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Wie ich das 100%ige Mädchen verlor
Ich lieb dich heute nur bis morgen
(und dann wieder von vorn)
Matteo Capreoli
Anna war anders. Das möchte ich hiermit festhalten. Das muss gesagt sein. Anna war der Wahnsinn. Anna war Anna.
Als ich sie kennenlernte, befand ich mich in einer schwierigen Phase. Jedenfalls sehe ich das heute so. Relativierend muss man wohl sagen, dass es gut sein kann, dass ich die jetzige Zeit auch irgendwann mal als schwierige Phase bezeichnen werde. Das haben alle Zeiten, in denen es keine Anna gibt, irgendwie an sich. Sie sind ein bisschen schwierig.
In der Mittagspause bin ich manchmal mit Max zu McDonald's gelaufen. Wir saßen dort und aßen Burger, und dann kam Anna rüber und setzte sich zu uns an den Tisch. Max und sie kannten sich von der Grundschule, wohnten im selben Dorf und hatten sich länger nicht gesehen. Ich hatte Anna überhaupt noch nie gesehen.
Sie sagte mir Hallo, dann fing sie an, mit Max zu reden. Über die Schule und einen Haufen Leute, von denen ich noch nie was gehört hatte. Sie hatte eine helle Stimme und ihre Hände bewegten sich viel. Ich weiß noch, wie ich mir gedacht hab, großer Gott, das muss doch ein besonderer Mensch sein, so gefesselt, wie ich ihr zuhöre. Zwischendurch sah sie immer wieder zu mir rüber. Ich nickte und machte mm-mm.
Max hatte sich auch in Anna verknallt, das sah ich sofort. Er stellte viele Fragen und verfiel bald selbst ins Erzählen. Und wie ich so zuhörte, wollte ich dann auch mit Anna reden. Aber es fiel mir schwer. Ich meine, klar, wir saßen am selben Tisch, und sprechen konnte ich schon, aber jetzt hatte ich mich schon als stiller Typ etabliert, da ging das Gespräch einfach an mir vorbei.
Trotzdem: Ewig Max zuhören, wie der jetzt anfing, von seinem Leben zu erzählen, das war auch keine Lösung.
Und so sagte ich zu Anna, als sie wieder rübersah: „Ich finde du hast ganz krasse Augen.“
Was auch stimmte. Anna hatte die krassesten Augen. Sie leuchteten blau-grün-gelb, da waren ganz viele Farben drin, wie in einem Aquarium, und wenn sie direkt neben dir saß und dir in die Augen sah … also das war schon der Hammer.
Anna lachte, wahrscheinlich weil das so plötzlich kam. Und der Max, der hat vielleicht geguckt. Ich bin mir sicher, der wollte irgendeinen Spruch klopfen von wegen schlechter Anmache, aber Anna lachte, und es klang so gut dieses Lachen, das ging dann nicht.
Schließlich sah sie mich an und sagte: „Danke.“
Und das war einfach die 100% richtige Antwort.
Ich sagte: „Bitte.“
Wir lachten wieder, weil das schon irgendwie eine komische Situation war, und auch der Max, wie der immer noch geguckt hat, das Gesicht verzogen und die Stirn gekraust, als würde er auf dem Klo hocken. O Mann …
Langsam verklang unser Lachen, und dann wusste keiner mehr, was sagen, und wir widmeten uns wieder den Burgern. Und diese Stille jetzt, die hielt vielleicht an. Echt ewig. Wie ich mich in meinem Bic Mac festbiss …
„Hast du heute Abend Lust mit mir ins Kino zu gehen?“, fragte ich schließlich.
Max verschluckte sich beim Colaschlürfen und begann zu husten.
Anna lächelte wieder. „Okay …“ Es klang etwas ironisch.
„Um acht vor dem Tiroler?“, fragte ich.
„Weißt du, welcher Film läuft?“
„Nein.“
Anna sah mich an, ziemlich eindringlich, und da bekam ich es kurz mit der Angst zu tun, weil ich dachte, du Idiot, warum weißt du nicht, welcher Film im Tiroler läuft, vielleicht geht sie jetzt nicht mit, so was muss man doch wissen, im Tiroler kommt doch nur ein Film.
Doch schon war sie aufgestanden, hatte ihr Tablett in die Hand genommen und sich lächelnd verabschiedet.
„Bis dann“, sagte sie im Gehen.
„Bis dann“, sagte ich.
Und dann war sie weg.
Max und ich schwiegen uns eine Weile an.
„Alter“, sagte er, „das war jetzt schon ein Witz, oder?“
„Nein, das war, na ja ... meinst du?“
Was da nicht alles in mir vorging zwischen McDonald's und Kino …
War das ein ironisches Okay oder ein echtes Okay? Wann genau war dann? Sollte ich auf Max' Meinung etwas geben? Konnte ich meinem Gefühl trauen? Wie sah sie eigentlich nochmal aus? Warum weiß niemand, was im Tiroler läuft!
Das sind alles so Sachen, die gibt es heute bei mir nicht mehr. Dass man sich den ganzen Tag allein mit der Frage beschäftigt, ob das Mädchen erscheinen wird, und dass es dann nichts mehr auf der Welt gibt außer dieser Frage.
Und nein, um Gottes Willen, das hat nichts mit Handys zu tun.
Wie Anna vor dem Kino steht. Wie sie den Kopf hin und her dreht und auf die Uhr blickt und eine braune Haarsträhne um den Finger wickelt. Wie sie die Lippen aneinanderreibt. Sie trägt Khakhis und ein weißes Oberteil mit Bob Dylan Aufdruck: Judenafro + Sonnenbrille, und sie steht da wie auf einer Insel. Sie kann sich nicht bewegen. Sie hat Angst, dass man sie auf der Insel sitzen lässt. Die Männer gehen vorbei und fragen sich, wer der Glückliche ist, der sie da runterholen darf.
Ich liebe dieses Bild. Noch heute, wenn immer ich Frauen sehe, die auf Inseln sitzen, vor Cafés, an der Bar, unter Straßenlaternen, muss ich an Anna denken.
„Hallo!“, sagte sie. Wir lächelten uns an, und dann gab es erst mal Küsschen links und rechts.
„Wie geht's?“, fragte ich.
„Gut.“
„Gehen wir rein?“
„Es kommt Jurassic Park“, sagte sie. „Teil zwei.“
„Cool.“
Anna blies die Backen auf und hob die Brauen an.
„Jurassic Park gefällt dir nicht?“
„Es sind mir zu viele Dinosaurier.“
„Hmm …“
„Vielleicht könnten wir spazieren gehen?“
„Okay.“
Wir gingen die Einkaufsstraße hinauf. Es war Mitte April und die Sonne schien.
„Hast du eine Freundin?“, fragte Anna.
„Nein ... hast du einen Freund?“
„Nein.“
„Was ist mit Max?“
„Max ist ein Kumpel, wir kennen uns von früher.“
„Ich kenne ihn von der Schule.“
„Er ist voll nett.“
„Ja, er ist nett.“
Als wir oben ankamen, stellten wir fest, dass wir dort nicht sein wollten. Eine große Kreuzung, Tankstellen …
„Wir könnten uns auf die Stadtmauer setzen“, schlug ich vor.
„Okay.“
Wir drehten um und gingen zurück.
„Ich will irgendwas mit Tieren machen“, sagte Anna.
„Mit Tieren?“
„Ja, mit Tieren.“
„Was für Tiere?“
„Bunte Tiere!“
„So Papageie und Fische?“
„Und Elefanten und Löwen und Tiger ...“
„Elefanten sind nicht bunt.“
„Aber sie haben lange Rüssel.“
„Aber sie sind nicht bunt.“
„Aber sie können sich alles merken.“
„Meinst du? Das ist bestimmt nur ein Gerücht.“
„Nein, das ist kein Gerücht, Elefanten vergessen nie, wo ihre Wasserlöcher sind.“
„Aber wie viele Wasserlöcher gibt es denn so?“
„Afrika ist doch voll groß.“
„Aber sie sind doch nicht in ganz Afrika unterwegs.”
„Klar, in der Trockenzeit, dann wandern sie.“
„Über ganz Afrika?“
„Klar.“
„Obwohl sie voll fett sind?“
„Du bist ja voll der Tierhasser!“
„Nein, gar nicht eigentlich.“
„Was ist denn dein Lieblingstier?“
„Keine Ahnung …“
„Siehst du, du hast nicht mal ein Lieblingstier. Nur Tierhasser haben kein Lieblingstier.“
„Klar hab ich ein Lieblingstier … das verrate ich dir nur nicht.“
„Warum nicht?“
„Ich will, dass du von selbst draufkommst.“
„Haifisch?“
„Nein.“
„Seekuh?“
„Nein.“
„Ameisenbär.“
„Nein.“
„Hey, das ist voll doof.“
„Du warst schon ziemlich nah dran.“
„Echt?“
„Ja voll.“
„Mit der Seekuh oder dem Haifisch?“
„Mit dem Ameisenbär.“
„Koala?“
„Nein.“
„Eisbär?“
„Nein.“
„Ameise?“
„Nein.“
„Grizzly?“
„Nein.“
„Du verarscht mich doch!“
„Du bist echt voll nah dran!“
„Quatsch!“
Die Stadtmauer war an einer Stelle besonders hoch. Wir setzten uns drauf, ließen die Füße baumeln und blickten auf die Stadt. Die Sonne sah aus wie eine Orangenscheibe. Anna roch nach Jasmin. Sie lehnte sich nach hinten. „Meine Eltern holen mich schon um elf ab, die sind voll stressig.“
„Hmm …“, machte ich.
Sie setzte sich wieder auf. „Wann musst du daheim sein?“
„Ist egal.“
„Echt?“
„Ja.“
„Krass, ich wünsche meine Eltern wären so.“
„Das ist glaub so ne Plus-und-Minus-Sache.“
Anna blickte auf die Stadt. „Hmm …“
„Okay, wenn wir uns jetzt küssen, dann aber mit geschlossenen Augen, okay?“
Wir standen jetzt. Wir hatten eine Grünfläche mit einem großen Baum gefunden. Unter dem Baum konnte man gut stehen.
„Weil du beim Küssen voll komisch ausschaust, oder wie?”, fragte ich.
„Nein, nicht weil ich dann voll komisch aussehe. Wenn man richtig küssen will, mit viel Gefühl, dann müssen die Augen zu sein, das ist einfach so.“
„Mit oder ohne Zunge?“, fragte ich.
„Ich dachte ohne.“
„Ich dachte mit.“
„Ich kann nicht mit.“
„Ich kann nicht ohne.“
„Jeder kann ohne!“
„Und du kannst auch mit, jetzt stell dich nicht so an.“
„Na gut …“, sagte Anna, „aber Augen zu, okay? Das ist ganz arg wichtig. Beim ersten Kuss spürt man sofort, ob man zueinander passt oder nicht, der erste Kuss ist immer für die Ewigkeit.“
„Ich glaube, das dramatisierst du jetzt ein bisschen.“
„Augen zu!“
„Okay …“ Ich machte mich zum Küssen bereit. Über uns rauschten die Blätter im Wind. Ich beugte mich zu ihr runter.
„Hey, du hast die Augen offen!“, sagte Anna.
„Du doch auch.“
„Nur um zu schauen, ob du deine Augen offen hast!”
„Was ist das für eine Logik?“
„Na, ich wusste halt, dass du die sie nicht zumachen würdest …” Sie verzog das Gesicht. „Jetzt hast du unseren ersten Kuss kaputtgemacht.“
„Das gilt doch nicht.“
„Doch, unsere Lippen haben sich berührt.“
„Nur ein bisschen.“
„Trotzdem …“
„Ist jetzt nicht so schlimm, dann ist bei uns halt der zweite Kuss für die Ewigkeit.“
„Aber woher kann ich wissen, ob deine Augen zu sind?“
„Du musst mir halt vertrauen.“
Sie musterte mich. „Nee, ich hab eine bessere Idee. Ich halte deine Augen zu, und du hältst meine Augen zu. Und dann küssen wir uns.“
„Gab's das nicht in irgendeinem Film?“
„Kann sein.“
Ich legte die Hand auf ihre Augen. Ihre Hand ging nach oben, suchte meine.
„Okay?“, fragte ich.
„Okay.“
Dieses Mal funktionierte es.
Wir zogen uns zurück, sahen uns an und lachten. Sie versuchte etwas zu sagen – dann lachte sie wieder. Bei mir dasselbe. Der Kuss hatte unsere ganze Zukunft auf die Probe gestellt, das war nicht so einfach mit dem Reden danach.
„Anna“, sagte ich schließlich.
„Ja?“
„Ich glaube, du bist das 100%ige Mädchen.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich.“
Und dann hat sie gesagt: „Tom, ich glaube du bist der 100%ige Junge.“
Das überraschte mich, dass sie das sagte. Und sie glaube ich auch. Sie sah nach unten, auf ihre Uhr. „O Gott, ich muss jetzt los.“
Sie machte ihre Handtasche auf, schrieb schnell ihre Telefonnummer auf und legte den Zettel in meine Hand.
„Ich ruf dann an“, sagte ich.
„Ja“, sagte sie. „Okay …“ Sie warf mir noch einen letzten Blick zu, dann wandte sie sich zum Gehen. Das ging ganz schnell. Erst als sie mir schon den Rücken zugekehrt hatte, wurde mir bewusst, dass sie jetzt weg war und ich das gar nicht so cool fand. Ich machte zwei schnelle Schritte und packte sie am Arm. Wir sahen uns kurz an, dann zog ich sie zu mir her und küsste sie wieder.
Ich weiß gar nicht, ob es das wirklich gibt: der eine Kuss, bei der man spürt, das alles richtig ist. Der Kuss für die Ewigkeit.
Aber wenn, dann war es bei uns auf jeden Fall der Dritte.
In der Kabine redeten die Jungs über Anna. Ich saß in der Ecke und zog mir meine Schienbeinschoner über.
„Habt ihr gehört, Tom ist mit Anna zusammen.“
„Echt?“
„Wer ist Anna?“
„Das ist die eine von der Waldorfschule, oder?“
„Ja, die Ökobraut.“
„Sind doch alles Ökobräute auf der Waldorfschule …“
„Was ist eine Waldorfschule?“
„Wie sieht sie denn aus?“
„Sie hat so lange braune Haare.“
„Ist sie hübsch?“
„Schon hübsch.“
„Hat sie Titten?“
„Nicht so.“
„Über wen redet ihr?“
„Toms Freundin, Anna.“
„Anna?“
„Die Ökobraut.“
„Hat er sie schon gefickt?“
„Ich weiß nicht.“
„Hey Tom, hast du die Ökobraut schon gefickt?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Er ist erst seit Dienstag mit ihr zusammen.“
„Ach so … langsam angehen, oder was?“
„Kann mir vielleicht einer mal sagen, was eine Waldorfschule ist?“
„Das ist eine Sonderschule.“
„Das ist keine Sonderschule, Zidane, das ist eine Ökoschule!“
„Was macht man auf einer Ökoschule?“
„Bäume pflanzen und so.“
„Laber nicht.“
„Doch, ich schwör, dort pflanzt man Bäume, stimmt's Tom?“
„Ich glaub nicht, dass Baumpflanzen eine eigene Fachrichtung ist.“
„Siehst du, Zidane, du laberst Scheiße.“
„Aber man pflanzt schon auch manchmal Bäume dort an, oder Tom?“
„Weiß nicht, kann sein.“
„Da hast du's, Jorgo, du hast keine Ahnung.“
„Alter, ich fick dich gleich.“
„Dann fick ich deine Mutter.“
„Ich fick dein Vater.“
„Ich fick deine ganze Familie!“
„Ich fick dein ganzer Stammbaum!“
„Ist gut, Jungs“, sagte unser Trainer. Er nahm einen Stift in die Hand, machte die Kappe ab und klopfte mit der Faust gegen die Tafel. „Jetzt konzentrieren wir uns aufs Spiel.“
Es war perfektes Kickwetter, Sonnenschein und zwanzig Grad. Sportlich ging's um nichts, wir befanden uns beide in der Tabellenmitte, aber der Gegner hatte einen echt guten Spieler, den kannten wir noch vom Hinspiel, ein bulliger Türke, der ziemlich schnell war, auf der Zehn spielte und uns ziemlich auf den Sack ging. Er war halt ein richtiger Kanake. Bei uns in der Mannschaft waren zwar auch alle Kanaken irgendwo, aber dieser Typ, na ja … das war halt unser Sportplatz und der regte uns auf.
Als er sich in der zwanzigsten Minute noch ein grobes Foul gegen Zidane erlaubte (unseren Zehner), war uns allen klar: Jetzt muss er leiden. Jorgo (griechischer Innenverteidiger) rammte ihn gleich einen Ellbogen in die Rippen, was in ein nettes Wortgefecht und eine kurze Spielunterbrechung mündete. Und dann rauschte ich ihm bei seinem nächsten Solo von hinten voll in die Beine. Der Zehner stand gleich auf – was man ihm schon auch zugutehalten muss –, nannte mich einen Hurensohn und versprach, mir nach dem Spiel die Fresse zu polieren.
Der Schiri zerrte uns auseinander und zeigte mir Gelb. „Noch mal so was, und du kannst für fünf Minuten auf die Tribüne!“
Die Fünf-Minuten-Penalty war eine pädagogische Maßnahme, die es in den Jugendmannschaften zwischen Rot und Gelb noch gab.
Ich schaute raus zum Spielfeldrand und sah Anna dort stehen. Das freute mich! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie zum Spiel kommt. Ich lächelte und winkte ihr zu.
Sie winkte zurück.
Keine zwei Minuten später machte unser Torwart einen weiten Abschlag. Der Ball kam am Mittelkreis auf und sprang weit nach oben, nicht weit von mir entfernt. Ich spielte im defensiven Mittelfeld, und wie der Ball so in der Luft schwebte, sah ich, dass der Zehner zum Sprint ansetzte, Nasenflügel gebläht, Augen auf den Ball fixiert.
Das ging mir jetzt wirklich gegen den Strich. Ich war vielleicht nicht der Filigranste, aber bei den B-Junioren der Leistungsstafel 2 - Kreis Neckar/Fils - hatte ich eigentlich schon Lufthoheit.
Wie wollte der Zehner eigentlich an diesen Ball kommen? Sah er mich etwa nicht? Echt, das frage ich mich heute noch.
Ich hab dieses Kopfballduell natürlich gewonnen.
Und zur Belohnung dürfte ich für fünf Minuten zu Anna raus.
„Hey“, sagte ich.
„Hey.“
Ich gab ihr einen Kuss auf den Mund, dann lehnte ich mich über das Geländer und holte tief Luft.
„Tom?“
„Ja?“
„Du bist ziemlich aggressiv.“
„Findest du?“
„Ja, ich hab dich jetzt ganz genau beobachtet, und ich glaube, du bist ein gefährlicher Mann.“
„Hat dich deine Mutter vor solchen Männern gewarnt, ja?“
„Ja, das hat sie. Guck mal, der Zehner bekommt jetzt keine Luft mehr.“
Er war schon wieder aufgestanden. Zwei Leute hielten ihn und seine Arme hoch.
„Er will nur Zeit schinden“, sagte ich.
„Ich dachte, ihr führt.“
Ich legte den Arm um ihre Taille. „Was machst du heute Abend?“
„Ich muss schauen …“
„Ich will dich sehen.“
„Ich weiß nicht, ob ich kann …“
Sie drehte sich weg, ich zog sie näher her.
„Tom, hier sind Leute.“ Sie lachte. „Tom, du schwitzt doch!“
Ich küsste ihren Hals.
„Nein, Tom! Hör auf!“
Wenn ich mich jetzt selbst beschreiben müsste – was ja immer schwer ist –, dann würde ich sagen, dass ich ohne Anna nie uncool war, aber auch nie richtig cool.
Doch mit Anna?
„Hallo Tom!“
„Hallo Lisa.“
„Wie geht's dir?“
„Ganz gut.“
„Ja?“
„Ja, ganz gut.“
„Gehst du am Wochenende auch auf die Beach Party?“
„Ja.“
„Cool, ich gehe auch dorthin.“
„Cool.“
„Bis dann, Tom!“
„Bis dann Lisa.“
„Hallo Tom!“
„Hallo Tascha, hey Klara, hey Micha, hallo …“
„Das ist Anja.“
„Hallo, ich heiße Anja.“ Anja reicht mir die Hand und strahlt.
„Freut mich Anja, ich bin Tom.“
„Du spielst doch Fußball in Dettingen, oder?“
„Ja.“
„Ich wohne auch in Dettingen.“
„Cool, wusste ich nicht.“
„Du kennst bestimmt Serkan.“
„Ja, den kenn ich.“
„Er ist schon komisch, oder?“
„Ja … ein bisschen komisch ist er schon.“
„Hahahahaha! Ich find den so schräg! Haha! Gehst du auch auf die Beach Party?“
„Klar.“
„Bis dann, Tom!“
„Bis dann.“
Und natürlich Ira …
Ich kam aus dem Klo, und sie stand da.
„O Tom! Kannst du mir helfen? Ich bekomm diese Kette nicht zu.“
„Okay.“
Sie legte beide Hände an die Wand, machte ein Hohlkreuz und schob die blonden Strähnen von ihrem Hals.
„Was ist?“, fragte sie.
„Nichts …“
Ihr Hintern wuchs aus den Schenkeln wie zwei pralle Früchte, ihre Titten sprangen vom Oberkörper wie zwei pralle Früchte, ihre Lippen glänzten im Gesicht wie zwei pralle Früchte. Und dann die Taille: schmal und geheimnisvoll. Wählerisch und zickig. Jung und leistungsfähig. Siehst du, wie schmal meine Taille ist, Tom? Siehst du das? Mach doch, dass sie blüht. Ich will blühen.
Ira war das geborene Luder.
Ich machte ihr schnell die Kette zu.
„Danke!“ Sie legte sie zwischen ihre dicken Titten.
„Gefällt dir die Kette, Tom?“
„Ja.“
Sie lächelte. „Mir auch, es war ein Geschenk.“
„Schön.“
„Wir sehen uns auf der Beach Party?“
„Ich denke schon.“
„Bis dann.“
Vor der Beach Party – wir waren jetzt seit sechs Wochen ein Paar –, telefonierte ich mit Anna.
„Hallo Schatz!“, sagte sie.
„Hey!“
„…“
„Was denn?“
„Na, ich sage hallo Schatz und du sagst hey, findest du das nicht komisch?“
„Nicht unbedingt.“
„Du könntest auch Schatz zu mir sagen, weißt du?“
„Ich find das schwul.“
„Was?“
„Ich find das schwul.“
„Warum findest du das schwul?“
„Keine Ahnung, ich find's halt schwul. Schatzi, Schatzi, Schatzi … das ist doch irgendwie schwul.“
„Bist du jetzt bescheuert?“
„Warum kann ich dich nicht einfach Anna nennen? Hat doch bisher gut funktioniert.“
„Weil mich alle Anna nennen.“
„Ja gut … aber jeder Horst nennt seine Freundin Schatz, wohingegen nur wenige sie Anna nennen. Ich dachte, wir sind etwas Besonderes.“
„O Tom …“
„Wir müssen etwas anderes finden. Schatz geht nicht. Wie wär's mit Mausi?“
„Das ist furchtbar!“
„Und Süße?“
„Ich weiß nicht …“
„Hallo Süße?“
„Gefällt mir nicht so.“
„Hallo meine Liebste?“
„Da fühle ich mich wie eine Oma.“
„Wie wär's mit Baby? Ich glaube, mit Baby könnte ich mich anfreunden.“
„Vergiss es.“
„Haasilein, Prinzessin, Bärchen?“
„Warum sagst du nicht einfach Schatz zu mir? Schatz ist am besten.“
„Schatz ist nur das geringste Übel.“
„Du bist so ein Dickschädel!“
„Schau mal in den Spiegel, Baby.“
Sie zischte.
„Also gut“, sagte ich. „Ich glaub, ich hab's … bist du noch dran?“
„Ja …“
„Hallo 100%ige! Was meinst du?“
„Ich weiß es nicht …“
„Ich find's voll gut.“
„Ja … 100%ige ist schon schön … aber ein bisschen mathematisch, findest du nicht?“
„Aber du bist nun mal die 100%ige, da kann man jetzt nichts mehr machen.“
„Meinst du?“
„Ja, klar.“
„Na gut, wir können das ja mal austesten … so probeweise.“
„Okay.“
„Treffen wir uns dann dort?“
„Ich denke schon.“
„Okay.“
„Gut.“
„Was ziehst du an?“, fragte sie.
„Ich? Keine Ahnung, T-Shirt, kurze Hose … warum?“
„Na, das ist eine Beach Party …“
„Ja, das weiß ich. Warum? Was ziehst du an?“
„Einen Bikini.“
Einen Bikini?
„Hallo?“
„Ist das jetzt dein Ernst?“, fragte ich.
„Warum?“
„Du kannst doch nicht nachts im Jugendhaus in einem Bikini rumlaufen.“
„Sie haben fünf Tonnen Sand angeschafft. Und Hitzelampen. Draußen ist ein Planschbecken.“
„Aber wir drehen doch kein Hip-Hop-Video. Was geht? Ist das jetzt wirklich dein Ernst?“
„Natürlich.“
„Und du kannst dir nicht mal eine Jamaika-Flagge um die Hüfte binden oder so?“
„Ja, klar … vielleicht noch ein Kopftuch?“
„Fände ich besser, ja.“
„Ich glaube du verbringst zu viel Zeit mit deinen Fußballfreunden.“
„Ja, das kann sein.“
„Sagen die denn etwas, wenn ich einen Bikini trage?“
„Nein, sie starren dir nur die ganze Nacht auf den Arsch.“
„Tom, es werden doch so viele Mädels im Bikini da sein …“
„Wer denn?“
„Meine Freundinnen zum Beispiel.“
„Wer denn?“
„Claudi, Lena, Matilda …“
„Matilda kommt im Bikini?“
„Ja.“
„Großer Gott!“
„Tom, das finde ich jetzt nicht okay. Matilda hat vielleicht ein paar Kilo extra, aber sie ist trotzdem eine sehr attraktive Frau.“
„Anna, halt sie auf! Ohne Scheiß, das ist jetzt mein Ernst, das kannst du nicht zulassen.“
„Tom, ich leg jetzt auf.“
„Lass das nicht zu! Anna! Hörst du mich? Du musst sie aufhalten!“
Sie legte auf.
Sie waren wirklich alle im Bikini erschienen. Rote Bikinis, blaue Bikinis, grüne Bikinis, weiße Bikinis …
„Wahnsinn …“
„Alter …“
„Zu hart …“
Wir saßen auf einer alten Couch, wühlten mit den Zehen im Sand und tranken Bier. Max zu meiner Linken, Jorgo und Zidane zu meiner Rechten.
„Das war doch letztes Jahr nicht so“, sagte ich. „Was geht hier eigentlich ab?“
„Sie brauchen Schwänze”, sagte Zidane. „Sie brauchen unbedingt Schwänze.“
Max schüttelte den Kopf. „Nein, sie schaukeln sich hoch. Das ist so, wie wenn einer von uns jetzt behauptet, er könne zehn Flaschen Bier exen. Am Anfang sagen wir alle, du spinnst, aber sobald die Gefahr besteht, dass er es schafft, wollen wir auch zehn Bier exen. Und so ist das auch mit den Mädels und den Bikinis. Irgendeine hat behauptet, sie kommt im Bikini, und als dann klar war, sie macht es wirklich, mussten alle anderen nachziehen.“
„Krasse Theorie“, sagte Zidane. „Echt krasse Theorie. Hey Jorgo, hast du das gehört? Warum die Chicks Bikinis tragen? Weil wir Bier auf Ex trinken! Geil, was?“
Jorgo lachte. „Du hast es nicht verstanden, Zidane.“
„Klar, hab ich das.“
„Nein, hast du nicht.“
„Alter!“
Ich drehte mich zu Max, deutete in die Menge. „Hier muss doch irgendwas für dich dabei sein.“
„Ich weiß nicht“, sagte er.
„Alter, wenn ich jetzt single wär …“
„Aber du bist nicht single … und du bist auch nicht ich.“
„Was soll das denn heißen?“ Ich runzelte die Stirn. „Such dir einfach eine aus und sprich sie an.“
„Und was soll ich da sagen?“
„Hi, wie geht's, ich bin Max … irgendwas … ist doch scheißegal. Red einfach mit ihnen.“
„Und du glaubst das funktioniert? Hallo, ich bin Max! Und dann haben sie Lust mit mir zu reden?“
Ich schüttelte den Kopf. „Du bist so ne Muschi.“
Max rutschte auf. „Hey Zidane, wie sprichst du die Frauen an?“
„Einfach so fremde Schlampen ansprechen … bist verrückt?“ Zidane lachte. „Alter, die Chicks kommen auf mich zu, ist doch klar!“ Er lachte wieder. „Oder Jorgo, die Bitches kommen auf uns zu?“
Jorgo grinste. „Die Bitches kommen auf uns zu …“
„Siehst du!“, sagte Max, und er und schlug den Kragen seines Hawaii-Hemds auf. „Wenn die Bitches was wollen, sollen sie herkommen!“
„Hilfe!“
„O Gott …“
„Ruf mal bei der Küstenwache an, hier ist was gestrandet.”
„Mayday, Mayday …“
Matilda war da.
„Ist das normal?“
„Das ist nicht normal.“
„Stellt euch vor, das wäre normal.“
„Ich find sie geil“, sagte Zidane.
„Was?“ Wir runzelten gemeinsam die Stirn.
„Ich würd sie voll gern durchnehmen.“ Zidane lachte kurz auf. „Nein wirklich jetzt. Stellt euch mal vor, wie das so wäre. Bei der ist voll viel dran, da kann man ja richtig mit beiden Händen zupacken.“ Er stand auf und verzog das Gesicht. „Hört ihr, wie das klatscht? Batz! Schwabbel, schwabel, schwabel … Batz! Schwabbel, schwabbel, schwabbel …”
Wir krümmten uns vor Lachen.
Wenig später Anna kam auf uns zu. Max und ich standen auf und lächelten, Jorgo und Zidane blieben sitzen und nickten.
Sie trug einen schwarzen Bikini und sah ziemlich gut darin aus. Sie strahlte mich an. „Hallo Schatz!“
„Hallo …“ Ich gab ihr einen Kuss auf den Mund.
„Hey Anna“, sagte Max.
„Hallo!“
Sie umarmten sich.
„Wie geht's dir, Max?“
„Mir geht's gut.“
„Was treibst du so?“, fragte Anna.
„Mein Bier ist alle“, sagte ich. „Ich geh mir mal ein Bier holen.“
In der Schlange traf ich auf Ira. Gelber Bikini, schöne Bräune, Früchte überall.
„Hey!“
„Hey Ira.“
„Ich hab dich überall gesucht“, sagte sie. „Hast du nachher Lust zu tanzen? Ich finde nie jemand, der mit mir tanzen will.“
„Ich tanze nicht.“
„Nicht? Warum nicht?“
„Keine Ahnung … ist nicht so mein Ding.“
„Ach Quatsch, du musst halt ein bisschen üben. Ich kann dir ja nachher was zeigen, das wird bestimmt witzig.“
„Ja … witzig wäre das schon.“ In diesem Augenblick tauchte Anna neben mir auf. Sie schmiegte sich an mich, Kopf voraus, sodass ich den Arm um sie legte.
„Hallo Anna“, sagte Ira.
„Hallo Ira“, sagte Anna.
Ira lächelte mit ganz vielen Zähnen, Anna mit überhaupt keinen.
„Tom, ich will einen Cocktail“, sagte Anna und sah zu mir auf. „Holst du mir einen Cocktail?“
„Okay.“
„Und dann will ich tanzen.“
„Du kannst schon tanzen gehen, wenn du willst …“
„Bis später!“, sagte Ira, und sie verschwand.
„Tschüss …“, sagte Anna.
Ich drückte mich nach vorne an die Bar.
„Kommst du nicht mit tanzen?“, fragte Anna.
„Ich tanze nicht.“
„Warum nicht?“
„Keine Ahnung … ich find's irgendwie schwul.“
„Es ist nicht alles schwul, nur weil du's nicht kannst!“
„Ja aber bei Männern ist Tanzen schon ein bisschen schwul, findest du nicht?“
„Überhaupt nicht! Das ist voll sexy, wenn man das kann.“
„Ja, aber wie sähe das bei mir aus? Schau mal …“ Ich wackelte demonstrativ mit den Schultern. „Da sind doch überall Muskeln im Weg.“
„Schatz! Das ist nicht dein Ernst.“
„Aber klar doch, 100%ige.“
„Hast du noch nie Dirty Dancing gesehen, oder was?“
„Dirty was?“
„Dirty Dancing.“
„Ist das ein Porno?“
„Nein!“
„Den hab ich echt noch nie gesehen.“
„Dann guck ihn dir an. Und sag mir bloß nicht, dass er schwul ist.“
„Komisch, irgendwie vermute ich das stark …“
Sie schüttelte entsetzt den Kopf. „Also ich gehe jetzt tanzen … du kommst nicht mit?“
„Im Bikini?“
„Ja.“
„Okay, bis später.“
„Ja, bis später.“
„Vergiss deinen Cocktail nicht.“
„Danke.“
„Bitte.“
Ich drehte eine Runde durchs Jugendhaus, unterhielt mich hier und da, spielte eine Runde Tischkicker und ging zurück zur Couch, wo Jorgo und Zidane noch saßen.
Sie waren schon ein lustiges Paar. Zidane war klein und dunkel und flink. Er hatte Augen wie ein Wolf und eine Stimme wie ein Frettchen und einen makellos runden Schädel, der wirkte wie etwas, das man mit Ton geformt hatte. In seinem 8mm-Schnitt war auf der Seite ein Stern drin, und an der linken Augenbraue imponierte eine tiefe Narbe, wo kein Haar wuchs.
Jorgo war einfach nur ein schöner Grieche.
Ich setzte mich zu ihnen, und wir beobachteten wieder die Frauen. Irgendwann ging eine unbekannte Blondine an uns vorbei und lächelte.
„Wen hat die grad angelächelt?“, fragte Jorgo.
„Ich glaub, sie hat dich angelächelt“, sagte ich.
Jorgo schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, sie hat dich angelächelt.“
„Jungs, es tut mir leid“, sagte Zidane. „Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich angelächelt hat.“
Wir lachten.
„Naja … ich bin eh vergeben“, sagte ich.
„Du solltest mal fremdgehen“, sagte Jorgo.
„Das stimmt“, sagte Zidane. „Hör Jorgo zu, von so was hat der Ahnung.“
„Ja“, sagte Jorgo. „Hör zu.“ Er lehnte sich vor. „Wenn du jetzt fremdgehst, also jetzt bald, dann ist das quasi wie 'ne Versicherung. Weil angenommen Anna geht später fremd und du bist ihr treu geblieben? So könntest du sagen: Tja, Schlampe, ich bin auch schon mal fremdgegangen. Aber wenn nicht, bist ja doppelt gefickt! Okay, und jetzt mal angenommen, sie ist wirklich treu. Dann hast du später nur Schuldgefühle, wenn du mal fremdgehen willst. Bist du aber schon mal fremdgegangen, brauchst du keine Schuldgefühle haben, weil du eh schon mal fremdgegangen bist. Verstehst du? Ist alles besser so.“
„Klingt logisch.“
„Aber du musst es jetzt gleich tun“, sagte er, „am Anfang der Beziehung. Weil wenn du zu lange wartest, verliebst du dich noch, und dann kann dir keiner mehr helfen.“
Dazu sagte ich nichts.
„Guck dir den an!“, lachte Zidane. „Den hat's voll getroffen, Jorgo, vergiss es. Wie ein Lämmchen, Bambi!“
Jorgo lachte. „Dann ist er halt im Arsch …“
„Wo ist eigentlich Max?“, fragte ich.
Zidane zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung.“
„Ich glaube, der ist nach Hause gegangen“, sagte Jorgo.
„Wieso das?“
„Hatte irgendwie keinen Bock mehr.“
„Keinen Bock mehr?“
„Glaub schon.“
„Scheiße ey …“ Ich nahm einen Schluck Bier und lehnte mich zurück. „Echt Scheiße.“
Langsam war ich dicht. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen … und entdeckte etwas: eine Jamaika-Flagge!
Ich zerrte sie von der Wand und ging nach oben auf die Tanzfläche. Anna tanzte zusammen mit Lena und Claudi. Um sie herum sechs oder sieben Geier. Anna bewegte sich betont lässig, schlängelte ihren Körper langsam hin her, Cocktail in der Hand. Mal hob sie die Arme über den Kopf und senkte den Blick, mal breitete sie die Arme aus und sah zur Decke. Lena und Claudi machten genau dasselbe. Die Bewegungen fand ich etwas zu spirituell … aber Tanzen war ja eh nicht mein Ding. Ich schob mich an den Geiern vorbei.
„Hey!“, sagte Anna.
„Hey.“
„Was ist?“
Ich hielt die Flagge nach oben.
„Was ist das?“
„Eine Jamaika-Flagge!“
„Und was soll ich damit?“
„Umbinden, damit dir nicht kalt wird.“ Ich fand's eigentlich witzig.
Anna weniger so. „Ich glaub du spinnst! Ich zieh doch keine blöde Flagge an!“
Sie warf den Kopf zurück und marschierte arschwackelnd davon. Lena und Claudi folgten ihr auf Schritt und Tritt, eine empörter und arschwackelnder als die andere. Die Leute auf der Tanzfläche warfen mir komische Blicke zu.
Ich seufzte, ging zur Bar und holte mir ein Bier.
Jorgo machte mit der unbekannten Blondine auf der Couch rum, als ich wiederkam, also ging ich nach draußen. Hinter dem Jugendhaus war eine Wiese, wo die Kleinen manchmal Fußball spielten. Ich pisste gegen einen Baum, atmete tief durch und schloss die Augen. Die Luft war frisch und angenehm.
Was war das für ein Geräusch?
Ich schaute mich um. Jemand saß auf der Bank am Spielfeldrand und weinte.
Ich ging rüber. Es war Matilda. Sie hatte einen schwarzen Mantel übergezogen.
„Was ist los?“, fragte ich.
Sie schreckte zusammen, als sie meine Stimme hörte. „Nichts.“
„Du siehst aus, als ob was wär.“
„Tom, lass mich einfach in Ruhe, okay?“ Sie rutschte weg von mir. „Lass mich einfach.“
„Bist du dir sicher, dass ich nichts für dich …“
„JETZT GEH!“
Auf dem Weg zurück zur Bar, mein Bier war wieder leer, kam mir Zidane entgegen. „Hast du Jorgo gesehen?“, fragte er.
„Ich glaube, den haben alle gesehen“, sagte ich.
Er schüttelte wohlwissend den Kopf. „Scheißgrieche …“
„Wie läuft's bei dir?“
„Ach … Schlampen sind alle voll eingebildet.“
Ich nickte.
„Aber ich muss dich schon loben“, sagte er. „Deine Freundin hat echt Premium-Arsch!“ Zidane küsste seine Fingerspitzen.
„Echt Premium so ein Arsch, wenn du den von der Seite siehst …“ Er begann Annas Hintern mit der Hand nachzuformen.
„Danke, Zidane.“
„… der ist so richtig schön …“
„Danke, Mann, weiß ich zu schätzen. Hör mal, ich glaub ich hab da was für dich. Du hast doch vorhin Matilda gesehen, oder?“
„Matilda?“
„Etwas korpulenter …“
„Ja, ja.“
„Sie sitzt draußen und weint, ganz alleine.“
Zidanes Augen weiteten sich. „Ganz alleine?“
„Ganz alleine.“
„Ist der was passiert?“
„Ich weiß nicht, frag sie mal. Mit mir wollte sie nicht reden … aber vielleicht kannst du sie ja trösten?“
Vor der Bar fing mich Anna ab.
„Tom, wir müssen reden“, sagte sie.
„Okay“, sagte ich, und wir gingen in Ecke, wo ein bisschen weniger los war.
„Ich hab doch letzte Woche deine Eltern kennengelernt“, sagte Anna.
„Ja.“
„Und sie waren nett.“
„Ja, meistens sind sie nett.“
„Und voll liberal und cool und so …“
„Naja, meistens …“
„Warum hast du mir nicht erzählt, dass es gar nicht deine richtigen Eltern sind?“
„Weil das gar nichts zur Sache tut.“
„Na, aber ein bisschen schon, oder? Jetzt laufe ich schon die ganze Woche rum und frage mich, warum du deinen Eltern überhaupt nicht ähnlich siehst. Und statt dass ich den Grund von meinem Freund erfahre, sagt es mir jetzt irgendjemand.“
„Vorhin, als ich mit der Flagge gekommen bin, oder wie? Dann hat jemand gesagt: Hey, der Tom wurde adoptiert.“
„Tom, das war …“ Sie seufzte, nahm die Flagge und band sie sich blitzschnell um, als hätte sie im Leben nie was anderes gemacht, der Knoten direkt unter ihrem Bauchnabel, wie Geschenkpapier.
„So“, sagte sie. „Erzählst du's mir jetzt?“
„Da gibt's nichts zu erzählen, Anna, ich war drei, ich weiß das schon gar nicht mehr.“
„Und deine biologischen Eltern?“
„Keine Ahnung.“
„Sind die noch …?“
„Keine Ahnung, frag mich nicht.“
„Okay … dann sind deine Eltern schon quasi deine richtigen Eltern.“
„Ja, klar.“
„Zu 100%?“
„Naja …“ Ich zögerte. „Sagen wir zu 90% … oder zu 95%.“
„Und was ist mit den anderen 5%?“
„Die anderen 5% kannst du dir in den Arsch schieben, Anna!“
„Wo gehst du hin?“
„Ich hol mir ein Bier.“
„Du trinkst zu viel.“
„Du trinkst zu viel.“
„Tom, bleib stehen … es tut mir leid.“
„Vielleicht solltest du mal nach deiner Freundin schauen.“
„Matilda? Wieso? Wo ist die?“
„Ach, vergiss es …“
„Wo ist sie!?“
„Sie sitzt draußen, aber Zidane kümmert sich schon um sie.“
„Zidane? Wie will er das machen?“
„Na … mit seinem Schwanz, vermute ich mal.“
„Oh Gott!“
Ich musste lachen.
„Das ist nicht witzig!“
Aber sie fand's schon auch ein bisschen witzig.
„Ich muss sie finden“, sagte sie.
„Nein, du bleibst jetzt hier.“ Ich packte sie am Handgelenk. „Die sind glaub eh schon weg …“
„Tom …“
Ich hob sie hoch und trug sie davon.
Sie legte ihren Kopf auf meine Brust. „Bei mir dreht sich alles“, sagte sie.
„Jetzt plötzlich, oder wie?“
„Ja, wenn du mich trägst, dann dreht sich alles.“
Es gab hinter der Tanzfläche eine Ecke mit einer anderen Couch, dort war es etwas dunkler.
„Wo gehen wir hin“, fragte Anna.
Ich legte sie auf die Couch und mich auf sie drauf.
Etwas später lag sie auf mir, ihr Ohr auf meinem Herz. Sie sah auf. „Woher kennst du eigentlich Ira?“
„Sie ist bei mir auf der Schule.“
Anna musterte mich mit Aquariumaugen. Zwei Discokugellichter rauschten über ihr Gesicht.
„Und sie ist mir wirklich total egal“, fügte ich hinzu.
Anna gab mir einen Kuss und presste ihr Ohr wieder gegen mein Herz. „Ich glaube, ich hasse sie.“
„Das brauchst du nicht.“
„Manchmal wünsche ich mir, sie wäre tot.“
„Anna …“
Sie seufzte schwer und rutschte nach oben, drückte ihr Gesicht an meinen Hals.
„Weißt du, wir können schon auch miteinander schlafen“, sagte sie.
„Jetzt gleich?“
„Nein, nicht gleich … aber … irgendwann halt schon …“
„Ok … ich will dich nicht unter Druck setzen.“
„Okay“, sagte Anna, und sie sah wieder auf. „Aber ich will auch nicht, dass du mich nicht unter Druck setzt, weil du denkst, es wäre nicht gut, wenn du mich unter Druck setzt. Verstehst du? Also wenn du das Gefühl hast, du musst mich jetzt unter Druck setzen, dann kannst du mich schon auch ein wenig unter Druck setzen.“ Sie sah mich an. „Aber wenn du mich nicht unter Druck setzen willst, ist das natürlich auch okay.“
Ich musste lachen.
„Tom, ich versuch grad mit dir zu reden!“
Ich drückte sie. „Ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken, 100%ige.“
„Schatz, das ist wichtig.“
„Also gut, in einem Monat schlafen wir miteinander, okay?“
„In einem Monat?“
„Ja, das nehmen wir uns jetzt fest vor. In genau einem Monat, auf den Tag. Wie findest du das?“
„Okay … ja, das finde ich gut.“ Sie lächelte, und ich lächelte, und dann gab sie mir wieder einen Kuss. Ich schloss die Augen und atmete durch.
„Ich will tanzen!“, sagte sie.
„Mmm …“
„Komm schon, Schatz.“
„Okay …“
„Ja?“
„Ja.“
„Du kommst auch mit?“
„Ja, klar.“
„Und du tanzt auch?“
„Natürlich.“
Sie grinste.
Ich nahm sie an der Hand, und wir gingen auf die Tanzfläche. Anna machte gleich wieder einen auf LSD-Trip. Ich schaute mich ein bisschen um, was die anderen so machten. Im Grunde sah alles ziemlich spackhaft aus. Sie spielten 99 Luftballons.
Ich schüttelte die Schultern ein bisschen.
„Was machst du?“
„Ich tanze“, sagte ich.
Sie lachte.
Ich drehte mich im Kreis, machte zwei drei Kung-Fu Bewegungen, mixte einen Crossover und zwei Übersteiger mit rein.
„Tom, hör auf!“
Ich verstand nicht, warum ihr Gespacke cool war und meins nicht.
Hinter mir hörte ich Gelächter. Ich drehte mich um. Jorgo tanzte eng mit der unbekannten Blondine. Zidane hielt tatsächlich Matilda im Arm.
„Jungs“, sagte ich möglichst cool, „was ist los?“
Aber sie lachten einfach weiter, und dann musste ich auch lachen.
Die Leute in meiner Nähe hatten mir irgendwie Platz gemacht. Anna und ich sahen uns an.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Tom …“
Ich rannte vor, fiel auf die Knie, wackelte mit dem Oberkörper hin und her und setzte meinen heftigsten Pornoblick auf. (Ich hatte Dirty Dancing gesehen.)
Anna schlug beide Hände über den Kopf, und dann, als die Musik schneller wurde, stand ich auf, packte sie an der Hüfte und hielt sie nach oben, wie einen Luftballon. Sie schrie auf, ganz schrill, und krallte sich an meinen Haaren fest, während ich mich im Kreis drehte. Schneller und schneller und schneller …
Und jetzt könnte man vielleicht meinen, dass ich sie fallen ließ, dass ich irgendwann das Gleichgewicht verlor und wir betrunken auf den Boden krachten. Aber so war das nicht. Ich hielt sie ganz fest und wir fielen nicht. Nena sang von Düsenfliegern, Jorgo lachte wie ein schöner Grieche, Zidane wie ein penetranter Wiesel, wo Max war, weiß ich nicht, die anderen guckten komisch, und Anna und ich drehten uns.
Wir drehten uns und drehten uns und drehten uns und drehten uns und drehten uns …
„Was schreibst du?“
„Hm?“
„Was schreibst du?“
„Eine Geschichte, wie immer …“
„Kannst du mich zumindest anschauen, wenn ich mir dir rede?“
Ich drehe den Kopf. Hinter mir steht Melanie, Arme vor der Brust verschränkt. „Ich will wissen, worüber du schreibst, sonst zeigst du mir immer, was du schreibst.“
„Ja, aber wir haben doch gesagt, dass es besser ist, wenn ich dir alles erst zum Schluss zeige. So bekommst du eine ganze Geschichte zu lesen, und mich bringen deine Vorschläge nicht durcheinander. Wir haben doch darüber geredet.“
„Einen Scheiß haben wir geredet.“
Ich blicke wieder auf den Laptop. „Ich bin gleich fertig, okay?” Ich tippe weiter und spüre, wie sie langsam näher kommt, über mir kauert, dunkle Wolken. „Du schreibst über Anna …“
Ich seufze …
„Ich wusste es!“
„Ich schreibe eine Geschichte, Melanie, das ist Fiktion, du musst jetzt nicht gleich ausflippen, nur weil …“
„Sieh mich zumindest an, wenn du mir redest.“
Ich drehe mich zu ihr um.
„Weißt du eigentlich, was das für ein Gefühl ist? Ich hab so gehofft, dass … aber schau dich an, das hat keinen Zweck …“ Sie fängt an zu weinen, schlägt beide Hände vors Gesicht.
„Schatz, du übertreibst jetzt.“
„Du schreibst einen Scheißroman über diese Frau!“ Sie schluchzt. „Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Was das für ein Gefühl ist, zu wissen, dass du immer an sie denkst, jeden Tag. Weißt du überhaupt, wie sich das anfühlt?“
„Schlecht?“
Sie geht auf mich los, schlägt mit beiden Händen auf mich ein. Kratzt und tritt und schreit.
Ich stehe auf und schubse sie von mir weg. Sie fliegt nach hinten, kracht auf den Boden und schlägt dabei mit dem Hinterkopf auf. Sie ist kurz benommen, dann steht sie wieder auf.
„ICH HASSE DICH!“
Sie nimmt Handtasche und Jacke und stürmt weinend aus der Wohnung. Es ist meine Wohnung, nicht ihre. Ich weiß nicht, ob sie wieder kommt. Es kann schon sein … aber ich glaube nicht.
Ich falle zurück in den Stuhl und versuche weiterzuschreiben, aber das geht jetzt nicht mehr. Ich gehe in die Küche, hole eine Flasche Rotwein und drehe die Musik auf, so laut wie's geht.
Zwei Lieder lang höre ich Bob zu, dann greife ich zum Handy, rufe bei Max an und drehe die Musik wieder runter.
„Max?“
„Hey, kannst du mich nachher zurückrufen, ich sitz grad in der Vorlesung …“
„Scheiß auf die Vorlesung, Vorlesungen bringen nichts!“
„Was ist mit dir los?“
„Ich glaub mit Melanie ist es vorbei.“
„Was?“
„Ja.“
„Warte mal kurz …“
Ich warte.
„Was ist passiert?“
„Ist glaub mit Melanie ist es vorbei.“
„Warum?“
„Wir haben uns gestritten und geschlagen, und …“
„Du hast sie geschlagen?“
„Also sie hat mich geschlagen und dann hab ich sie weggestoßen. War schon übel.“
„Wieso? Wegen Anna?“
„Nicht direkt …“
„Diese Geschichte über Anna?“
„Es ist nur eine Geschichte …“
„Das ist nicht gut, Tom.“
„Warum sagst du das jetzt?“
„Weil das nicht gut ist. Echt Scheiße Mann, was ist los mit dir? Melanie ist ein nettes Mädchen, ein verdammt nettes Mädchen. Scheiße Mann, was machst du? Schreib doch eine Geschichte über sie! Bist du völlig hängengeblieben? Jetzt alles wegen Anna! Das ist fünf Jahre her. Vergiss die einfach, Mann, hörst du? Melanie ist klasse, okay? Weißt du, wie klasse Melanie ist? Fuck Mann ... du machst mich echt fertig.“
„Ich vermisse Anna.“
„Ich gebe mir gleich die Kugel … du bist so ein Egoist.“
„Ich vermisse Anna.“
„Ich auch! Und jetzt vergiss sie!“
Anna hatte ganz viele schlechte Seiten an sich. Ganz ganz viele. Sie war nicht unbedingt pflegeleicht, nicht gerade einfach. Eigentlich voll die Zicke. Und Linkshänderin war sie auch. Das ist schon komisch, wenn die Freundin Linkshänderin ist: Sie macht die Tür mit links auf, zupft dir eine Wimper von der Nase mit links, greift nach deinem Schwanz mit links, und immer wieder muss man denken: Okay, das hab ich jetzt nicht kommen sehen.
Aber was noch viel wichtiger war: Ihre Brüste waren wirklich nicht so groß. Wenn ich dran denke, wie ich mit Ira Sex hatte … da bekomm ich ja gleich einen Harten. Das ist bei Anna nicht so. Die Prallefrüchtemetapher funktioniert bei ihr nicht. Bei Anna denke ich an Aquarien und Luftballons und Blumenduft und so kitschige Sachen. Dabei ist die Früchtemetapher meine Lieblingsfrauenmetapher. Eigentlich sollte ich Ira nachtrauern und nicht Anna. Eigentlich sollte ich mich bei Melanie entschuldigen, sie ficken und an Ira denken, und dann einschlafen und von Anna träumen.
Wobei, eigentlich mache ich das schon so.
Eigentlich sollte ich Tauchlehrer werden und nach Costa Rica ziehen. Eigentlich sollte ich mich mit Benzin begießen und lodernd vom Münster springen.
Eigentlich sollte ich vieles.
Wahrscheinlich würde sogar vieles funktionieren.
Nur Anna nicht.
Anna, du funktionierst nicht.
Max hat schon recht, ich sollte dich vergessen …
Wir haben September. Es ist eine warme Sommernacht. Neben mir liegt die 100%ige und alles ist gut. Ich kann die Augen schließen und sie geschlossen halten und mehr will ich nicht. Ich spüre Anna neben mir und sie riecht gut und ich bin glücklich. Ich bin vor einer Woche siebzehn geworden und ich heiße Tom.
„Siehst du die Sterne?“, fragt Anna.
„Ja.“
„Du musst die Augen aufmachen.“
Ich mache die Augen auf.
„Siehst du sie?“
„Ja, ich sehe sie.“
„Es sind ganz viele! Es waren noch nie so viele Sterne wie heute.“
Das kann sogar sein. Es sind echt viele.
„Weißt du noch, welcher unser ist?“, fragt Anna.
„Ich glaub ich hab's vergessen.“
„Schatz, wehe …“
„War's der da?“
„Welchen meinst du?“
„Folg meinem Finger …“
„Ich dachte, der da war's.“
„Jetzt weißt du's selbst nicht mehr, oder wie?“
„Na, es sind halt so viele heute Nacht …“
Ich lasse die Hand über ihre Taille gleiten. „Gehen wir doch zu mir …“
„Schatz, wir können jetzt nicht gehen.“
„Klar können wir das.“ Ich drehe mich auf die Seite und gleite mit der Hand unter ihr Top.
Sie küsst mich und schiebt meine Hand weg. „Tom, hier sind Leute … später.“
Wir liegen auf einer Decke am Baggersee. Hinter uns brutzelt ein Lagerfeuer, Max spielt Gitarre.
„Wer singt da?“, frage ich.
„Ist das Zidane?“
Ich richte mich auf. „Es ist Zidane.“
Anna lacht.
„Was macht ihr dahinten, kommt wieder vor!“, brüllt Jorgo und hält eine Flasche Raki nach oben.
„Schon wieder eine Flasche?“, frage ich.
„Ja, klar!“
„Komm, gehen wir wieder vor“, sagt Anna.
Ich will liegen bleiben, aber ich gehe mit.
Max spielt Ironic von Alanis Morisette. Gar nicht schlecht. Zidane singt dazu. Das ist schon fragwürdiger. Jorgo ist an einer unbekannten Blondine dran. Matilda sitzt allein, schaut Zidane beim Singen zu und schmollt. Das ging nicht lange gut mit ihnen. Bei Max läuft es auch nicht so. Deswegen die Gitarrennummer und die langen Haare, glaube ich. Der verwegene Blick. Steht ihm gut eigentlich. Ira sitzt im Kreis mit drei unbekannten Typen. Lena und Claudi sind auch irgendwo. Jorgo lässt die Rakiflasche kreisen, ich nehme einen Schluck, verziehe das Gesicht, Anna nimmt einen Schluck, verzieht das Gesicht, und es geht weiter.
Irgendwann hat jemand die Idee, mit dem Kanu zum Steg zu fahren, weil das scheinbar eine wahnsinnig spannende Sache ist, nachts mit dem Kanu zum Steg zu fahren. Anna findet die Idee toll, und Jorgo findet sie toll, und Max findet sie toll, und Matilda auch, und die unbekannten Geier finden sie toll, und Ira auch. Ich finde sie ziemlich scheiße. Zidane stimmt mir zu. „Scheißwasser ist kalt“, sagt er, und wir finden das lustig.
„Komm“, sagt Anna zu mir und zieht an meiner Hand.
„Mit geht's nicht so gut …“, sage ich. „Ich glaub, ich leg mich wieder hin.“
„Jetzt sei nicht immer so! Ich will, dass du mitkommst.“
„Bleib doch bei mir, 100%ige.“
„Schatz, komm doch mit.“
„Bleib du hier.“
„Nein, komm du mit.“
„Bleib hier.“
„Komm mit.“
„Ich bleib hier.“
„Ich geh.“
Die 100%ige gibt mir einen Kuss und verschwindet in der Dunkelheit.
Irgendwann kommen sie zurückgerannt, klatschnass. Sie lachen und drängen sich ums Feuer. Ich sitze noch da, weil ich gemerkt habe, dass sich hinlegen keinen Spaß macht, wenn Anna nicht dabei ist.
„Hey, wo ist Anna?“, sagt Max und nimmt mir die Worte aus dem Mund. Ich kann sie auch nicht finden.
Wir schauen uns alle um, und es ist kurz still. Wasser tropft auf den Boden, das Feuer knistert.
„Wer ist Anna?“, fragt einer der Unbekannten.
„Anna“, sage ich, und ich stehe auf. „Wo ist Anna?“
„Sie war auf jeden Fall im Boot“, sagt Jorgo.
„Scheiße“, sagt Max und rennt als erster los.
Jorgo, Zidane und ich folgen ihm.
„ANNAAAAAAAAAAAA!“, schreien wir am Uferrand. „ANNAAAAAAAAAAAAAA!“
Aber Anna antwortet nicht. Wir stürzen uns ins Wasser, schwimmen los und schreien. Aber ich bin ein schlechter Schwimmer und voller Raki und die Sterne reflektieren überall, die Lichter zischen und kreisen sich in meinem Kopf, und bald vergesse ich, wo der Himmel anfängt und der Baggersee aufhört. Womöglich ist es mir irgendwann auch gar nicht mehr so wichtig. Ich gehe unter.
Der Rettungswagen kam gerade rechtzeitig, um mich zu reanimieren, nachdem Max mich ans Land gezogen hatte. Anna wurde am nächsten Morgen von Tauchern rausgeholt. Sie flog mit acht Leuten ins Wasser und ertrank, und keiner hat ein Auge auf sie gehabt.
So war das.
Ich frage mich natürlich immer wieder, wie das sein kann. Jorgo und Max haben mir schon tausend Mal erklärt, wie dunkel es war, und wie betrunken wir waren, und was das für ein Gefühl ist, wenn man ins kalte Wasser fällt, und wie man da nur noch ans Ufer denkt. Und das Scheißkanu sei halt gekippt, weil es ein Scheißkanu war und man irgendeinen doofen Scheiß angestellt hat. Und auch wie schnell das ging, Wahnsinn, das kann ich mir gar nicht vorstellen, wie schnell das ging, das war vom Umkippen des Kanus, bis man gemerkt hat, dass Anna nicht mehr dabei war, maximal eine Minute. Höchstens zwei. Und sogar Matilda die fette Kuh hat es ja alleine zurückgeschafft. Und auch Ira, die war so was von dicht und mit diesem Typen beschäftigt, die haben ja im Kanu fast schon gefickt, die kann das gar nicht bemerkt haben. Es war einfach zu viel Alkohol. Der Alkohol war das Problem.
Und das klingt alles plausibel, macht schon Sinn irgendwie. Fakt ist trotzdem, dass acht Leute ins Wasser fielen und zum Ufer schwammen und zum Lagerfeuer rannten, und man erst dann gecheckt hat, dass Anna nicht mehr dabei war. Manchmal fällt es mir schwer, das zu glauben. Mir wäre das auf jeden Fall viel früher aufgefallen. Mir wäre das gleich aufgefallen. Aber das hilft nichts, weil ich nicht mitgegangen bin.
Max und meine Eltern sagen immer, dass ich mir deswegen zu viele Gedanken mache, dass ich mal versuchen soll, mir weniger Gedanken wegen Anna zu machen, weil das Leben weitergeht. Zuerst passiert das Eine, und dann kommt das Nächste, und morgen tut man dies und übermorgen tut man das, und irgendwann kommen neue Erinnerungen und verdrängen die Alten, und dann sieht man nicht nur Anna in einem Sarg liegen, dann gibt es auch andere Dinge.
Und ja. Klar. Logisch. Also ich weiß schon auch, dass es andere Dinge außer Anna gibt, mir ist bewusst, dass man nicht nur Anna in einem Sarg liegen sieht.
Es gibt auch Annas Eltern bei der Beerdigung.
Und es gibt Tränen.
Und Aquarien aller Art.
Und Gerüche aller Art.
Und Ökobräute aller Art.
Und rote Karten, ganz viele rote Karten.
Und Baggerseen.
Und Raki.
Und Jamaika-Flaggen.
Und Luftballons.
Und Frauen, die auf Inseln sitzen.
Und Beach Parties.
Und McDonald's.
Und den Tiroler.
Und die Stadtmauer.
Und was ist dein Lieblingstier?
Und Dirty Dancing.
Und der erste Kuss.
Und Ira.
Und wenn Anna das wüsste.
Und Jorgo geht zurück nach Griechenland.
Und Zidanes Hochzeit.
Und Max.
Und so viel, das nicht gesagt wurde.
Und so viel, das zu kurz kam.
Und so viel, das fehlt.
Und Anna, wie sie lacht.
Und Anna, wie sie küsst.
Und Anna, wie sie tanzt.
Und ich, wie ich war, als ich mit Anna war.
Die Zeit vergeht. Ich liege auf dem Boden und habe keine Lust aufzustehen. Irgendwann mache ich die Augen auf und Max steht in der Tür. Er hält einen Sixer in der Hand.
Er kommt langsam rein und sieht sich um. Es knirscht unter seinen Füßen. Er sagt lange nichts. „Willst du mich verarschen?“, fragt er schließlich.
Ich setze mich langsam auf. Es tut alles weh. Vor allem die rechte Schulter, die tut höllisch weh.
„Du blutest“, sagt Max.
„Wo?“
„Im Gesicht.“
Ich fasse meine Wangen an, finde den Glassplitter, ziehe ihn heraus und sehe mich um.
Ich hab meine Wohnung verwüstet.
„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“, fragt Max.
„Ach was …“ Ich stehe auf, putze meine Kleidung ab und schaue mich um. Es sieht schon heftig aus.
Max reicht mir ein Tempo.
„Danke.“ Ich drücke es mit der linken Hand an die Wunde. „Du hast Bier mitgebracht.“
Max nickt. „Ich dachte, wir schauen uns das Champions League Spiel an.“
„Klar, Bayern gegen Real, das machen wir.“
„Der Fernseher …“
„Ach so … stimmt … Scheiße.” Ich kratze mir den Kopf mit der freien Hand, und ein brutaler Schmerz fährt in meinen Rücken.
„Tom …“, sagt Max.
„Was?“
„Tom …“
„Ich weiß, das ist Scheiße mit dem Fernseher. Dann gucken wir das Spiel bei dir an, oder?“
Max sagt nichts.
„Oder?“, hake ich nach.
„Ja, das können wir schon machen.“
Ich hebe meine Jacke vom Boden auf und ziehe sie an. „Weiß man schon, ob Robben spielen wird?“
„Ich weiß es nicht.“
Ich gehe zur Tür. Max steht noch mitten im Raum, blickt umher.
„Komm“, sage ich, „ist schon halb neun, ich räum das später auf.“
„Das wird dauern“, sagt er.
„Das weiß ich … los, wir verpassen das Spiel.“