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Wer zum Teufel ist Uli?

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14.08.2012
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Wer zum Teufel ist Uli?

Gut eine Stunde hatte ich geschrieben und dabei Glas auf Glas gekippt. Ich war nun einigermaßen blau und natürlich ging es mir keinen Deut besser. Wie auch? Ich wusste nur zu gut, dass die Nacht draußen sich nicht von der Stelle gerührt hatte, die wartete nach wie vor auf mich. Zumindest sollte ich heute einschlafen können, redete ich mir ein. Den Versuch war‘s wert. Ich zerknüllte die vollgekritzelten Seiten und warf sie in den Mülleimer hinter der Theke. Dann schob ich Heinrich einen Zwanziger hin und wollte mich endgültig aus dem Staub machen.
Ich schlüpfte in den Mantel, doch eben als ich mein Glas leerte, erklangen die ersten Takte von Borodins Requiem. Beinahe verschluckte ich mich.
Am Musikautomaten stand ein Typ und raufte sich die Haare. Das war eins von diesen modernen Dingern, die ein paar zigtausend Titel drauf haben, die gesamte Musikgeschichte rauf und runter. Womöglich wollte der Schlaumeier Boney M. hören oder DJ Bobo und hatte sich schlicht vertippt. Solche Genies soll’s ja geben. Oder das Ding war einfach hin, zur Strecke gebracht von einem Software-Fehler, keine Ahnung. Der Spinner drückte wie blöde an den Knöpfen, aber das änderte nichts, die Kiste war eindeutig hinüber. Die anderen Gäste fanden das gar nicht lustig, die wollten chillen, die wollten verdammt noch mal Popmusik hören, keinen schwermütigen russischen Kram. Es fehlte nicht viel, dass die ersten Gläser durch die Luft flogen. Auch wenn sich die Härchen auf meinen Unterarmen aufstellten, das Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen. Nach sechs Minuten wäre der Spuk ohnehin vorbei. Die hatten doch keine Ahnung, diese Banausen.
Heinrich tat, als ginge ihn das alles nichts an, der hatte auch seinen Spaß. Hingebungsvoll polierte er die Chromteile der Espressomaschine und zwinkerte mir zu.
„Weißt du, was Tolstoi gesagt hat?“, fragte er mich.
„Na ja, so einiges, vermute ich.“ Heinrich immer mit seinen Zitaten. Ich rechnete mit dem Schlimmsten.
Nirgends kann das Leben so roh wirken wie dort, wo es mit edler Musik konfrontiert ist. Also ich glaub zumindest, dass es von Tolstoi ist“, sagte er und schenkte uns zwei Gläser ein.
„Die gehen auf mich, Luis.“
Die Musik ist eines der Mittel, Gut und Böse zu unterscheiden. Ist auch von Tolstoi“, sagte ich und hob mein Glas. „Auf die alten Russen, Heinrich.“
Jedenfalls war das der Augenblick, in dem ich sie sah. Mit geschlossenen Augen stand sie am anderen Ende der Bar und in ihrem schwarzen Kleid und mit der Perlenkette um den Hals wirkte sie hier vollkommen fehl am Platz, als hätte sie sich verirrt. Sie klammerte sich an ein Fläschchen Heineken und war so blass im Gesicht, dass ich fürchtete, sie könnte jeden Moment umkippen. Kurzerhand ging ich zu ihr rüber und sprach sie an. Mich musste der Teufel geritten haben.
„Verzeihen Sie, ist Ihnen nicht gut?“
Zuerst schien sie mich nicht gehört zu haben. Doch dann drehte sie sich um, ganz langsam, als hätte ich sie aus einem Traum geweckt, als holte ich sie aus der Umlaufbahn um einen fernen Planeten, und ich hatte währenddessen alle Zeit der Welt, ihren Nacken zu betrachten. Ihr Haar war hochgesteckt, und das war schon immer eine Sache, die mich schwach werden ließ, die ich an Frauen einfach liebte, den Haaransatz hinter dem Ohr, diese zarte Stelle, die man nur sehen konnte, wenn sie das Haar hoch trugen. Es konnte kein Zufall sein, dass sie sich genau dorthin das Parfum tupften, als wüssten sie um den Zauber dieses magischen Stückchens Haut.
„Ich weiß nicht recht, wie soll’s mir denn gehen, wenn es mir gerade das Herz zerreißt?“
Als sie das sagte, lächelte sie kein bisschen, sie meinte das offenbar ernst, ich hatte nicht das Gefühl, dass sie mich auf den Arm nahm. Allerdings schaute sie auch nicht drein, als müsste sie gerade furchtbar leiden. Ich war mir nicht ganz sicher, vielleicht verarschte sie mich ja doch.
„Und Sie? Mögen Sie Borodin?“, fragte sie mich.
„Sehen Sie nicht, dass ich mich gerade anschicke, ohnmächtig zu werden?“ Auch ich blieb ernst.
Jetzt stahl sich ein Grinsen in ihr Gesicht.
„Dann sollten Sie sich besser hinsetzen, meinen Sie nicht?“
Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern schnappte sich meine Hand und steuerte ein Tischchen an, ganz hinten in der letzten Ecke, und das war mir nur recht, auf diese Spaßvögel an der Bar konnte ich gerne verzichten.
Solange die Musik lief, sprachen wir kein Wort, wir sahen uns nur an und ihre Finger ließ ich auch nicht los. Was die da vorne mit dem Musikautomaten anstellten, bekam ich nicht mehr mit, es war mir herzlich egal. Ganz gleich, ob sie den nun zertrümmerten oder einfach den Stecker zogen.
„Wie heißt du?“
„Luis.“
„Witzig. Ich heiße Uli. Ist fast ein Anagramm.“
Meine Güte, konnte die lächeln!
„Deine Stammkneipe scheint das nicht gerade zu sein, Uli, was?“
„Nein. Aber im Winter komm ich manchmal rüber, um mich aufzuwärmen.“
„Sag bloß, die haben dir die Heizung abgedreht. Genauso schaust du aus. Als wärst du vollkommen verarmt.“
Sie lachte.
Die übliche Drecksmusik fing wieder an und Uli ließ meine Hand los.
„Komm, lass uns abhauen, Luis.“ Sie leerte ihre Flasche und stand auf. „Ich würde dir gerne was zeigen. Also wenn du magst.“
„Wird es wehtun?“ Ich grinste sie an.
Wieder lachte sie und ich lachte auch. Dabei war das alles andere als ein Witz. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mir noch irgendwas passieren sollte, was nicht wehtäte. Seit der Sache mit Mona war’s vorbei mit meiner Überzeugung, ich sei unverwundbar, nun ja, ich will’s mal so sagen, ich hing einigermaßen ramponiert in den Seilen. Zwar hielt ich mich noch halbwegs auf den Beinen und steckte wacker Schlag auf Schlag weg, aber dass ich die meiste Zeit die Zähne zusammenbiss, fiel mir schon gar nicht mehr auf.
„Lass dich überraschen“, sagte Uli.
Wir verließen das Henriques. Nach wie vor lungerte die Nacht vor der Tür, bitterkalt und finster wie zuvor, aber ich dachte mir, die könne mich mal kreuzweise, diese Scheißnacht, zumindest heute. Ich schlug den Mantelkragen hoch und steckte die Fäuste in die Taschen, Uli schlang sich ihren Schal um den Hals. Unsere Atemwölkchen ließen ein leises Klirren hören, als sie zusammenstießen.
„Und jetzt?“
„Ist nicht weit“, sagte sie und hakte sich bei mir unter. „Nur zweimal um die Ecke.“
Wir stapften durch den Schnee und ehrlich gesagt, ich dachte dabei an gar nichts. Allerhöchstens daran, dass mir mein verfluchtes Bett nie und nimmer davonliefe. Das wartete unerbittlich auf mich. Hämisch grinsend oder mit gefletschten Zähnen, wie es ihm gerade gefiel. Da konnte ich genauso gut noch ein wenig durch die Gegend laufen, sagte ich mir. Und sollte Uli eine Verrückte sein, womöglich eine Waffe in der Handtasche mit rumschleppen und mir ans Leben wollen, wäre das auch kein Beinbruch. Vielleicht wäre das sogar das Beste, was mir passieren konnte.
Wir bogen in eines dieser schmalen Innenstadtgässchen ein. Vor einer unscheinbaren Holztür blieb Uli stehen.
„Da sind wir.“
Ich blickte die Fassade hoch. Eindeutig gotisch, das musste die Rückseite der kleinen St. Lucrezia-Kirche sein. Na großartig, ich war tatsächlich an eine Irre geraten. Uli kramte in der Handtasche und ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog. Sie holte einen Schlüsselbund hervor und schloss auf.
„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“
„Lass dich überraschen.“
Wir betraten einen dunklen Raum, vermutlich die Sakristei, viel konnte ich nicht erkennen. In Wahrheit war ich mittlerweile so fertig, dass es mir kaum noch gelang, die Augen offen zu halten. Uli machte sich in einer Ecke an ein paar Schaltern zu schaffen und ich nahm unterdessen einen kräftigen Schluck aus dem Flachmann. Keinesfalls wollte ich nüchtern sterben.
Sie griff nach meiner Hand und zog mich durch einen verwinkelten Gang ins Kirchenschiff. Vor einem Seitenaltar funkelte ein Meer von unzähligen Kerzen und ich starrte auf die Flämmchen, bis das Bild vor meinen Augen zu verschwimmen begann. Tatsächlich spürte ich eine Träne über meine Wange kullern, obwohl das beileibe kein trauriger Anblick war.
„Darf man hier rauchen?“
„Setz dich hin, Luis. Ich bin gleich so weit.“ Dann war sie weg. Offenbar hatte sie mich nicht gehört. Ich hockte mich auf eine Bank, steckte mir eine an und verkroch mich in meinem Mantel. Mir war leidlich warm und an der Brust spürte ich die tröstliche Berührung des Flachmanns. Zigaretten hatte ich auch noch genug. Überdies liebte ich schon immer diesen eigentümlichen, mystischen Geruch, wie er nur Kirchen zu eigen ist. Beinahe fühlte ich mich wohl. Ich war in den letzten Monaten schon weit schlimmer dran gewesen.
Ganz leise erklangen Orgeltöne und ich war mir anfangs nicht sicher, ob ich sie wirklich hörte. Ging der Zirkus schon wieder los? Erst vor wenigen Tagen hatte ich mitten in der Nacht verzückt Bruchs Oratorium gelauscht, minutenlang, bis mir einfiel, dass ich die Schallplatte ja schon längst zertrümmert und ins Kaminfeuer geschmissen hatte, vor mehr als einem halben Jahr, an Monas Geburtstag. Ich war aus dem Bett gekrochen, hatte den Kopf unters kalte Wasser gesteckt und mich dabei gefragt, ob ich’s in der letzten Zeit mit dem Trinken nicht doch ein wenig übertrieb.
Andererseits, sollte ich nächtelang an die Decke starren?
Bildete ich mir die Musik jetzt auch nur ein? Mir sträubten sich alle Härchen. Ausgerechnet dieses Stück musste sie spielen ... Ich schloss die Augen und summte die Melodie mit, ich fürchtete, jeden Moment aus einem Traum aufgeweckt zu werden, ich meinte, Monas Haar zu riechen.
„Schenkst du mir eine, Luis?“
„Hä?“
„Eine Zigarette.“
Ich öffnete die Augen. Ein Typ stand neben der Bank und blickte mich treuherzig an. Der Pfarrer schien das nicht zu sein. Zuerst dachte ich, es wäre Kurt Cobain. Mit der abgewetzten Lederjacke und den wirren blonden Strähnen sah er haargenau so aus. Na ja, eine Spur lebendiger vielleicht.
„Müsste ich dich kennen?“ Ich hielt ihm mein Päckchen hin.
„Kommt drauf an. Rutsch mal rüber.“
Ich machte ihm Platz und er setzte sich neben mich. Ich reichte ihm den Flachmann.
„Aber sei ja still“, flüsterte ich ihm zu, obwohl das Präludium mittlerweile wie ein Orkan durch die Kirche brauste. Kaum zu glauben, dass Ulis zarte Finger dieses Wunder erschufen.
„Danke. Auf deine Mona“, sagte er und nahm einen Schluck.
Mir fiel beinahe die Zigarette aus dem Mund.
„Äh, hast du eben Mona gesagt?“
„Die Kleine spielt echt gut, was?"
„Sag mal, was soll der Scheiß? Du hast Mona gesagt, ich hab’s doch gehört. Wer bist du überhaupt? Wir kennen uns doch gar nicht, oder?“
„Kannst dir’s aussuchen. Du vermisst sie sehr, stimmt’s?“
„Hör mal, wenn du mich nerven willst, vergiss es. Lass mich einfach die Musik hören.“
„Ich mein’s ernst. Ist deine Entscheidung.“
„Was ist meine Entscheidung? Ob du mir auf die Eier gehst?“
„Nein, wer ich bin.“
Der Witzbold ließ nicht locker. Vermutlich war er nur ein einsamer Penner, der jemanden zum Quatschen suchte. Aber, Himmel noch mal, er war nicht der einzige, den das Leben verarschte, dass Einsamkeit die lausigste Sache auf der Welt ist, das brauchte mir niemand erzählen. Millionen von Typen ging‘s nicht anders, erwartete er sich ein Wunder? Hatte nicht ein jeder sein Kreuz zu tragen? Ich verspürte im Augenblick wahrlich keine Lust, den Seelentröster zu spielen.
„Ich möchte dir einen Vorschlag machen, Luis.“
„Vergiss es. Ich hab echt keine Lust zum Quatschen. Und woher du meinen Namen weißt, ist mir eigentlich auch egal. Ehrlich. Lass mich einfach in Ruhe.“ Ich nahm einen kräftigen Schluck.
„Na komm, Luis, reg‘ dich nicht auf. Ich mein’s gut mit dir.“
War das etwa doch ein Pfaffe? Wollte mir der jetzt was erzählen vom Wunder der Welt, von den Freuden dieses Jammertals? Vom Sinn des Leidens? Das fehlte mir gerade noch.
„Ich denke, ich könnte dir helfen, Luis.“
Herrjemine, ich war schon wieder an einen Bekloppten geraten.
„Wobei willst du mir helfen? Etwa beim Totlachen? Glaub mir, das klappt nicht. Das versuch ich schon seit Jahren.“
Nein, in letzter Zeit hatte ich wahrhaftig keinen Grund gehabt, mich kaputtzulachen. Hätte ich etwa darüber lachen sollen, dass ich nach Monas Verschwinden rein gar nichts mehr auf die Reihe bekam? Dass ich meine Tage damit verplemperte, stapelweise Schreibhefte vollzukritzeln, zu saufen und einer Frau nachzuweinen? Und dass ich gleichzeitig vom Mitgefühl meiner Umwelt fast erdrückt wurde? Das nämlich war sowieso der allerschlechteste Witz, weil Mona mich in Wahrheit ja schon drei Wochen vor ihrem Unfall endgültig verlassen hatte. Aber davon wusste kein Mensch, niemand ahnte was von meinen allerletzten Worten an sie: „Dann hau doch endlich ab, du Verrückte.“ Das Übliche eben und ich hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass sie spätestens am nächsten Tag wieder vor meiner Tür stünde. Wie so oft, wie immer. Aber dieses eine Mal war es ihr offenbar ernst. Zwischen unserem Zuhause und dem Tunnelportal, an dem ihr Wagen zerschellte, lagen zwei Staatsgrenzen und gut tausend Kilometer Fahrt. Nein, das war kein Tagesausflug gewesen.
Bis heute wusste ich nicht zu sagen, ob ich um meine Freundin trauerte oder um meine Exfreundin. Als ob das irgendeinen Unterschied machte. Und der Spinner meinte im Ernst, mir wäre zu helfen?
„Also da gäb’s schon ein paar Möglichkeiten, Luis.“
„Alter, bitte!“
„Jetzt hör mir doch einfach mal zu. Meinst du etwa, du wärst der erste, mit dem ich ins Geschäft komme? Ist im Grunde die einfachste Sache der Welt. Ein simpler Tauschhandel. Du bekommst von mir Zeit mit deiner Mona und gibst mir dafür was von dir. Was weiß ich, irgendein Dings halt.“
Ich hatte es geahnt, der Typ war wirklich übergeschnappt.
„Ach, um diesen Hokuspokus geht‘s. Ich nehme mal an, du redest von meiner Seele. Und den Vertrag besiegeln wir mit meinem Blut, stimmt’s? Sag mal, wo haben sie denn dich ausgelassen?“ Schön langsam begann der Kerl, mir Spaß zu machen.
„Vergiss diesen Quatsch, Luis. Seele … meine Güte, das ist doch Märchenkram. Ich hätte dich für schlauer gehalten. Was fang ich denn mit Scheißseelen an? Meinst du, ich kleb mir die in ein Sammelalbum, oder was?“
„Ehrlich, darüber hab ich mir noch nie den Kopf zerbrochen.“ Ich trank und reichte ihm neuerlich die Flasche. Beinahe mochte ich ihn schon.
„Die Seele gibt’s nicht, Luis, die ist eine Illusion. Nicht mehr als ein tröstliches Konstrukt, um die Vergänglichkeit des Lebens leichter zu ertragen. Nein, ich will schon was Handfestes. Also irgendwas, wo’s richtig wehtut, wenn du es hergibst. Ich meine, immerhin kriegst du ja was dafür, was den Schmerz dann wieder aufwiegt. Ist im Grunde eine reine Ermessenssache. Eine Frage des Abwägens sozusagen. Quid pro quo, wie es so schön heißt.“ Er kicherte und grinste mich an.
„Dein Ernst? Ich soll jetzt echt handeln mit dir? Was soll ich dir denn bieten? Tun's ein paar Zwanziger?“
„Es muss schon wehtun, hab ich gesagt.“
„Jessas, ein paar Hunderter?“
„So richtig wehtun.“
„Hmm … ich könnte mir zum Beispiel ein Ohr abschneiden, was meinst du? Oder eine Zehe.“
„Genau. So was in der Art.“
Ich lachte. „Na dann. Auf mein Ohr“, sagte ich und nahm einen Schluck.
„Prost, Luis. Auf deine Nase.“ Er lachte auch und der Flachmann wanderte hin und her.
„Aber jetzt im Ernst, Luis. Je mehr du mir gibst, umso länger gebe ich dir Mona. Ein Ohr ist natürlich ein Witz. Das reicht gerade mal für eine Woche.“
„Sag mal, wer von uns beiden ist besoffener, du oder ich?“
„Ist doch egal, oder? … Tja, ist deine Entscheidung. Aber du bist wohl einer von den Skeptikern, die für alles einen Beweis brauchen, was? Willst du einen Beweis?“
„Na ja, eigentlich schon, bevor ich mir ein Ohr absäble. Oder einen Finger.“ Ich lachte in mich hinein, der Typ war echt witzig und Uli spielte wie eine Göttin. Was für eine verrückte Nacht. Ich hielt ihm die Schachtel hin.
„Magst du noch eine?"
„Ja, gerne“, sagte er, nahm sich eine Zigarette und rammte mir im selben Augenblick ein Messer durch die Hand, und es stimmt, im ersten Moment spürt man überhaupt nichts, höchstens ein bisschen kalt fühlte sich das an. Ich vergaß zu atmen, keinen Ton brachte ich über die Lippen, doch dann explodierte der Schmerz und raubte mir beinahe die Sinne, ich meinte, mich jeden Moment übergeben zu müssen, ich presste die Knie zusammen, ich war knapp dran, mir in die Hose zu pinkeln, ich drückte die Hand an meinen Bauch und krümmte mich, mir schoss das Wasser aus den Augen.
„Luis, um Himmels Willen, was ist passiert?“
„Der verdammte Rasenmäher. Ich hab’s doch gewusst, dass diesem Drecksding nicht zu trauen ist.“ Ich lehnte an der Terrassentür und hechelte, ich bekam kaum Luft. Mona bugsierte mich zum Sofa und mein Blut hinterließ eine glitzernde Spur auf dem Boden. Das Hemd, das ich um die Hand gewickelt hatte, konnte ich vergessen. Den Teppich auch.
„Was bin ich nur für ein dämlicher Hund, ich könnte mich ohrfeigen. Oh Gott, oh Gott, was für eine Scheiße. Dieses Scheißding. Tut mir leid wegen des Teppichs. So ein Mist.“
„Jessasmaria, Luis, vergiss den Teppich. Werd mir ja nicht ohnmächtig, mein armer Liebling.“ Mona drückte mir einen Kuss auf die Wange und rannte ins Badezimmer. Aber so schnell konnte sie gar nicht verschwinden, dass nicht trotzdem ein Teil von ihr zurückblieb, ihr Duft hing im Wohnzimmer und hüllte mich ein, und dagegen waren die rasenden Schmerzen in meiner Hand ein Witz. Hätte ich mir für Mona nicht ein Bein ausgerissen? Und dabei noch gelacht? Sie kam mit dem Verbandszeug zurück und setzte sich neben mich. Ich lehnte mich an sie und vergrub meine Nase in ihrem Haar.
„Mona, Mona, was täte ich ohne dich?“, flüsterte ich in ihre Haare. „Vermutlich müsste ich verbluten und sterben … verrecken, krepieren, elendiglich zugrunde gehen … und leiden wie ein Hund … ach Mona, du hältst mich am Leben … ohne dich wäre ich schon längst hin, ehrlich … das weißt du, Mona, das ist kein Witz. Oh Gott, wie ich dich liebe … was täte ich nur ohne dich …“
Ich redete und redete, ganz blöd war ich von ihrem Geruch, ich konnte nicht aufhören zu quasseln und meine Lippen wanderten unterdessen langsam zu ihrem Hals, nicht ohne vorher ein wenig bei ihrem Ohr verweilt zu haben. Meine unverletzte Hand blieb auch nicht untätig. Mona wand sich.
„Hör auf damit, Dummkopf, sonst schaff ich das nie“, sagte sie. Aber ihre Stimme klang, als würde sie sagen: „Hör um Himmels Willen nicht auf, Luis, sonst muss ich auch gleich sterben.“
Der Verband wurde alles andere als ein Kunstwerk.
„Wie fühlst du dich?“, fragte sie, als sie fertig war. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und presste die andere Hand zwischen die Beine, ein feiner Schweißfilm glänzte auf ihren Schläfen und ganz rote Wangen hatte sie. „Was meinst du, Luis, sollen wir gleich zum Arzt, oder hat das noch ein paar Minuten Zeit?“
Ich streckte mich auf dem Sofa aus. „Vergiss den Arzt. Ich glaube, ich werde gerade ohnmächtig“, sagte ich und verdrehte die Augen.
„Ach, Luis, mein Armer“, sagte Mona und schlüpfte aus ihrem Kleid.

Ich riss die Augen auf. Zusammengekrümmt hing ich in der Kirchenbank, ein höllischer Schmerz tobte in meiner linken Hand, der zog sich rauf bis zur Schulter, und ich wusste nur eines mit Sicherheit: So etwas konnte man sich nicht einbilden. Ich knirschte mit den Zähnen.
„Das waren jetzt dreißig Minuten, Luis. Reicht dir das als Beweis? Gib mal deine Hand her. Ich hab ein sauberes Taschentuch.“
Der Wahnsinnige saß tatsächlich noch neben mir.
Besonders witzig fand ich ihn jetzt nicht mehr. Überhaupt fand ich im Augenblick gar nichts witzig, ich fühlte mich, als wachte ich aus einer Narkose auf, ich konnte mich kaum bewegen. Mit Müh und Not bekam ich die Flasche an die Lippen.
„Hör mal“, stöhnte ich, „ich hab keine Ahnung wer du bist und was diese Scheiße soll. Machst du das öfter? Bist du krank oder was? Rennst herum und stichst Leute ab?“
Er griff nach meiner Hand und wickelte das Taschentuch herum.
„Du wolltest doch einen Beweis, oder? Und war’s das nicht wert? Der lächerliche Kratzer für diesen göttlichen Fick?“
„Verdammt, was redest du da?“
„Ach, Luis. Meinst du, ich weiß nicht, was du eben erlebt hast? Wo du die letzte halbe Stunde warst? Hier in der Kirche warst du jedenfalls nicht. Quid pro quo, hab ich doch gesagt, oder? Meinst du, ich mach Witze?“
Ich starrte auf die Kerzenflammen. Dann hob ich die rechte Hand an die Nase und schnupperte an den Fingern. Eindeutig Mona. Konnte man so etwas träumen?
„Du brauchst nichts überstürzen, Luis. Lass dir Zeit. Denk einfach in Ruhe drüber nach, was es dir wert ist. Muss ja nicht gleich ein ganzes Bein sein. Und, im Vertrauen gesagt, nicht mal dein eigenes muss es sein, wenn du weißt was ich meine.“
Er zwinkerte mir zu, tätschelte meine Wange und stand auf.
„Du hörst von mir, Luis. Und vielen Dank für die Zigaretten und den Schnaps.“ Er grinste mich noch einmal an, dann wandte er sich ab.
„He, warte“, stieß ich hervor und wollte ihm nach. Doch ein Schwindel erfasste mich und ich sank zurück auf die Bank. Der Irre verschwand in dem Durchgang zur Sakristei.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es mittlerweile still in der Kirche war. Uli hatte zu spielen aufgehört.
Ich versuchte, mich an die letzten Töne zu erinnern, ich bemühte mich verzweifelt, die Melodie festzuhalten, die in meinen Ohren nachzuklingen schien wie das Echo aus einer fernen Zeit, ich zermarterte mir das Hirn, was da eben mit mir passiert war. Aber der Schmerz in der Hand machte mich schier verrückt, der ließ einfach keinen Platz in meinem Kopf für einen klaren Gedanken. Gleichzeitig ahnte ich, dass die Wunde mein geringstes Problem war, irgendwas stimmte nicht mit mir, das wusste ich, irgendwas stimmte ganz und gar nicht, am liebsten hätte ich das alles vergessen, am liebsten hätte ich laut gebrüllt.
Da hörte ich schon Schritte hinter mir und rasch ließ ich die Linke in der Manteltasche verschwinden, ich konnte Uli ja nicht gut was von heftigem Nasenbluten erzählen. Beinahe hätte ich aufgeheult, als meine Finger den kalten Stahl berührten. Das durfte ja nicht wahr sein, der Dreckskerl hatte sein Messer da reingetan.
Uli setzte sich neben mich. Ganz atemlos war sie.
Ich ließ den Kopf an ihre Schulter sinken.
„Das war unglaublich schön. Ich fürchte, du hast mich verzaubert, Uli. Ehrlich."
„Sag bloß, du weinst.“
Ich schüttelte schwach den Kopf.
„Du lässt mich jetzt nicht alleine nach Hause gehen, oder?“
„Na ja, ich weiß nicht recht.“
„Komm, sag nicht nein, Uli. Bitte.“
„Also, ich weiß nicht … nein, Luis, ich glaub, das wäre keine gute Idee … aber weißt du was? Ich geb' dir meine Nummer und du rufst mich an. Was meinst du? Ehrlich, ich würde dich gerne wiedersehen.“

***​

Ich erwachte. Noch bevor ich die Augen auf bekam, war die Erinnerung an einen Traum da, an einen Traum, der nicht und nicht hatte aufhören wollen, als hätte ich ihn stundenlang geträumt, ein ums andere Mal: Ich hatte mich böse an der Hand verletzt und Mona verband die Wunde, während meine andere Hand sich auf Entdeckungsreise unter ihrem Kleid befand. Dann zog sich Mona das blutbefleckte Kleid aus und sie war so schön, dass ich hätte heulen mögen. Aber immer wieder, gerade in dem Augenblick, wenn sie sich zu mir legte und sich nackt an mich schmiegte, begann der Zirkus von Neuem und ich stand wieder an der Terrassentür und fluchte. Und immerzu diese Musik. Es war zum Verrücktwerden.
Draußen graute der Morgen und ich brauchte einige Zeit, bis mir klar wurde, dass ich nicht in meinem Bett lag. Wenige Zentimeter vor meiner Nase sah ich eine Flasche und ein zerbrochenes Glas, daneben eine Hand, eingewickelt in ein Tuch, und die Hand ragte aus einem Mantelärmel und unter dem wiederum glaubte ich meinen Wohnzimmerteppich zu erkennen. Ich rührte mich nicht, ich starrte minutenlang auf dieses Bild und bemühte mich, es zu begreifen.
War ich gestern Abend im Henriques gewesen? Ja, und ich hatte tüchtig gebechert, daran erinnerte ich mich. Irgendwas war mit dem Musikautomaten, der hatte Faxen gemacht. Und dann war da noch diese Frau und dann … kurz blitzte in meinem Kopf die Erinnerung an eine verschneite Straße auf, an eine quälend langsame Taxifahrt … verdammt, was für ein Tag war heute überhaupt? Ich rollte mich auf den Rücken und setzte mich endlich auf. Ich hob die Linke und drückte vorsichtig daran herum. Fast hätte ich aufgejault. Oh Gott, jetzt hatte ich den Schlamassel, es war so weit, ich hatte mich endgültig um den Verstand gesoffen. Ich zerdepperte Gläser, ruinierte meine Hand, und am nächsten Tag hatte ich keinen blassen Schimmer mehr davon. Was war ich nur für ein erbärmlicher Scheißkerl ...
Lisa hatte die Frau geheißen, genau, jetzt fiel's mir wieder ein, unsere Namen seien fast ein Anagramm, hatte sie gemeint … nein, nicht Lisa, Uli. Uli hieß sie. Luis und Uli, das klang wirklich hübsch. Wir waren gemeinsam aus dem Henriques raus und ich fragte sie, ob sie mit mir käme, und tatsächlich saßen wir dann gemeinsam in einem Taxi … hatten wir uns nicht sogar geküsst? Aber ... war das überhaupt gestern gewesen? Himmel, ich bekam's einfach nicht auf die Reihe. Kein Wunder, ich hatte schreckliche Kopfschmerzen ... zu mir war Uli offenbar nicht mitgekommen und das konnte ich ihr schwerlich verübeln, ich ginge auch nicht freiwillig mit mir nachhause. Die Frau konnte ich wohl vergessen. Scheiß drauf.
Ich mühte mich hoch, warf den Mantel aufs Sofa, schlurfte in die Küche und setzte Kaffee auf. Dann stellte ich mich ans Fenster und löste vorsichtig das Tuch von meiner Hand. Auf dem Handrücken klaffte eine blutverkrustete Wunde. Junge, Junge, das sah wirklich böse aus. Vermutlich war ich mit dem Glas gestürzt und hatte mir eine Scherbe rein gerammt. Besser gesagt, hindurch gerammt, auf der Handfläche war auch ein Schnitt, genau gegenüber. Ich fasste es nicht, ich hatte mir echt ein Loch da rein gehaut, quer durch. Und mich dann schlafen gelegt? Wie ein vollkommen Verblödeter?
Behutsam bewegte ich die Finger, sie funktionierten tadellos, nur der Ringfinger wollte sich nicht recht krümmen lassen. Wenn ich ihn zu beugen versuchte, schoss ein Schmerz bis in den Ellbogen. Was war ich nur für ein Schwachkopf. Aber recht besehen, schien ich ein Riesenglück gehabt zu haben. Die Art von Glück, wie sie nur Kindern, Narren und Besoffenen zuteil wird.
Endlich war der Kaffee fertig, tiefschwarz und bitter, und ich kippte eine gehörige Portion Zucker in die Tasse. Den üblichen Schuss Gin ließ ich heute bleiben, mir war beileibe nicht zum Feiern. Andererseits, wem wollte ich was beweisen? Ich war auf dem besten Wege, vor die Hunde zu gehen, daran gab's nichts zu rütteln, lohnte es sich überhaupt, noch einen Umweg zu machen?
Schon stand ich am Schrank und kramte nach einer Flasche, nur einen Fingerbreit wollte ich mir gönnen, gegen die Schmerzen. Jessasmaria, ich war wirklich am Arsch. Ich goss Gin zum Kaffee und schon der Geruch ließ mich lächeln. Das war Medizin, nichts anderes.
Ich nahm ein paar Schlucke und in diesem Augenblick war plötzlich die gesamte Erinnerung an die letzte Nacht da, schlagartig erinnerte ich mich, ich erinnerte mich an alles. An den Taxifahrer, der dahingekrochen war wie der allerdämlichste Fahrschüler, daran, wie ich auf der vereisten Treppe vor der Haustür auf die Fresse flog, an Heinrichs blöde Zitate, an die Lucrezia-Kirche, an Ulis Orgelspiel, an diesen irren Penner … und was für Unsinn dieser Kerl gequatscht hatte, meine Güte, was es mir wert sei, quid pro quo, lauter so Scheiß. An jedes Wort erinnerte ich mich und starrte dabei auf meine Hand. Hatte mir der wirklich ein Messer da rein gehaut? War ich daraufhin bewusstlos geworden und hatte dieses wirre Zeug von Mona geträumt, halluziniert, mir eingebildet? Erlebt?
Ich drückte vorsichtig an der Wunde herum und ich meinte, wieder Monas Duft zu riechen, und ich erinnerte mich wieder, wie zart sich ihre Haut angefühlt hatte, ich erinnerte mich an dieses wahnsinnige Glücksgefühl, als ich mit meinem Kopf zwischen ihren Schenkeln lag, das war, wie nach einer langen Irrfahrt nach Hause zurückzukehren, das war wie das Aufwachen aus einem Alptraum. Das sollte doch mein wahres Leben sein, oder? Mona war doch mein Leben, nicht das Saufen, nicht dieses ununterbrochene Elend.
Ich goss mir Kaffee nach, ich goss mir Gin nach. Als der Kaffee aus war, trank ich den Gin pur und in meinem Kopf lief dabei der Traum von Mona in einer Endlosschleife, wie in der Nacht. Binnen einer Stunde leerte ich die Flasche und erbrach mich danach in die Spüle. Mittlerweile waren die Kopfschmerzen fast unerträglich. Ich ballte meine Linke zur Faust und drosch sie mir gegen die Stirn, dann an die Wand, immer und immer wieder, Blutspritzer schwirrten durch die Luft wie Sternschnuppen und sprenkelten die Fliesen. Aber ich konnte nicht aufhören, weil mit jedem Schlag Monas Gesicht deutlicher vor mir erschien, lächelnd, strahlend, so voller Liebe. „Mona!“, brüllte ich, „Mona!“ Ich schluchzte, ich heulte, ich winselte. Ich war am Durchdrehen. Ich wusste, was jetzt kam, ich ahnte das Ende. Und hatte schreckliche Angst davor. Ich riss die Kiste mit dem Werkzeug aus dem Wandschrank und wühlte darin wie ein Irrer, dann hatte ich es endlich gefunden, dieses sauteure Wunderding mit dem idiotischen Namen, Razorback, oder Scorpion, so was in der Art, als wär's eine Nahkampfwaffe, egal, verdammt, jetzt wollte ich es wissen. Ich streifte den linken Schuh ab und fetzte die Socke vom Fuß. Die kleine Zehe krümmte sich, als wüsste sie, dass ihr Übles bevorstand, ich meinte sogar, einen spitzen Schrei zu hören.
"Ja, heul nur, du kleines Scheißding", schrie ich, "gleich kannst du zeigen, was du wert bist."
Ich öffnete eine neue Flasche und schluckte das Zeug wie Wasser. Dabei starrte ich unentwegt auf die Zehe. So ein hässliches Ding. Ich wusste echt nicht, wie oft ich mir die schon gebrochen hatte, also dreimal mindestens, vermissen würde ich die nicht.
Es knackste, als zerbräche ein dürres Zweiglein, es tat nicht mal besonders weh, und viel Blut kam auch nicht raus. Aber auch sonst geschah nichts. Gar nichts.
„Mona, wo bist du?“, brüllte ich, „Mona, Mona, du verdammtes Miststück!“
Ich pfefferte die Gartenschere in die Spüle, kotzte bei der Gelegenheit noch ein wenig und kroch dann wimmernd ins Wohnzimmer aufs Sofa. Ich zog mir den Mantel über den Kopf.

***​

Gut eine Woche brauchte ich, um nach diesem Irrsinn wieder halbwegs auf die Beine zu kommen. Eine große Hilfe dabei war mir das Wetter. Seit jener Nacht im Henriques hatte es beinahe drei Tage ununterbrochen geschneit, im Radio hieß es, so was habe es seit fünfzig Jahren nicht mehr gegeben, kurzum, sie bezeichneten als Schneechaos und Katastrophenwinter, was in Wahrheit nur Ruhe, Friede und pure Schönheit war. Stundenlang stapfte ich durch tiefverschneite Vorortestraßen und es gelang mir, dabei nicht allzu viel nachzudenken. In den Bergstiefeln war der Verlust der Zehe kaum zu spüren und wenn sich bisweilen doch der Schmerz meldete, biss ich mir auf die Zunge und versuchte, ihn als eine Art angemessene Buße für meine Wahnsinnstat zu begreifen.
Das gleißende Weiß schien meinen Kopf und meine Seele zu reinigen und am dritten Tag schaffte ich es tatsächlich, den Flachmann zu Hause zu lassen. Nach einer siebenstündigen Wanderung durch die Weinberge am Stadtrand kehrte ich heim, kochte mir einen Topf Hühnersuppe und schlief anschließend zwölf Stunden am Stück. Am nächsten Morgen würdigte ich den Flachmann keines Blickes und rannte wieder los. Ich glaubte ernsthaft, einen Wendepunkt in meinem Leben erreichen zu können, zumal ich mir eingestehen musste, während des ziellosen Marschierens weit öfter an Uli zu denken, als an Mona. Sollte das Opfern der Zehe gar meine Katharsis gewesen sein? War ich doch noch nicht verloren?

Eines Abends, ich war gerade dabei, mir tapfer eine Kanne Tee zu brühen, beschloss ich, Uli anzurufen.
Der graue Mantel lag seit Tagen zusammengeknüllt in einer Ecke des Vorzimmers und wartete darauf, in die Reinigung gebracht zu werden. Ich bückte mich und begann, in den Taschen nach dem Zettel mit Ulis Nummer zu suchen. Ich fühlte mich prächtig und fast wünschte ich mir, ihn nicht zu finden. Das würde die ganze Sache noch spannender machen, ich malte mir aus, wo ich meine Suche nach Uli begänne. Heinrich wäre mir vermutlich keine große Hilfe, auf jeden Fall aber könnte ich beim Pfarrer von Sankt Lucrezia nachfragen. In Wahrheit, musste ich mir eingestehen, wusste ich beinahe nichts von Uli.
Die Innentaschen waren leer. Aus der rechten Außentasche fischte ich eine zerknüllte Zigarettenpackung und ein Feuerzeug, Pfefferminzdrops und ein paar Münzen, aber keine Telefonnummer. Blieb noch die linke. Ich steckte die Hand rein und ein Schmerz durchzuckte meinen Daumen.
„Herrgott nochmal, nicht schon wieder!“
Mona kicherte. „Wenn ich gewusst hätte, dass du sogar zum Apfelschälen zu dämlich bist, also ich weiß nicht, ob ich mich dann auch in dich verliebt hätte.“
„He, das ist nicht lustig, Mona. Verdammt, ich blute.“
„Verdammt, er blutet! Hilfe! Hilfe!“, rief Mona und schlang lachend die Arme um mich. Ihr gelbes Sommerkleidchen zwischen uns war so gut wie nichts.
„Mein kleiner Tollpatsch, ich liebe dich so sehr“, flüsterte sie mir ins Ohr und Ihr Unterleib drängte sich an mich und das fühlte sich an, als drückte wer einen Gummiball gegen meinen Schenkel, einen Gummiball, der in der Mittagssonne gelegen hatte, in der Sahara.
Ich hockte im Vorzimmer und zitterte am ganzen Körper. Ich war so nüchtern, wie man es nur sein konnte, seit zehn Tagen hatte ich nichts getrunken, nicht einen Tropfen, nicht einmal ein klitzekleines Bier. Nein, ich war nicht besoffen, ich war verrückt. Eindeutig krank im Kopf. Geistesgestört. Vollkommen irre. Schlicht übergeschnappt. An dem Messer in meiner Hand war nichts Außergewöhnliches, ein besseres Küchenmesser, und der Schnitt an meinem Daumen war in Wahrheit ein Witz.
Ich schloss die Augen und stach mir die Messerspitze in den Handballen, nicht sehr fest, ganz behutsam nur und der zarte Geruch von Monas Haar raubte mir fast den Atem, ich drückte fester und spürte Monas Zunge an meinem Ohr und ihre Finger unter meinem Hemd ließen mich erschauern. Ich riss die Augen auf und schleuderte das Messer von mir.
„Das war nicht mal eine Minute, du Arschloch. Das war kein Beweis. Für gar nichts“, wollte ich brüllen, aber was mir über die Lippen kam, war nicht mehr als ein erbärmliches Krächzen. Ich leckte das Blut von der Hand.
„Siehst du? Es funktioniert ja doch. Also mit dem richtigen Werkzeug.“
Ich fuhr herum. Der Dreckskerl aus der Kirche. Kurt Cobain. Der Irre. Mein persönlicher Jack the Ripper. Mein Alptraum. Er lehnte lässig am Türrahmen und grinste mich an.
„Na, Luis, wie geht’s dir so? Das mit deiner Zehe tut mir leid.“
„Verschwinde, du Hurensohn“, wimmerte ich, „du bist gar nicht da.“
„Na ja, wenn du meinst. Und mein Messer bildest du dir vermutlich auch nur ein." Mit der Stiefelspitze schob er das Messer zu mir. "Und das Herummachen mit Mona bildest du dir wohl auch nur ein. Du scheinst mir eine sehr lebhafte Phantasie zu haben, Luis. Was hockst du dann da auf dem Boden und heulst, ha? Kannst du mir das sagen? Bilde dir doch einfach ein tolles, schönes Leben ein, wenn dir das Einbilden eh so leicht fällt, du Schlaumeier.“
„Du verfluchtes Arschloch. Du bist gar nicht da, du bist gar nicht da, du bist gar nicht da ...“, murmelte ich vor mich hin und presste die Hände auf die Ohren.
„In Wahrheit ist doch alles eine Illusion, Luis. Was du für die Wirklichkeit hältst, gibt es in der Form gar nicht. Das ist nicht mehr als ein willkürliches Ergebnis, wenn dein Gehirn versucht, das bescheuerte Herumflitzen von Elementarteilchen zu interpretieren. Ein überwiegend zufälliges Ergebnis. Und der Witz dabei ist, selbst dein Gehirn, oder meinetwegen dein Ich, scheißegal wie du's nennen willst, ist nur eine Chimäre, ...“
„... du bist gar nicht da, du bist gar nicht da ...“
„... weil es ja auch nicht mehr ist als ein nichtdeterminiertes Herumflitzen von Elementarteilchen, nichts als reinste Entropie, besser gesagt, das Bild, das du dir davon zu machen versuchst, also von deinem Gehirn und den Vorgängen darin, na ja, und da wird’s jetzt kompliziert, das ist eine bisschen wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Schrödingers Schlange quasi, wenn du weißt, was ich meine. Egal, was ich sagen will ...“
„Was willst du von mir?“, brüllte ich.
„Kapiere es doch endlich, Luis. Im selben Maß, wie deine, was weiß ich, deine Gehirnzellen, deine Zehen, deine Finger, egal was, Illusion sind, oder lass es mich so sagen, im selben Maß, wie deren Existenz eine beinahe unendlich hohe Unwahrscheinlichkeit hat, ist auch Mona nur eine Unwahrscheinlichkeit unter zahllosen anderen. Und das kann man jetzt in eine ganz einfache Gleichung einsetzen und dann ...“
„... du bist gar nicht da, du bist gar nicht da, du bist gar nicht da ...“
„Verdammt, hörst du mir überhaupt zu? Jessas, manchmal kotzt ihr Spinner mich so richtig an.“
„Was willst du von mir?“, winselte ich.
„Heul nicht, Luis!“, schrie der Irre, „Tu's einfach. Quid pro quo. Dieses für das. Nichts für nichts. Scheiß doch drauf!“
Und im selben Augenblick hörte ich die Musik, anfangs ganz leise, und eine tiefe Ruhe erfasste mich. Ich griff nach dem Messer und starrte auf meine linke Hand, die neben mir auf den Dielen lag, auf diesen wunderschönen Eichenholzdielen, die ich mit Mona vor vielen Jahren aus dem Boden einer stillgelegten Fabrik gerissen hatte, in einer Sommernacht, die so schwül war, dass wir uns während des Schuftens Stück für Stück die Klamotten auszogen, um nicht zu krepieren. Bis wir schließlich fast nackt waren und lachend übereinander herfielen, mit unseren schweißnassen Körpern, unseren glitschigen, heißen Leibern, wie tollwütige Delfine … ich betrachtete die Hand, ich lauschte der Musik, ich war ruhig, ich war nüchtern, ich war vollkommen klar im Kopf.
Die linke Hand. Meine linke Hand ... den Ringfinger konnte ich sowieso vergessen, der ließ sich nach wie vor nicht bewegen, der würde vermutlich steif bleiben. Ich setzte die Klinge an, ganz oben, gleich unter dem Knöchel ...
„Hab keine Angst, Luis, tu es einfach“, hörte ich Mona flüstern.

 
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Gretha schrieb:
So ein "Dings" musst Du für mich nicht schreiben, obwohl, dann könnte ich Dich mal richtig fundiert kritisieren.
Aber was Luis-Trenkeresques macht mich auch immer glücklich. Dies ist doch unsere Schnittstelle.
Stimmt, Gretha, du hast es ja auch mit den Bergen.
Da hab ich übrigens einen wunderbaren Buchtipp für dich. Sind ein paar herrlich schräge Szenen drin, unter anderem ein Beischlaf(versuch) in einem Hängebiwak während einer Big Wall-Begehung. :D

 
Zuletzt bearbeitet:

"Wo haben sie dich denn ausgelassen" oder so ähnlich fragt Luis den Teufel. Muss aber rausgelassen heißen! Ätsch, ein fehlendes R gefunden. Sonst fehlt dem Text nix.
Und wieder sind es die Weiber, die dem Teufel behilflich sind, statt nur den kleinen Finger doch noch die ganze Hand zu bekommen und noch viel mehr, das möchte ich mir gar nicht weiter zusammenfantasieren, armer Luis und arme andere, Bein amputierte, Opfer, aus!
Spannend bis zum letzten Punkt. Die Umgangssprache hat mir besonders gefallen, lieber offshore.
LG Damaris

 

Damaris schrieb:
"Wo haben sie dich denn ausgelassen" oder so ähnlich fragt Luis den Teufel. Muss aber rausgelassen heißen! Ätsch, ein fehlendes R gefunden. Sonst fehlt dem Text nix.
Tja, Damaris, du bist nicht die erste, die diesen Satz bemängelt. Schon bernadette hat ihn mir um die Ohren gehaut:

bernadette schrieb:
"Sag mal, wo haben sie denn dich ausgelassen?“
Das ist mir zu österreicherisch. Das versteht kein Mensch in Deutschland oder der Schweiz.
Tatsächlich ist das bei uns in Wien eine gängige Formulierung: „Wo (im Sinne von: aus welchem Irrenhaus) haben sie denn dich ausgelassen?
Und schon damals habe ich mich geweigert, die Stelle zu verändern. Ich will halt so lange wie möglich jeden Austriazismus bewahren, bevor wir alle eh nur noch seelenloses, uniformes Denglish reden.

Spannend bis zum letzten Punkt. Die Umgangssprache hat mir besonders gefallen, lieber offshore.
Das freut mich wirklich. Vielen Dank, Damaris.


offshore

 

'Schön langsam' sollte ich auch mal was zu der äusserst gelungenen Geschichte sagen, lieber offshore, gell?

Mir haben es nebst dem spannenden Plot (quid pro quo, welches Opfer darfs denn sein?) und der mystischen Nebenrolle der Uli (oder ist sie sogar die Hauptrolle als - wie bereits erwähnter - Katalysators der Lust, wer weiss ...) die "harten Schnitte" zum Preisgeld, sprich hin zu den (Liebes-)Beweisen angetan. Ich schaffte mühelos den Übergang zur schon realen Manifestierung der Wunschgedanken. Einmal Konservieren des Glücksgefühls (as Parfüm) - und wieder zurück. BAMM.
Das hast du fein gemacht, und da es dir ja ein Anliegen ist: JA, bei mir hat's auf jeden Fall funktioniert.

Uli hast du schön eingebaut. Sie kommt mir anfangs als rettender Engel vor, der Luis vom (teuflischen) Alkohol befreit, doch gegen Ende sogar dem nüchternen Luis das krankhafte Festhalten an seiner geliebten Mona nicht austreiben kann. Luis steigert sich zunehmend in die Gewissheit hinein, alles sei nur Illusion, man muss sie sich nur zurechtbiegen. Wie ein lichter Traum oder so, und damit ist er hundert (quid pro) pro auf dem Holzweg.

Zwei kleine Stolperer und dann bin ich auch schon still:

Mein persönlicher Jack the Ripper
Dieser Vergleich bleibt mir suspekt, worauf fundiert hier Luis' Aussage?

„Na, Luis, wie geht’s dir so? Das mit deiner Zehe tut mir leid.“
Meint er da, weil Mona ausblieb, quasi nur 'quid' ohne 'quo'? Oder - ja, eben, wie meinte er das nun?

Also mir stellten sich die Nackenhaare, als ich die Geschichte nach dem Treffen in Wien erneut las, diesmal mit etwas offeneren Augen.
Toll gemacht, wirklich.

Gruss dot

 

dotslash schrieb:
Mein persönlicher Jack the Ripper
Dieser Vergleich bleibt mir suspekt, worauf fundiert hier Luis' Aussage?
Nun ja, das soll sich auf die Szene in der Kirche beziehen, wo der Teufel Luis das Messer durch die Hand rammt. Und Jack the Ripper ist für mich (bzw. für Luis) einfach der Inbegriff schlechthin für Irre, die andere abstechen.

dotslash schrieb:
„Na, Luis, wie geht’s dir so? Das mit deiner Zehe tut mir leid.“
Meint er da, weil Mona ausblieb, quasi nur 'quid' ohne 'quo'? Oder - ja, eben, wie meinte er das nun?

Der Teufel ist natürlich ein zynischer Hund, ein Arschloch. Er hat Luis ja nie explizit darauf hingewiesen, dass die Selbstverstümmelungen nur dann die gewünschte Wirkung zeitigen, wenn sie mit seinem (des Teufels) Messer erfolgen. Und blöderweise hat Luis ja beim ersten Mal die Gartenschere verwendet.
Darauf bezieht sich ja auch das:

„Siehst du? Es funktioniert ja doch. Also mit dem richtigen Werkzeug.“

Soviel zu deinen Fragen, dot. Darüber hinaus freut es mich natürlich ungemein, dass du dir diese Story noch einmal vorgenommen hast, gehört sie doch nicht nur zu den längsten, sondern auch zu den mir persönlich liebsten meiner Geschichten.
Und dass du sie nach dem Wochenende möglicherweise auch mit anderen Augen als beim ersten Mal lesen konntest … nun ja, der Interpretationsmöglichkeiten gibt es zahlreiche. :D

Vielen Dank, dot, für deinen Besuch. (Und das darfst du jetzt ruhig im doppelten Sinn auffassen.)

offshore

 

Hej ernst offshore,

wenn ich die Geschichte schön präsentiert bekomme, dann nehme ich es als Zeichen, sie auch zu lesen.
Sie hat mich sehr gut unterhalten und ich habe nichts mehr auszusetzen.
Dein Protagonist ist rund und 'perfekt', die Szenerie übersichtlich, die Nebendarsteller geben einen guten Rahmen. Ich habe ihn gerne lange leiden sehen, mich auch amüsiert und manchmal mitgefühlt.
Schon hübsch, sich an mysteriösen Zutaten zu bedienen.
Habe ich für mich notiert. Wie so Vieles an deiner Geschichte.;)

(Ein nutzloses Kompliment mehr kann ja nicht schaden, oder?)

Vielen Dank und

freundlicher Gruß, Kanji

 

Kanji schrieb:
Ein nutzloses Kompliment mehr kann ja nicht schaden, oder?

Wie kann ein Kompliment denn nutzlos sein, Kanji?
("Ohr und Geist können müde werden, dasselbe zu hören, das Herz nie." Nicolas Chamfort)

Vielen Dank, Kanji.

offshore

 

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