- Beitritt
- 08.01.2002
- Beiträge
- 5.172
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Wer schläft, sündigt nicht
Manchmal zerfrisst mich der Neid, wenn mein Mann Thomas so friedlich neben mir schlummert.
Seit zwanzig Jahren bin ich nachts nicht mehr vor mir sicher. Bevor ich ins Bett gehe, muss ich mich entscheiden: Entweder nehme ich ein Schlafmittel oder ich schrecke quälend oft aus dem Schlaf hoch.
Wenn ich damals nicht geschlafen hätte, würde Mutter noch leben.
Ich war zwölf Jahre alt und wir lebten in Pirmasens, einer Kleinstadt, deren Bevölkerung zur Hälfte aus dort stationierten Amerikanern bestand. Die Soldaten und die Schuhindustrie waren das wirtschaftliche Rückgrat.
Bis zur Scheidung meiner Eltern führte ich ein glückliches kleines Leben in dieser Stadt, die heute nur noch ein von den Amis und den Schuhfabrikanten lustlos liegengelassener Ort ist.
Meine Mutter war die rechte Hand eines Schuhfabrikanten und zusätzlich führte sie als Schuhmannequin den Kunden die neusten Modelle vor.
Mein Vater hatte sich selbstständig gemacht und anfänglich lief es gut.
Pirmasens, eingebettet in den Pfälzer Wald, entfaltet seinen Reiz erst vor den Stadttoren. Ich liebe die rotfelsigen Wälder, geschichtsträchtigen Burgen und Geheimnisse verbergende Ruinen, die schmalen Landstraßen, die sich durch moosfeuchte Täler schlängeln und ein Stückchen weiter die vielen enggassigen Winzerdörfer der deutschen Weinstraße. Sommertags ist die Pfalz ein laues Lüftchen, das meine Wangen streichelt. Der Herbst riecht nach Tannennadeln, würzigem Laub und in der Weingegend nach Maischesaurem.
Um seine Firma auszubauen, benötigte Vater ein hohes Darlehen. Damals gewährten die Banken noch Kredite, ohne nennenswerte Sicherheiten zu fordern. Es reichte aus, dass seine Ehefrau bürgte.
Vater wirtschaftete seine Firma in den Konkurs und zeitgleich seine Ehe. Er ging fremd und mit seiner neuen Gefährtin plante er ein künftiges Leben, in dem Arbeit keinen Platz mehr hatte.
Es folgte die Scheidung und die Bank verlangte von meiner Mutter die Erfüllung der Bürgschaft. Von einem Tag auf den anderen war sie bis an ihr Lebensende verschuldet, denn es gab damals noch nicht die Möglichkeit der Privatinsolvenz. Mit ihr wäre Mutter in sieben Jahren von allem erlöst gewesen.
So reichte ihr Einkommen gerade für uns beide und geringe Bankraten, die niemals eine Tilgung des gesamten Kredits herbeigeführt hätten.
Über meiner Mutter schlugen haushohe Wellen zusammen.
Wir zogen in eine kleine Dienstwohnung im obersten Stock der Schuhfabrik. Die Wohnung lag in der Nähe des Marktplatzes und der Lärm der parkplatzsuchenden Autos, die immer wieder den Häuserblock umkurvten, quoll bis zu uns hinauf.
Ich musste Kater Tom zurücklassen. Er war es gewöhnt, gleich aus der Wohnung über die Terrasse zu stürmen, um sich tagsüber, während ich in der Schule war, die Zeit in Feld und Flur zu vertreiben. Den Nachmittag verbrachten wir dann zusammen. Ich brauchte Wochen, bis ich mich endlich daran gewöhnt hatte, meine Schulaufgaben ohne seine Anwesenheit zu machen.
In der Schule, ich war eine mittelmäßige unauffällige Schülerin, verschlechterte ich mich in allen Noten. Die Mitschüler hänselten mich.
„Weißt du eigentlich, dass dein Vater ein Säufer ist? Wir haben ihn am Sonntagnachmittag durch eine Gasse in Hauenstein torkeln gesehen.“ Ich schämte mich für meinen Vater und wusste nichts auf solche Anschuldigungen zu erwidern. Ich wusste ja noch nicht einmal, wo er jetzt wohnte.
Meiner Mutter hatte man ebenfalls brühwarm von meinem Vater berichtet. In Pirmasens blieb Material zum Tratschen nicht lange verborgen.
Irgendwann fing Mutter an, sonderbare Dinge zu erleben.
„Vorhin ist mir ein Wagen bis vor die Haustür gefolgt“, berichtete sie zum Beispiel. Oder sie empörte sich: „Da ist ein Mann, der schaut immerzu zu uns rauf. In letzter Zeit ruft auch laufend jemand an, legt aber sofort wieder auf.“
Das waren normale harmlose Geschehnisse, die bei mir nur ein Achselzucken hervorriefen.
Aber ihre Erlebnisse verdichteten sich zusehends und nahmen größere Dimensionen an. Gegen Abend ging Mutter unzählige Male an die Wohnungstür und prüfte, ob sie abgeschlossen war. Vom Balkon unserer Wohnung konnte man zu zwei Seiten auf Straßen herunterblicken. Auch hier vergewisserte sich Mutter permanent, ob nicht jemand unten stand und zu uns hochschaute.
„Da steht ein Mann schon eine geschlagene halbe Stunde im Häusereingang im Halbdunkel“, flüsterte sie eines Abends.
„Na und?“, sagte ich schnippisch, „der wartet bestimmt auf jemanden.“
"Nein, der wartet auf eine gute Gelegenheit, bei uns einzubrechen. Wir müssen achtsam sein.“
Aus den Sätzen zum Achselzucken wurden solche zum Kopfschütteln und am Ende wurden daraus Sätze, die mich aufhorchen ließen.
„Wenn es klingelt, dann machen wir nicht auf. Hörst du? Wir gehen nicht an die Tür. Da unten sind zwei schwarzgekleidete Männer, die mir gefolgt sind.“
„Weshalb sind die dir gefolgt?“
„Sie wollen das Geld.“
„Welches Geld denn?“
„Das, das ich der Bank schulde.“
„Aber da schicken die doch nicht zwei Männer hierher zum Kassieren, Mutti. Du zahlst doch die vereinbarten Raten pünktlich.“
„Nein, das zählt nicht mehr. Sie wollen das ganze Geld. Ihre zu allem entschlossenen Gesichter, ich habe sie gesehen. Mein Gott, ich habe aber das Geld nicht.“ Mutter pendelte unstet zwischen Küche und Wohnzimmer. Dann klingelte es an der Haustür.
Panisch packte sie mich, schob mich in das fensterlose Bad, wo wir still bei abgeschlossener Tür verharrten. Es schellte ein zweites Mal.
„Oh Gott, sie werden jetzt die Tür einschlagen.“
Aber es brach keiner die Tür auf. Statt dessen klingelte das Telefon alle halbe Stunde, während wir immer noch hinter der Badtür kauerten.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und befreite mich, um ans Telefon zu gelangen.
Die Anruferin war meine Oma. „Kind, wo steckt ihr denn? Ich habe euch vorhin besucht und mehrfach geklingelt. Ihr wart nicht zu Hause, nicht wahr?“
Ein paar Tage später passierte es. Etwas hatte mich nachts geweckt. Ich stieg aus dem Bett und ging in Mutters Zimmer. Ihr Bett war leer. Auch in den anderen Räumen war sie nicht. Dann fand ich sie auf dem Balkon.
Sie hockte auf der gemauerten Balkonbrüstung, bereit zum Absprung.
Sanft zog ich sie herunter. Sie ließ es geschehen und bekam weder meine zitternden Hände noch meine Tränen.
Ich holte Hilfe. Onkel Georg, der Bruder meiner Mutter, brachte sie zum Arzt. Und der wies sie in Klingenmünster ein. Kein alteingesessener Pirmasenser hätte jemals das Wort Irrenanstalt benutzt, es reichte Klingenmünster zu sagen.
Die Hänseleien in der Schule nahmen zu. Jetzt hatte ich einen Säufervater und eine verrückte Mutter und meine Versetzung war gefährdet.
Zusammen mit Oma besuchte ich Mutter jede Woche in Klingenmünster. Mutter wirkte normal. Sie hätte doch längst gesund sein müssen. Aber man entließ sie monatelang nicht.
Als man es doch schließlich tat, wurde ich zu ihrer Bewacherin. Wie ein Seismograph registrierte ich jede noch so winzige Veränderung in ihrem Verhalten. Ich konnte nachts meine Augen nicht schließen, weil meine Sorge, dass sie erneut auf der Balkonbrüstung hocken könnte, sich nicht schlafen legen wollte.
Auch tagsüber, wenn ich Mutter sicher an ihrem Arbeitsplatz wusste, blieb meine Unruhe. Der Gedanke, sie könnte erneut diese Wahnvorstellungen entwickeln, schob sich überall wie ein Keil dazwischen. Ich kam oft so übermüdet in die Schule, dass mein Verhalten meiner Klassenlehrerin auffiel.
Zusammen mit meiner Mutter, überlegte sie einen Weg, mir mehr Ruhe und Schlaf zu verschaffen.
Und so kam meine Oma zu uns in die Wohnung, um nachts aufzupassen.
Oma litt seit Jahren an einer krankhaften Schläfrigkeit. Sobald sie auf einem Stuhl oder Sofa saß, fielen ihr unvermittelt die Augen zu, der Kopf kippte vornüber und sie schlief fest mit vor der Brust verschränkten Armen. Kein Lärm konnte sie dann wecken. Ausgerechnet Oma sollte also Mutti nachts bewachen, damit ich schlafen konnte.
Ich wusste, dass Oma keine Chance gegen den Schlaf hatte.
Und doch schlief ich ein.
Die Nebelschwaden der Sinnestäuschung zogen bald erneut durch Mutters Gehirn. Eines Nachts geriet sie wieder in den Strudel der Todesangst vor ihren Verfolgern. Sie muss geglaubt haben, sie könne sich nur von ihren Höllenqualen der Angst befreien, wenn sie sich vom Balkon stürzt. Während Oma weggenickt war und ich tief schlief, sprang Mutti hinunter.
Passanten fanden sie leblos auf dem Pflaster liegend. Ihre Hüfte war auf unnatürliche Weise verdreht.
An einem schwüldrückenden Sommertag beerdigten wir Mutter auf dem Waldfriedhof.
Ich wurde umarmt, man drückte mir mitleidsvoll die Hand und salbaderte Kondolenzen.
Ich hätte am liebsten geschrien:
„Sagt es doch endlich! Klagt mich endlich an. Ich habe meine Mutter im Stich gelassen.“
Aber sie straften mich viel schlimmer. Sie schwiegen.
Die Blumenkränze waren noch nicht verwelkt, als die Bank mich als Alleinerbin meiner Mutter für die Schulden in Anspruch nahm. Ich musste also das Erbe ausschlagen, um mich davon zu befreien. Onkel Georg verkaufte Mutters Golf und gab der Bank den Erlös.
„Was müssen wir denn noch alles der Bank geben?“, fragte ich ihn.
„Das weiß ich auch nicht so genau. Wir fragen die bei der Bank einfach.“
Das taten wir.
„Das Girokonto mit dem kleinen Guthaben haben wir bereits aufgelöst“, sagte ein graumelierter Bankangestellter, der immerzu auf seine goldene Armbanduhr blickte.
„Aber Ihre Mutter wird doch sicherlich Schmuck gehabt haben, vielleicht auch wertvolle Sammlungen, Porzellan, einen Pelzmantel und so weiter.“
Wir trugen Mutters Schmuck und einen kleinen Fotoapparat zur Bank.
In der Schatulle befand sich auch der Turmalinring.
„Der ist so grün wie deine Augen. Darf ich ihn auch mal tragen?“
Mutti lacht: „Ja, aber nur heute Nachmittag und nur in der Wohnung und verlier ihn bloß nicht.“
Vor dem Spiegel im Flur schlüpfte ich damals in Muttis für mich viel zu große Schuhe und spreizte geziert meine beringte Hand.
Ich werde immer noch wütend wegen des Bankangestellten. Zwanzig Jahre später fallen mir die richtigen Worte ein. Ich sehe ihn vor mir, wenn ich in kaltem Ton frage: „Und wie sieht es mit den Goldfüllungen aus? Mutter hat drei große goldene Plomben.“
Mein Vater kam damals, um mich zu sich zu holen. Ich sitze in seinem Auto.
„Lisbeth hat dir ein kleines Zimmer hergerichtet.“
„Ist Lisbeth deine Freundin?“
„Sie ist meine Frau. September bekommen wir einen Sohn.“
„Und wo wohnt ihr?“
„Am Ortsrand von Hauenstein, da haben wir eine kleine Gaststätte gepachtet.“
„Und wie komm ich jeden Tag von dort nach Pirmasens zur Schule? Da brauche ich ja unendlich mehr Zeit.“
„Beklag dich gefälligst nicht bei mir! Was bringt sich deine Mutter auch um.“
Und ich schwieg voller Scham.