtig werden. Ich blickte über die Menge hinweg nach hinten. Am Ende des Hofs waren ein paar Bäume und Büsche, wo man wunderbar pissen konnte, allerdings war es dort auch völlig dunkel und menschenleer – optimale Bedingungen für den Überraschungseffekt.
„Ich geh rein zum Pissen“, sagte ich.
„Okay“, sagte er, und er bedachte mich mit einem vorsichtigen Blick. „Soll ich dich begleiten?“
„Ich denk, das schaffe ich schon alleine.“
„Hm …“
Ich versuchte zu lächeln, auch wenn mir nicht danach war. „Guck mal, Phil, es ist jetzt auch nicht so, als würdest du mich wirklich beschützen können, oder? Welchen von den beiden Affen würdest du in Schach halten, während Vlatko auf mich einschlägt?“
„Naja, ich könnte …“ Ich sah den Ausdruck auf seinem Gesicht, wie er die Brauen zusammenzog und nachdachte, wie er wirklich nachdachte, und musste lachen. „Alter, du bist der Beste!“
„Komm schon, Mann, ich meine, ich könnte zumindest Hilfe rufen …“
„Ja, vielleicht kannst du mir auch ein Kissen unter den Kopf legen, wenn ich auf dem Boden liege und blute!“
Phil seufzte.
Ich klatschte ihm von oben auf die Schulter, und zwar so, dass es ein bisschen wehtat. „Verdammt noch mal, ich geh jetzt pissen. Wo sind wir denn? Dass wir uns überhaupt solche Fragen stellen!“
Es war der längste Gang zur Toilette meines Lebens. Hinter jedem auch nur ansatzweise ausländisch aussehendem Kerl vermutete ich einen Verbündeten Vlatkos mit einer hammerharten Faust. Da wurde ich glatt zum Rassisten. In dieser Nacht mit Sicherheit. Ich klammerte mich an die Flasche, hielt den Kopf hoch und ging durch die Menge wie ein Soldat in irgendeinem abgefuckten Kriegsgebiet. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich eines Tages so sehr auf eine Bierflasche stützen würde, auch noch auf diese Art und Weise, aber jetzt hätte ich mich völlig nackt ohne sie gefühlt. Ich dachte sogar an die Möglichkeit, die Flasche auf den Boden zu schlagen, damit sie unten abbrach. Dann hätte sie Glaszacken an der Spitze. Ob er sich dann trauen würde, mich anzugreifen?
Die Flasche blieb ganz, so weit bin ich nicht gegangen, aber ich hätte es ziemlich gerne getan. Ich war eigentlich kurz davor.
Es fällt mir nicht leicht, zu beschreiben, wie ich in diesen Minuten drauf war.
Ich schaffte es durch die Menge ins Jugendhaus. Im Erdgeschoss war der Chill-out Bereich. Ein paar Jungs spielten Tischkicker, hinten bei den Sofas machten welche rum, wobei das schwer zu erkennen war, es war alles ziemlich dunkel. Ich stahl mich ins Männerklo und blinzelte in dem grellen Licht. Drei Pissoirs gab es, die zwei Äußeren besetzt. Es gab auch eine Kabine, aber die war … leider zu. Na gut. Ich warf einen Blick über die Schulter, zur Tür, auf den Gang hinaus, und sah niemanden. Die beiden Jungs pissten vor sich hin und beachteten mich nicht. Ich stellte mich zwischen sie, klemmte die Bierflasche unter die Achsel, knöpfte meine Hose auf und nahm meinen Schwanz in die Hand - nur war das irgendwie gar nicht mein Schwanz. Er war extrem klein, vielleicht drei Zentimeter lang. Als hätte ich in Eiswasser gebadet.
Was zum … ?!?
Das Adrenalin hatte offenbar alles Blut woanders hingepumpt, zu den „wichtigen“ Organen. Ich zog ihn ein bisschen in die Länge und warf blitzartig einen Blick über die Schulter, als ich jemand reinkommen hörte – ein junger Skater. Ich atmete auf. Der Skater stellte sich neben den Waschbecken hin und wartete. Ich sah nach links und rechts. Die Jungs, die neben mir pissten, warfen mir eingenartige Blicke von der Seite zu, irgendwie genervt, oder vielleicht deutete ich das nur so, ich weiß es nicht, ich sah noch mal auf meinen Schwanz, warf einen letzten Blick über die Schulter und versuchte zu pissen. Es ging nicht. Ich spürte den Druck auf der Blase und dachte daran, wie sich jemand von hinten mit einem Überraschungspaket näherte, und konnte einfach nicht pissen. Keine Chance. Ich biss auf die Zähne und sah wieder nach links, wo der Junge neben mir die Hose zuknöpfte. Er warf mir – dieses Mal zweifelsohne – einen schrägen Blick zu und ging dann zum Waschbecken. Mir wurde bewusst, was ich für ein erbärmliches Bild ich gerade abgab, wie ich da stand, ohne zu pissen, das Gesicht voller Schweiß, schwer atmend, mit meinem kleinen Schwanz in der Hand. Plötzlich erfasste mich die Wut, sie überrollte mich förmlich, ich spürte die Flasche unter meiner Achsel und wünschte mir, Vlatko käme jetzt rein, jetzt sofort!, wenn er jetzt reinkäme, würde ich ihn …!
In diesem Augenblick ging die Tür zur Kabine auf. Der Junge hinter mir wollte rein, aber ich streckte die linke Hand aus, Schwanz noch immer in der rechten, und schob den Jungen weg.
„Hey!“, sagte er, aber schon schloss ich die Tür hinter mir ab.
Ruhe durchströmte mich sofort. Hier war ich sicher. Ich atmete mehrmals durch, spielte mit meinem Schwanz, bis er größer wurde, und ließ mir dann alle Zeit der Welt beim Pissen.
Nach einer Weile hörte ich draußen eine Stimme. „Marc?“
Es war Phil.
„Ja?“, fragte ich.
„Lebst du noch?“
„Jo …“
„Ich dachte, ich schau kurz vorbei und sehe nach.“
„Passt schon.“ Ich drückte auf die Spülung, hörte das Wasser rauschen, griff nach dem Türschloss und zögerte im letzten Moment. „Ist die Luft rein?“, fragte ich.
„Stubenrein.“
Ich musste lachen. „Niemand steht hinter dir und hält dir ein Messer an den Hals oder so?“
Er lachte auch. „Nein, nein … “
Ich machte die Tür auf und trat hinaus.
Phil schüttelte den Kopf. „Was ist das für eine abgefuckte Situation?“
„Ich weiß auch nicht“, sagte ich. „Ich weiß es auch nicht … aber ich sag dir was: Alles, was heute Nacht geschieht, bleibt unter uns.“
Draußen im Gang traf ich auf meine Schwester und Lydia. Sie standen in der Schlange zur Damentoilette, beide mit ihrem Zombie in der Hand.
„Hey“, sagte meine Schwester. „Wie geht’s?“
Ich warf einen Blick in den Flur. Ich wollte zurück zur Bar.
„Geht so“, sagte ich.
„Ich habe ihn oben kurz gesehen“, sagte meine Schwester. „Vor einer halben Stunde etwa. Er hat sich mit Kumpels unterhalten und ein bisschen getanzt.“
„Er hat getanzt?“ Das Bild wollte mir nicht in den Kopf.
„Ja, ist aber ein bisschen her, hab ihn seitdem nicht mehr gesehen.“
„Wie lange bleibst du eigentlich noch?“, fragte ich.
„Bis um eins.“
„Wie kommst du heim?“
„Ich übernachte bei Lydia.“
„Und Lydia übernachtet bei uns oder was?“
„Nein, nein, ich übernachte wirklich bei Lydia, ihre Eltern holen uns um eins ab. Stimmt's Lydia?“
Lydia nickte ernsthaft.
„Na gut …“ Ich holte mein Handy aus der Tasche und blickte aufs Display. 12:15. Fünfundvierzig Minuten noch. Eine Schulstunde.
„Ihr werdet dann vorne an der Straße abgeholt?“, fragte ich.
„Ja, genau.“
„Okay, dann, treffen wir uns vorne um eins. Wir sind solange bei der Bar.“
„Okay …“ Meine Schwester musterte mich. „Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“
„Ja, ja …“
Irgendwie brachten wir die Zeit hinter uns. Ich trank meinen Zombie aus, Phil sein Bier, wir zählten die Minuten und gingen zur Straße.
Lydias Vater wartete bereits. Er hatte seinen fetten Benz auf dem Gehweg abgestellt und die Warnblinker angemacht.
Meine Schwester und Lydia kamen im Eilschritt heraus, Arm in Arm. Sie winkten uns zu und stolperten kichernd auf den Rücksitz. Der Benz brummte auf und glitt davon.
Ich sah ihm erleichtert nach und blickte die Straße rauf und runter. Sie war weitestgehend leer. Kaum ein Auto. Fast hatte ich es geschafft. Ein Kilometer.
Es sei denn, er weiß, wo du wohnst …
Ein alberner Gedanke. Denn selbst, wenn er wüsste, wo ich wohnte, was zugegebenermaßen nicht gerade ein Geheimnis war, er würde sich doch nicht draußen auf die Straße hinstellen und stundenlang auf mich warten, oder? Es konnte doch auch sein, dass ich auswärts schlief. Oder dass ich heute morgen um sechs nach Hause kam.
Warum sollte er da draußen sein?
Vielleicht nur zufällig? Vielleicht ist heute einfach nicht dein Tag?
„Komm“, sagte Phil, „ich begleite dich nach Hause.“
„Ist voll der Umweg für dich.“
„Weiß ich.“
Wir schwiegen auf dem Weg zu mir. Hatten uns einfach nicht besonders viel zu sagen. Ich hielt meine Flasche in der Hand, und Phil ging neben mir her.
„So …“, sagte Phil, als wir bei mir waren. Ein kleines bürgerliches Reihenhaus mit Sternensingerkreide über der Tür und Blumenkästen vor den Fenstern. Wir blieben auf dem Gehweg stehen und sahen an der weißen Fassade hinauf. Kein Licht brannte.
„So früh bin ich glaub noch nie von der GFS nach Hause“, sagte ich.
„War trotzdem eine lange Nacht.“
„Es war eine richtig lange Nacht… “
„Es war extrem lange Nacht …“
„Alter, ich bin so fertig, ich könnte sterben.“
Ich hob die Hand, er auch, und wir schlugen ein - aber ohne zuzugreifen. Wie ließen unsere Hände auseinander gleiten, zogen sie zurück, zeichneten einen Kreis, machten beide eine Faust, und knallten sie sanft zusammen.
„Ich ruf dich morgen an“, sagte ich.
Er nickte. „Bis morgen.“
Er wandte sich zum Gehen.
„Hey Phil“, sagte ich.
Er blieb stehen und drehte sich. „Ja?“
„Danke.“
„Wofür?“
„Für alles und so.“
Er winkte ab.
„Nein, ernsthaft, ich kann schon ein Arsch sein, aber das weiß ich zu schätzen.“
Er winkte wieder ab. „Bis morgen.“
„Ja, bis morgen.“
Im Haus war es totenstill. Ich streichelte Skittles ein bisschen, ging ins Bad, putzte die Zähne, stellte die Bierflasche auf mein Fensterbrett und legte mich hin …
Am Morgen wurde ich von meiner Mutter geweckt. Sie hatte Tränen in den Augen.
„Mama?“
Sie saß am Bettrand in einem schwarzen Abendkleid.
„Dein … Freund …“, stotterte sie.
„Meinst du Phil?“
„Er ist im Krankenhaus, auf der Intensivstation.“
„Was?“ Ich warf die Decke beiseite. „Was sagst du?“
Ihre Unterlippe zuckte und etwas Komisches passierte mit ihren Augen. Als würde ihr ganzes Gesicht gegen den Drang kämpfen, in sich zusammenfallen.
Dann kam mein Vater ins Zimmer. Ganz langsam. Er war ebenfalls in Schwarz gekleidet und seine Schuhe glänzten. Ich konnte Lack riechen. Lack und Zigaretten und kubanischen Rum. Er stellte sich hinter meine Mutter, legte eine große dunkle Hand auf ihre Schulter und sah mich an.
„Pa“, sagte ich. „Was geht hier vor? Was ist mit Phil?“
Meine Mutter weinte, und mein Vater sah mich einfach nur an. Mit so einem kritischen Blick.
„Jetzt sag schon“, sagte ich. „Raus mit der Sprache. Was ist mit dem?“ Ich wollte aus dem Bett steigen, aber meine Mutter saß ja neben mir. Ich musste also auf die andere Seite raus. Voll der Umweg.
„Jetzt sag schon!“
„Sie haben ihn zusammengeschlagen“, sagte meine Mutter mit bebender Stimme. „Sie haben ihn zusammengeschlagen und in eine Mülltonne geworfen und sie zugeklebt. Und dann haben sie Phil den Eulenbuckel runtergerollt!“
Ich sah hoch zu meinem Vater, der mich musterte. Zwischen seinen Brauen war eine lange vertikale Falte. Das war seine Denkfalte. Seine Kritikfalte. Ich hasste sie.
Ich rollte mich zur Seite, stieg aus dem Bett und ging auf ihn zu.
Er drehte nur leicht den Kopf.
„Was willst du?“, schrie ich ihm ins Gesicht. „Was willst du?“
Er musterte mich mit der Falte, und ich schubste ihn nach hinten.
„Hör auf!“, schrie meine Mutter.
„Was willst du damit sagen, du Penner! Dass ich daran schuld bin? Du abgefuckter Penner! Was willst du?“
Er verzog nicht einmal das Gesicht. Nur die Denkfalte … die wurde ein bisschen prominenter.
Ich holte weit zum Schlag aus, und dann packte er mich plötzlich. Am Hals. Er packte mich am Hals, drückte zu und hielt mich hoch. Ich hörte etwas knacken, rang nach Luft, spürte, wie meine Füße den Teppichboden verließen und sah nach unten. Unter mir rauschte ein Strom aus Kotze durch mein Zimmer. Ein Lawine aus halbverdautem Sushi und Bananen und …
Ich wachte auf, holte tief Luft, und schnappte mein Handy vom Bettstand.
„Ja …?“
„PHIL!“, brüllte ich den Hörer. „Phil, bist du das?“
„Alter, wir haben fünf Uhr … ich schlaf.“
„Hey, ich hab so schlecht geträumt!“
Es war kurz still in der Leitung. „Und?“
„Weiß auch nicht …es war einfach heftig … so ein richtig krasser Traum.“
„Schlaf weiter, du Homo.“
„Okay, okay …“
Ich verbrachte den Sonntag daheim. Ich stand gegen zehn auf, machte mir Toast zum Frühstück, nahm Skittles in den Arm und schaltete den Fernseher an. Click-click-click.
Ich dachte an die GFS und fühlte mich komisch. Aber das war ein gewohntes Gefühl. Samstagnacht fühlte sich immer seltsam an, wenn man sonntagmorgens mit Skittles auf der Couch saß.
Überraschungseffekt, dachte ich immer wieder. Überraschungseffekt. Das hatte er mir doch versprochen, nicht wahr? War Vlatko jemand, der sich an sein Wort hielt?
Wenig später kam meine Muter mit meiner Schwester nach Hause. Sie waren einkaufen gewesen.
„Guck mal“, hörte ich meine Mutter sagen. „Er ist schon wach.“
Meine Schwester setzte sich neben mich auf die Couch und sah Skittles mit großen Augen an.
„Vergiss es“, sagte ich.
Der Sonntag zog sich hin. Meine Mutter machte uns was zum Essen, und wir setzten uns zu dritt an den Tisch und aßen. Bis auf einen Moment, als meine Mutter nach der GFS fragte, und meine Schwester und ich in auffälliges Schweigen verfielen, war es ein Essen wie jedes andere. Meine Mutter quatschte und wir quatschten mit, dann räumte ich das Geschirr weg und fragte mich, ob Vlatko jemand war, der sich an sein Wort hielt.
Gegen Abend ging ich zu meiner Schwester ins Zimmer. Sie saß am Schreibtisch mit einem Stift in der Hand.
„Hey“, sagte sie, ohne aufzusehen.
„Hey.“
Ihr Zimmer war kleiner als meins, aber viel hübscher. Sie hatte Pflanzen drin und eine alte Kerze am Fensterbrett stehen und lauter so Sachen. Ein fetter Buddha hockte in der Ecke, ein Druck von Dali schmolz von der Wand. Daneben ein Poster von den Babyshambles. Daneben ungefähr tausend Postkarten mit klugen/sexy Sprüchen drauf, oder Bildern von Touristenhighlights, die sie von Freundinnen bekommen hatte: Ich vermisse dich, Schatz! Voll geil hier!
Und dann das Bett: ein kunstvolles Arrangement aus bunten Decken, Tüchern und Kissen, alles wunderhübsch angeordnet.
Ich flackte mich drauf.
„Hey!“, brüllte meine Schwester.
„Was?“
„Nicht mit den Jeans! Die wurden seit Jahren nicht mehr gewaschen!“
„Quatsch, nur weil Mama das sagt … du glaubst ihr auch alles.“ Ich lehnte mich zurück und kuschelte mich genussvoll in die Kissen.
Sie sprang auf und rannte zum Bett. „GEH RUNTER!“
„Hey, kannst du nicht normal reden? Mir platzen gleich die Ohren.“
Sie schlug mich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel: FATZ!
„Hey! Bist du dumm?“
„Du beschissener Vollassi! Geh jetzt runter!“
„Du bist so ein Psycho! Echt jetzt, das ist nicht mehr normal. Vielleicht solltest du zum Arzt.“
„Geh jetzt RUNTAAAAAAAAAAAAAA!!!“
„Gut, gut … Gott!“ Ich stand auf. „Ist dein Bett jetzt ein Schrein geworden, oder was? Erklär mir das bitte: Wozu soll all das überhaupt gut sein, wenn man sich nicht mal draufsetzen kann?“
Meine Schwester ging zum Schrank, holte eine Decke, ordnete blitzartig die Kissen um, so richtig mit Routine, wie ein Thai in einem Fast-Food Imbiss, und breitete dann die neue Decke aus.
„Da“, sagte sie. „Kannst dich setzen.“
„Danke …“
Ich legte mich auf die neue Marc-taugliche Decke, und sie setzte sich wieder an den Schreibtisch.
„Was machst du eigentlich?“, fragte ich.
„Hausaufgaben.“
„Schwör?“
„Ich schwör.“
Sie arbeitete wortlos weiter und ich sah mich eine Weile lang in ihrem Zimmer um. Ließ die Zeit ein bisschen verstreichen und so. Den Dali-Druck, auf dem alles dahinschmolz, fand ich gar nicht mal so uncool. Ob mein Zimmer auch ein bisschen Kunst vertragen würde? Wenn schon die Frauen draufstanden?
Es war zumindest mal eine Überlegung wert.
„Kennst du eigentlich diesen Vlatko?“, fragte ich.
Meine Schwester drehte sich um. „Nein, gar nicht.“
„Kennst auch niemand, der ihn kennt?“
„Ich hab gesehen, mit wem er sich bei der Tanzfläche unterhalten hat, und ich kannte sie nicht. Meinst du, das ist sein Ernst mit dem Überraschungseffekt?
„Nein, nein … wobei, naja … keine Ahnung.“
„Mir kam es schon so vor, als wäre es sein Ernst, aber wenn er dich wirklich schlagen wollte, hätte er es doch gleich machen können. Warum hat er es nicht gemacht? Du warst doch noch eine Weile da.“
„Vielleicht, weil er Angst hatte, dass ich zurückschlage?“
„Kann sein …“, sagte meine Schwester. „Hättest du zurückgeschlagen?“
„Ganz bestimmt hätte ich das.“
Sie nickte, sah mich einen Moment lang an, und lachte dann plötzlich auf. „Ich glaube, Lydia will was von dir.“
„Echt?“
„Ja, sie findet dich süß.“
„Hm …“
„Magst du sie nicht?“
„Weiß nicht … sie ist ein bisschen jung.“
„Sie hatte schon mal was mit einem, der zwanzig war. Und der sah richtig gut aus.“
„Aber vielleicht war er ein Arsch oder so?“
Meine Schwester zuckte mit den Achseln. „Ich hab mal mit ihm gesprochen und er war voll nett.“
„Er war nett?“ Ich setzte mich auf. „Was ist das für einer?“
„Er macht Zivi im Altenheim. Er hat Lydia mit seinem Auto abgeholt und sie sind Eis essen gegangen. Und dann haben sie hinten im Auto Sex gehabt. Aber das darfst du auf gar keinen Fall weitererzählen! Wirklich! Auf keinen Fall!“
„Gott …“ Ich schüttelte den Kopf, ließ mich nach hinten fallen und starrte vor mich hin. „Fickst du eigentlich auch mit so Spasten auf Autorücksitzen?“
„Oh Gott! Nein, nein … wir fahren dann gleich zu ihm in die Wohnung.“
Ich legte die Hand aufs Gesicht und stöhnte wie einer mit Zahnschmerzen.
„War doch nur ein Spaß … hihi.“
Ich gab keine Antwort.
„Was ist mit dir?“
„Irgendwie geht mir grad die ganze Welt auf den Sack.“
„Na, dann habe ich aber gute Nachrichten für dich!“ Ich hörte sie lachen und sah wieder auf.
„Was denn?“, fragte ich.
„Rate mal.“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Rate.“
„Mama hat meine Bong gefunden.“
„Ich hab dir doch erzählt, dass Mutter sich mit diesem Typen trifft.“
„Sag bloß, der kommt zum Essen vorbei!“
„Genau!“
„Neiiiiiiiiiiiiiiiin!“
„Doch! Und der Typ sieht echt vooooll komisch aus! Echt voll! So einer mit Glatze und Turnschuhen und … voll komisch einfach.“
„Gott, was hat sie für einen schlechten Geschmack? Erinnerst du dich an den letzten? Diesen Fisch?“
„Sie will ihn nächste Woche vorbeibringen, und sie will, dass wir auch dabei sind. Du kommst, ja?“
„Ich denke schon.“
„Du musst kommen! So was ertrage ich ohne dich nicht, du musst dabei sein.“
„Ja, mach dir keine Sorgen.“
„Nicht, dass du wieder Fußball spielen musst oder so …“
„Hey, du kennst mich doch. Wenn Mama versucht, uns wieder so ein Gesicht ins Haus zu bringen … das verpasse ich um alles in der Welt nicht.“
„Gut.“
Was hab ich noch den Rest des Abends gemacht? Playstation gezockt? Hausaufgaben etwa? Ich weiß es nicht mehr genau. Als ich das Licht ausmachte und ins Bett ging, sagte ich mir, dass Vlatko bereits der Vergangenheit angehörte. Dass er es nie wagen würde, mir den „Überraschungseffekt“ zu zeigen. Dass so was einfach cool klang, wenn man was getrunken hatte und die Kumpels danebenstanden. Dass er gerne Scheiße redete, so wie ich auch auf Parties auch manchmal Scheiße redete. Und wenn man im eigenen Bett unter einer warmen Decke lag, war das auch leicht zu glauben. Ein Teil von mir glaubte das wirklich. Ich hätte einen Fuffi drauf gewettet, dass ich Vlatko so schnell nicht wieder sehen würde. Ganz bestimmt hätte ich das getan.
Aber natürlich hatte ich Schiss, dass ich ihn bald wiedersehen würde. Beziehungsweise dass ich ihn nicht rechtzeitig sehen würde. Ich lag im eigenen Bett unter einer warmen Decke und hatte Angst - und das machte mich wütend. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie er Na und? zu meiner Schwester sagte. Und zu mir: Das siehst du dann, wenn du auf dem Boden liegst und blutest.
Ich stellte mir vor, wie ich die Flasche mit einer sauberen Bewegung über seinen Kopf zog - und stellte fest, dass das ein schöner Gedanke war. Ich mochte diese Vorstellung. Ich mochte sie sehr. Ich stellte mir das immer und immer wieder vor in dieser Nacht. Wie Vlatko unbehelligt ins Klo stolperte, und dann: Bäm! Oder wie er vor meinem Haus aus den Büschen sprang und Phil vor Scheck in Ohnmacht fiel, und dann: Bäm!
Oder wie er meine Schwester schubste oder wie er sie ohrfeigte, und wie ich dann reinrauschte und ihn zerstörte.
Mit der Zeit fragte ich mich, ob ein perverser Teil von mir sich nicht wünschte, dass er sie angegriffen hätte.
Ich lag lange wach in dieser Nacht. Ich lag lange wach und grübelte wie vielleicht nie zuvor.
Diese Gedanken bringen dir ganz nichts, dachte ich irgendwann. Vlatko besiegt dich doch mit diesen Gedanken. Er besiegt dich mit deiner Angst und mit deinem Hass. Denk nicht an Vlatko. Scheiß auf Vlatko.
Aber das war viel leichter gesagt als getan. Denn ein Teil von mir wollte, dass es noch nicht vorbei war. In mir lebte etwas, das sich nach einem Wiedersehen sehnte, etwas, das nach Rache und Action durstete, allen möglichen Konsequenzen zum Trotz.
Aber wollte ich ihn wirklich wiedersehen? Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich mich wirklich für ein Wiedersehen entscheiden? Oder wollte ich nur in Gedanken Vergeltung üben? An welcher Stelle drang hier die Phantasie in die Realität ein? Wo waren die Berührungspunkte? Was war echt?
Ich wusste es nicht, aber vielleicht war es auch zu früh, um so was zu wissen. Vielleicht kann man so was auch gar nicht wissen. Vielleicht ist es einfach so, dass sich manche Dinge unfertig anfühlen. Vielleicht ist das alles, was man wissen kann. Ja, dachte ich, als ich in den Schlaf glitt: Vielleicht. Vielleicht ist alles vorbei, aber mit Vlatko bist du nicht fertig.