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Wie es ist, eine Fledermaus zu sein

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18.06.2015
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Wie es ist, eine Fledermaus zu sein

Fledermaus

Die Schüler zucken zusammen, drehen die Köpfe und beraten, was zu tun sei, denn ich habe ihnen gesagt, sie dürften nach Hause gehen, wenn sie wollten, und zwar jetzt sofort.
„Ihr seid, wozu ihr euch macht. Eure Entscheidung, eure Freiheit, euer Leben.“ Eine Minute lang wird gezögert und gezaudert, danach verstummt die Klasse. Jedes Mal. Noch nie hat jemand den Raum verlassen. Ich setze den Unterricht fort und halte fest, es sei eine Sache, den Existentialismus gut zu finden, danach zu handeln, eine ganz andere. So mache ich das seit zwanzig Jahren, wenn ich Sartre behandle, und die Schüler sind so berechenbar wie eh und je.
Bis letzten Frühling. Nadja erhob sich, noch bevor ich meinen Satz beendet hatte, griff nach dem Smartphone, das sie entgegen meinen Anweisungen zu Beginn jeder Stunde auf ihr Pult zu legen pflegte, und ging, ohne mich anzublicken, zur Tür. Sie drehte sich um, schaute in die Klasse und schüttelte langsam den Kopf.
„Tschüss!“, sagte sie.
Die Woche darauf gab ich der Klasse einen Test zurück. Unter Nadjas Note, eine Eins wie immer, hatte ich geschrieben:
Ich bewundere Ihren Mut.
Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sie lächelte, als sie meinen Kommentar las. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein spöttisches Lächeln war.
Das wusste man bei Nadja nie. Den Unterricht verfolgte sie stumm. Ab und zu warf sie einen Blick auf das Display ihres Handys, ansonsten starrte sie mich, den Kopf auf ihre ausserordentlich schmalen Hände gestützt, mit dunklen Augen an. Anfangs hatte ich sie ein paar Mal aufgerufen, worauf sie jeweils bloss mit den Schultern gezuckt hatte. Solches Verhalten stört mich nicht und ich lasse die Schüler sein, wie sie sind. Auch Nadja. Ich hatte nicht weiter über dieses kluge und schweigsame Mädchen nachgedacht. Doch seit dieser kurzen Episode beschäftigte mich die Frage, was in Nadja vorging.
Ich schaute mir ihre Facebook-Seite an. Von den Bands, die sie mochte, hatte ich noch nie gehört. Sie las viel, einiges davon kannte ich. Immerhin. Ich dachte darüber nach, auf welches Buch ich sie ansprechen könnte, als meine Frau ins Arbeitszimmer kam. Hastig klappte ich meinen Laptop zu.
„Was machst du?“, fragte sie.
„Nichts.“
„Pornos? Nicht dein Ernst.“
„Quatsch.“
„Mir egal. Ist dein Leben.“

Mein Leben: Ich war eine Fledermaus. Man hielt mich für interessant und speziell. Man glaubte, ich nehme wahr, was anderen verborgen bleibe. In Wirklichkeit hatte ich mich bloss in der engen Felsspalte meiner eigenen Existenz schlafen gelegt. Meine Frau war die einzige, die das wusste, und sie hasste sich dafür, dass sie es viel zu spät bemerkt hatte.
Doch Nadja nahm ich wahr. Ich nahm wahr, dass es da etwas gab, was anderen verborgen blieb und ich musste der Sache auf den Grund gehen. Sie hatte Into The Wild geliked. Das brachte mich auf die Idee, einen kleinen Exkurs zu Thoreaus Walden zu gestalten, mit den Schülern über die Kehrseiten der Zivilisation zu sprechen, über den Begriff der Natur, über Technik, Simulation und echte Erfahrung. Nichts. Die Klasse war begeistert, Nadja starrte und schwieg. Ich kam nicht an sie heran. Nach der Stunde bat ich sie, noch einen Moment zu bleiben.
„Sie wissen, dass ich niemanden zwinge, den Unterricht mitzugestalten?“, sagte ich.
„Ja.“
„In Ihrem Fall ist das sehr schade.“
„Was?“
„Dass Sie sich nicht melden.“
„Okay.“
„Langweilt Sie der Unterricht?“
„Nö.“
„Aber es interessiert Sie nicht besonders, scheint mir.“ Nadja schwieg. „Das Thema heute hat Sie nicht angesprochen? Ist doch spannend. Haben Sie vielleicht den Film gesehen, den ich erwähnt habe? Into The Wild?“
„Nö“, sagte sie.
Ich liess sie gehen. Sie schlenderte zur Tür, drehte sich zu mir um und lächelte.
„Tschüss!“

Ich verstand nicht, wie mich Nadja derart in ihren Bann ziehen konnte. Ich konnte nichts dagegen tun. Lange zögerte und zauderte ich, letzte Woche beschloss ich zu handeln. Ich schrieb Nadja eine E-Mail.
Liebe Nadja
Dass ich Ihren Mut bewundere, habe ich bereits geschrieben. Ich fühle, dass Sie ein besonderer Mensch sind. Nur mache ich mir etwas Sorgen um Sie. Sie wirken sehr verschlossen. Das dürfen Sie natürlich sein. Aber falls Sie die Dinge, die Sie bewegen, jemandem mitteilen möchten, finden Sie bei mir jederzeit ein offenes Ohr.
Herzlich
Roland Zumstein

Gestern las ich mit den Schülern Nagels What Is it Like to Be a Bat?
„Nun? Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“, fragte ich.
„Das können wir nicht wissen“, sagte Vera.
„Gut. Weshalb wählt Nagel das Beispiel einer Fledermaus?“
„Ultraschall. Wir wissen nicht, wie es ist, Ultraschall zu hören.“, antwortete Yannick.
„Sehr gut. Und was hat das mit uns zu tun?“
„Eigentlich trifft das auf uns alle zu. Wir wissen nie, was im Kopf des anderen vorgeht.“
„Genau.“ Ich wiederholte den Satz. Die Schüler schrieben in ihre Hefte. Nur Tobias blickte mich an. Langsam hob er seinen Arm.
„Ja, Tobias?“
„Das stimmt gar nicht, Herr Zumstein.“ Er grinste. „Wir alle wissen, dass Sie scharf auf Nadja sind.“
„Raus!“, sagte ich. „Auf der Stelle.“ Mehr konnte ich nicht tun. Ich liess den Rest der Klasse den Text zu Ende lesen, verstaute meine Unterlagen, wartete auf die Pausenglocke und verliess beim zweiten Schlag den Raum.
Nadja holte mich ein, als ich in meinen Wagen steigen wollte.
„Ich habe Tobias von der E-Mail erzählt“, sagte sie.
„Klar.“
„Es tut mir leid.“
„Danke.“
„Ich meine, das geht doch nicht. Ich bin siebzehn und Sie sind, na ja, alt.“ Ich musste lachen. „Ich finde Sie echt nett und so, ehrlich, aber ich möchte nicht, dass Sie mir E-Mails schreiben, okay?“
„In Ordnung.“

Wir wissen nicht, was im Kopf des anderen vorgeht. Wissen wir, was in unserem eigenen Kopf vorgeht? Manchmal dauert es eine Weile, bis wir darüber Klarheit gewinnen.
Heute Morgen stand ich auf.
„Tschüss“, sagte ich zu meiner Frau.
Ich fuhr zur Schule und ging ins Büro des Rektors.
„Tschüss“, sagte ich zu meinem Chef.

 

Lieber Peeperkorn,

bin leider erst jetzt auf die Fledermaus gestoßen. Für mich höchster Erinnerungswert. Ich wusste gar nicht, dass man im Unterricht heute noch Sartre liest. Camus war zu meiner Schülerinnenzeit in Deutsch und Französisch angesagt. Smartphone und Internet noch weit entfernt. Die Schwingungen waren die nämlichen.
Hat dein Prot mal mit Schülern des Zweiten Bildungsweges, (also solchen, die gleich alt sind wie ihre junge Lehrerin) "Die Leiden des jungen Werthers" gelesen? Die Prota (meiner noch nicht geschriebenen) Geschichte merkte als letzte, warum gestandene Handwerker plötzlich anonyme Zettelchen ins Klassenbuch steckten. Pädagogischer Eros eben. Toll vermintes Gelände, für Achtundsechziger eine Spielwiese.

Darf ich ein bisschen Mitleid haben mit deinem Prot?

Das wollte ich noch sagen: wunderschön geschrieben, besonders die Dialoge.

Herzlichst
wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe wieselmaus

Darf ich ein bisschen Mitleid haben mit deinem Prot?

Durchaus. :)


Ich wusste gar nicht, dass man im Unterricht heute noch Sartre liest. Camus war zu meiner Schülerinnenzeit in Deutsch und Französisch angesagt.

Wir haben einen relativ offen formulierten Lehrplan für das Fach Philosophie (das bei uns ein Wahlpflichfach ist). Und Sartres Zugang ist halt argumentativer, aus philosophiedidaktischer Sicht m.E. besser geeignet als die Texte von Camus.

Hat dein Prot mal mit Schülern des Zweiten Bildungsweges, (also solchen, die gleich alt sind wie ihre junge Lehrerin) "Die Leiden des jungen Werthers" gelesen? Die Prota (meiner noch nicht geschriebenen) Geschichte merkte als letzte, warum gestandene Handwerker plötzlich anonyme Zettelchen ins Klassenbuch steckten. Pädagogischer Eros eben.

Hehe. Nein, aber mein Prot war erst sechsundzwanzig, als er das erste Mal am Gymnasium Schülerinnen unterrichtet hat, die schon fast zwanzig waren, und insofern ist ihm der pädagogische Eros in seinen verschiedenen Erscheinungsformen durchaus vertraut. :)

Merci fürs Reinschauen!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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