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- Anmerkungen zum Text
Mir ist zum ersten Mal beim Brennen eine Figur kaputt gegangen.
Ich konnte die kleine Hexe nicht einfach wegwerfen und deshalb habe ich mir eine Geschichte für sie überlegt.
Wie die Waldhexe Rosea zu ihrem Sprung kam
Das Haus der Hexe Rosea Leptonella Quartina stand versteckt in einem kleinen Tal. Auf den Bergen drumherum lag das ganze Jahr Schnee. Sie war die kleinste Hexe, die ihr euch vorstellen könnt. Gerade mal so groß wie eine Kinderhand. Natürlich konnte sie sich auch größer und kleiner hexen, so hoch wie ein Haus oder so winzig wie eine Laus. Doch die kleine Waldhexe war zufrieden, wie es war.
Mit der klitzekleinen Waldmaus Musculus lebte sie seit zweihundertelf Jahren hier.
Jedes Tier im Wald kannte die kleine Hexe. Alle kamen mit ihren kleinen und größeren Sorgen, mit manchem Wehwehchen oder Krankheiten zu Rosea, damit sie das Problem löste. Heute jedoch war kein Tier da. Eine ungewöhnliche Stille hatte sich über den Wald gelegt. Nicht einmal die Vögel konnte man hören. Dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne, helle Blitze zuckten vom Himmel. Lauter Donner hallte durch das Tal. Es krachte und blitzte in allen Gewitterfarben.
"Hihi, was für ein tolles Wetter.“ Rosea liebte Gewitter und lief aufgeregt ans Fenster. Sie freute sich darauf, mit ihrem Besen durch die dunklen Wolken zu fliegen. Vom Wind hin und her geschleudert zu werden, Besenpurzelbäume zu machen und mit dem Donner vom Sturm davongeblasen zu werden.
„Nein, nein, nein“, ihre kleine Hausmaus sprang auf der Fensterbank aufgeregt zwischen den Kräutertöpfen herum.
„Wie kann ein Mensch nur so unvernünftig sein und bei diesem grauslichen Wetter vor die Türe wollen!“
„Ich bin eine Hexe und mir passiert nichts, ich werde meinen Schutzzauber sprechen und …“, weiter kam Rosea nicht, ein fürchterliches Krachen unterbrach sie und mit lautem Gepolter fielen unzählige Dachplatten in den Garten.
„Das war die alte Eiche, sie ist aufs Haus gefallen.“ Vorwurfsvoll blickten schwarze Mäuseknopfaugen die kleine Hexe an. „Wo war denn da dein Schutzzauber?“
Ja, was war damit …? Immer bei Vollmond sprach Rosea einen Zauberspruch über ihr Häuschen. Damit keine Naturgewalt oder die magische Welt ihrem Zuhause einen Schaden zufügen konnte. Doch beim letzten? Sie überlegte.
„Da sollen doch alle Spinnenbeine aus der Suppe hüpfen.“ Zornig stampfte die kleine Hexe mit dem Fuß auf.
Tatsächlich, sie hatte es vergessen. Beim letzten Vollmond war sie mit Musculus beim Käseessen-Wettbewerb gewesen. Der Schutzzauber war ihr entfallen. Jetzt war Halbmond und der alte Zauber wirkte nur noch schwach.
Auweia, die alte Eule wohnte in der Eiche und eine Buntspechtfamilie nistete im Stamm.
„Ich muss sofort nachsehen, ob ihnen etwas passiert ist. Cibius mein Beselein, Hexus, Nexus flieg herein.“
Ein knorriger Besenstiel mit aufgebundenem Birkenreisig kam aus der Abstellkammer geflogen. Rosea band noch ihr Kopftuch über, setzte sich auf den Besen und sprach: „Links und rechts und geradeaus, Cibius, flieg zur Tür hinaus!“
„Den Schutzzauber! Du musst zuerst einen Schutzzauber sprechen, bevor du bei dem Gewitter auf das Dach fliegst“, piepste Musculus. Doch die rosarote Schürze der Hexe war nicht mehr zu sehen. Ein heftiger Windstoß ließ die Haustüre krachend ins Schloss fallen. Die Maus fuhr erschrocken zusammen. Schnell trippelte sie zu ihrem Mäuseloch, verkroch sich dort und hoffte, dass die kleine Hexe keine Dummheiten machte.
Rosea freute sich, als sie die Eule unversehrt in den Zweigen der umgestürzten Eiche sitzen sah.
„Ist dir auch nichts passiert? Hast du dir wehgetan?“
Stumm schüttelte die Eule den Kopf. Sie konnte nicht sprechen, zu sehr war die Arme erschrocken, als der Baum krachend umstürzte.
Die Waldhexe flog um die Eiche herum. Ein leises Piepen war zu hören. Wo kam das her? Stöhnend hob sie die schweren Äste in die Höhe und suchte und suchte, konnte aber die Bruthöhle nicht finden. Noch eine Runde um den Baum herum und dann sah sie: Der Stamm hatte den Höhlenausgang der Buntspechte unter sich begraben.
„Keine Sorge, ich helfe euch!“, rief die kleine Hexe in das Blättergewirr.
Große Regentropfen fielen aus den nachtgrauen Wolken. Super, ohne Zauber werde ich gleich so nass wie ein Fisch sein, aber zuerst muss ich die Eiche wieder aufstellen. Sie streckte die Arme aus und wie ein Dirigent im Takt der Musik, bewegte die kleine Hexe ihre Hände.
„Erdenboden, Eichenstamm,
Hexus, Nexus wundersam,
wieder heile sei der Stamm.“
Zuerst war es nur ein leises Flüstern in den Blättern, dann ein Rütteln in den Zweigen. Wie von einem starken Wind getragen, stellte sich die Eiche mit einem dumpfen Grollen wieder auf.
Hoffentlich ist den kleinen Spechten nichts passiert! Voller Sorge flog Rosea zu der Bruthöhle.
„Hallo, hallo“, rief sie in die Öffnung.
Gerade noch rechtzeitig zog die Hexe den Kopf zurück, der Specht kam mit lautem kix, kix, kix aus der Höhle geflogen. Blieb vor ihr sitzen und breitete seine Flügel um Rosea. Die wusste gar nicht, wie ihr geschah, als der Vogel sie fest an seine Brust drückte.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du es warst. Vielen dank, kleine Hexe, dass unsere alte Eiche wieder steht. Wir sind mit ein paar zerquetschten Federn und dem Schrecken davongekommen.“
„Hab ich doch gerne gemacht, nun muss ich aber los und meinen Schutzzauber sprechen, bevor noch mehr passiert.“
Inzwischen war Rosea pittschnass geworden. Vom Regen begleitet landete sie auf dem Dach. Sie hob ihre Arme und sprach die Zauberformel:
"Hexus, Nexus Haus und Schutz, Zaub…“ ein flammendheller Blitz zuckte aus den dunklen Wolken und traf die kleine Hexe zischend am Kopf. Es knisterte, tat weh, ihr wurde schwindelig und taumelnd fiel sie auf Cibius. Mit letzter Kraft hielt sie sich fest. „Schnell“, flüsterte sie, „flieg hinunter!“
Es krachte und splitterte als die kleine Hexe mit dem Besen durch die Fensterscheibe flog und vor dem Kamin landete.
Von dem Scheibengeklirr alarmiert, streckte Musculus vorsichtig sein Köpfchen aus dem Mauseloch. Erschrocken lief er zu Rosea: „Was ist passiert, sag doch etwas!“
Doch die kleine Hexe rührte sich nicht. Bäuchlings lag sie stumm auf ihrem Besen. Hunderte Male trippelte er auf ihrem Rücken rauf und runter. Schließlich setzte er sich bekümmert neben ihr linkes Ohr. Leise begann er ihr Lieblingslied zu piepsen. Vielleicht …, ja vielleicht konnte auch ihr Herz ihn hören.
„Morgens früh um sechs, kommt die kleine Hex.
Morgens früh um sieben, schabt sie gelbe Rüben.
Morgens früh um acht, wird Kaffee gemacht.
Morgens früh um neun, geht sie in die Scheun.
Morgens früh …“
„Au, Aua!“, langsam kam Rosea zu sich und von vielen „au“ und „Ahs“ begleitet, stand sie auf. In ihrem Kopf brummte und surrte es.
„Wie kann eine kleine Maus nur so laut und dabei so falsch singen?“ Sie blickte zu Musculus, der bewegungslos auf dem Boden saß und sie anstarrte.
Irgendetwas stimmte nicht, so lange war er noch nie still gewesen.
„Was ist los, warum sagst du nichts?“
Der Mäuserich blieb stumm und stierte sie weiterhin an.
Zitternd hob er einen Finger und zeigte damit auf ihren Kopf. Was war mit ihrem Kopf? Warum sagte er nicht einfach, was los war? Langsam begann sie ihr Gesicht zu betasten. Erst das Kinn, dann über den Mund hinauf zur Nase bis hoch an die Stirn. Und da fühlte sie es. Von einer Stirnseite zur anderen ertastet sie eine Wunde.
Sie brauchte einen Spiegel, sofort! „Spieglein, Spieglein eins, zwei drei,
Hexus, Nexus komm herbei!“
Mitten durch das Zimmer kam ihr silberner Handspiegel aus dem Badezimmer angeflogen. Platzierte sich vor Rosea und blieb wie ein Geist in der Luft stehen.
Entsetzt schrie die kleine Hexe auf. Der Blitz hatte ihr Gesicht in der oberen Hälfte geteilt. Ein Riss verlief von der rechten zur linken Stirnseite. Unter dem Auge war ebenfalls ein kleiner Schlitz, der bis zum Mund ging. Die kleine Hexe wusste nicht, über was sie sich mehr wunderte, über ihr verletztes Gesicht oder darüber, dass sie keine Schmerzen fühlte.
„Du hast Glück gehabt, dass der Schutzzauber noch ein bisschen gewirkt hat, sonst wärst du wahrscheinlich Tod“, flüsterte Musculus. Winzige Tränen tropften auf den Boden.
„Jetzt bin ich die Hexe mit einem Sprung in der Schüssel. Sogar mein Kopftuch hat einen Riss“, bemerkte sie.
„Du meinst mit einem s i c h t b a r e n Sprung in der Schüssel.“
Wobei die kleine Maus „sichtbar“ so lang zog, dass Rosea ein kleines bisschen schmunzelte.
Musculus war sich sicher: in Zukunft würde die kleine Waldhexe keinen Schutzzauber mehr vergessen.