Mitglied
- Beitritt
- 15.02.2003
- Beiträge
- 434
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 29
Wenn sie schläft
Sie liegt mitten auf dem Teppich und sieht im Grunde ziemlich tot aus.
Ich gehe zu ihr hin und lege mein Ohr an ihr Gesicht, um festzustellen, ob sie wirklich tot ist oder ob sie wieder nur so tut.
Das macht sie öfters. Sie rollt sich irgendwo zusammen und hält die Luft an, sobald ich meinen Fuß ins Zimmer setze.
Manchmal hat sie sich außerdem noch Ketchup an den Hals geschmiert, damit das Totsein echter wirkt. Auch die Hände besudelt sie sich mit der roten Pampe. Das hat nichts zu tun mit Borderline.
Eher schon mit einem Faible für Dramatik.
Ich ignoriere sie dann einfach. Früher oder später muss sie sich das abgewöhnen.
Am Ende stehen wir ja doch jedesmal im Badezimmer und ich helfe ihr dabei, das ganze Ketchup wieder abzuwaschen. Das ist eine Menge Arbeit, besonders wenn sie weiße Sachen angezogen hat.
Sie mit ihrem Weiß. In weißen Kleidern will sie sterben. Wie die Puppe eines Schmetterlings.
Und wenn ich andeute, dass sich Schwarz doch viel leichter waschen lässt, kontert sie: Das ist mir scheißegal, ich bin doch dann längst tot.
Wir spielen großes Drama. Das nimmt der Wirklichkeit den Schrecken.
Das Wohnzimmerfenster steht noch offen und der Wind wirft haufenweise Schnee herein. Er sammelt sich auf dem Teppich vor der Heizung, bleibt kurz liegen und schmilzt dann weg wie eine Botschaft, die sich nach dem Lesen selbst vernichtet. Beim Darüberlaufen macht der Teppich ein schmatzendes Geräusch, als könne man jeden Moment in ihm versinken. Einfach so.
Das Wasser hat den Teppich aufgeweicht, vielleicht beginnt er schon zu schimmeln. Es riecht nach Tod und nassen Tieren. Trotzdem bücke ich mich, um die Flocken einzusammeln. Ich hebe sie auf und werfe sie zum Fenster raus, wo sie ja auch hergekommen sind. Ich mag diese Art von Arbeit: Dinge retten, die nicht mehr zu retten sind. Sachen tun, die ziemlich sinnlos scheinen.
Meine Hand formt eine Schaufel, die sich durch den Matsch auf unserm Teppich gräbt.
Ich muss ein bisschen weinen, höre aber schnell wieder damit auf. Der Teppich ist auch so schon nass genug. Und das Salz in den Tränen ist auch nur gut, wenn Flecken zu entfernen sind. Weil man Orangensaft verschüttet hat, zum Beispiel.
Ich mache das Fenster zu und lege meine Hände auf die Heizung. Es ist ziemlich kalt im Zimmer, ich zittere wie ein kaputter Kaffeeautomat. Ich habe plötzlich Lust, die Heizung zu umarmen. Weil sie mir soviel mütterliche Wärme gibt. Ich glaube, ich habe mich verliebt, gerade eben, in diesen ungeheuer warmen Flachheizkörper.
Beim Umarmen stören nur die vielen Rillen, aber nach ein paar Minuten hat man sich daran gewöhnt. Warm, so warm.
Wenn sie wirklich schläft, dann wacht sie irgendwann schon wieder auf. Ich werde sie nicht wecken. Sie soll ruhig da liegen bleiben. So macht sie zumindest keinen Ärger. Hoffentlich träumt sie nicht besonders gut.
Ich gehe in die Küche und hole mir einen Joghurt mit Erdbeergeschmack. Ich setze mich auf einen Stuhl nahe bei der Heizung und sehe ihr beim Schlafen zu. Ich denke: Wenn mir jetzt der Joghurtbecher runterfällt, werde ich wohl besser doch ein bisschen weinen. Für die Flecken auf dem Teppich.
Einfach so zum Spaß stehe ich nach einer Weile auf und schaue, ob sie immer noch nicht tot ist. Ich krieche auf sie zu und lege immer wieder kleine Pausen ein, um mit angehaltener Luft zu lauschen.
Aber erst als mein Ohr fast an ihre Nase stößt, kann ich sie leise atmen hören. Ich wusste gar nicht, das man so leise atmen kann. Wie eine Maus, wie ein Marienkäfer, wenn Marienkäfer atmen würden.
Ihr Gesicht ist heute nackt und also völlig ungeschminkt. Vielleicht irgendeine neue Masche. Normalerweise trägt sie nämlich immer Schminke auf, bevor sie stirbt. Sie lässt davor noch Wasser über ihre Augen laufen. Das sieht dann aus wie Tränen. Ein ganz, ganz alter Trick.
Sie scheint ziemlich tief zu schlafen. Ich tippe sie mit meinem Fuß an, ganz sachte, aber sie wacht davon nicht auf.
Ich nehme Anlauf und springe elegant über sie hinweg wie ein Hürdenläufer über eine Hürde. Ich bin sehr lange in der Luft, jedenfalls kommt es mir so vor, und als ich mich genau über ihr befinde, kommt mir ein alberner Gedanke: Es gibt doch sicher Tote, die noch ein bisschen atmen.
Ich versuche, mir vorzustellen, wie das wäre, ohne sie. Ich müsste morgens nur noch halb soviele Brötchen kaufen. Dafür wesentlich mehr Taschentücher, in der ersten Zeit zumindest. Ich müsste das Licht anknipsen, wenn ich abends in die Wohnung komme. Niemand wäre da. Ich würde mir wohl einen Goldfisch kaufen. Und viel Radio hören. Sender, auf denen nur geredet wird. Ich würde das Telefonbuch durcharbeiten und mir die Anrufbeantworter fremder Leute anhören, auf der Suche nach einer Stimme, die so ähnlich klingt wie ihre.
Unsere Beziehung, das ist ein trauriger Haufen unterbelichteter Polaroids:
Ich komme heim und sie sitzt weinend auf dem Boden, in einem dunklen Meer aus abgeschnittenen Haaren. Ich streiche über ihren Kopf und denke an verdorrte Weizenfelder.
Ich komme heim und sie sitzt weinend vor dem einzigen Spiegel, den sie noch nicht zerbrochen hat: Sie hat diesen Tennisschläger in der Hand.
Ich komme heim und sie sagt zu mir: Ich liebe dich, und ich muss lachen, wir müssen beide lachen, wie über einen wirklich grandiosen Witz.
Ich könnte sie auch küssen und schauen, ob sie dadurch aufwacht. Das hätte nichts zu tun mit Märchen. Eher mit natürlichen Reflexen, Synapsen, Nervenzellen usw. Und eigentlich lieben wir uns auch nicht mehr. Nicht mehr richtig, jedenfalls, ich kann leider auch nicht genau sagen, wie es ist.
Wenn ich in den Spiegel sehe, denke ich an Wüsten, Mondlandschaften, Telefonseelsorge. Und ich glaube, ihr geht es da nicht anders. Am Frühstückstisch sind wir so still wie die Leute in den Stummfilmen. Schwarzweißmenschen. Und beide warten wir darauf, dass irgendjemand endlich Schach sagt.
Ich sehe nicht mehr in den Spiegel. Ich denke nicht mehr nach. Ich laufe bis ich müde bin. Wir haben eine große, leere Wohnung. Das ist perfekt, wenn man viel darin herumläuft. Ich laufe vom Wohnzimmer ins Bad, vom Bad ins Esszimmer, ins Schlafzimmer, ins Wohnzimmer und zurück. Und noch einmal, und noch einmal, und noch einmal. Zum Schluss lege ich noch einen kurzen Sprint ein, bis ich in der Tür zum Wohnzimmer zusammenbreche. Es ist still, es ist gut. Und ich werde schlafen, wie irgend so ein Tier, wie ein Kind, ein Blatt, ein Stein.
Ich weiß nicht, wieso sie heute eingeschlafen ist beim Sterben. Vielleicht liegt es irgendwie am Schnee. Oder am Lichteinfall, an den Mondphasen, ihrem Tageshoroskop, wer weiß das schon. Vielleicht war sie auch einfach müde, von dem andauernden Zugrundegehen.
Ich kann sie jetzt nicht auf den Armen ins Schlafzimmer tragen, wie es vielleicht ein Held tun würde. Das hat nichts mit fehlender Kraft zu tun. Eher mit - ich weiß es nicht. Liebe, vielleicht. Ich will die Stille nicht zerbrechen.
Sie soll jetzt einfach weiterschlafen. Solange sie das tut, können wir uns nicht streiten, wir müssen nicht reden und nicht schweigen, atmen reicht vollkommen.
Ich hole eine Decke, mache das Licht aus und lege mich zu ihr auf den Teppich. Das ist weicher als man denkt. Aber man hat nicht zu denken, man legt sich einfach hin. Und wenn man sich nicht viel bewegt, kratzt es auch nicht.
Ich kann sie leise atmen hören, nicht lauter als das Foto eines Fotos einer Frau. Ich lege meine Hand auf ihren Kopf wie es die Wunderheiler tun.
Sie fühlt sich warm an, als hätte sie da eine Heizung in sich drinnen.
Sie wacht nicht auf, auch nicht, als ich noch ein bisschen näher rücke.
Ich rieche immer noch den Schnee, und wenn ich meine Augen öffnen würde, könnte ich die weiße Wand vorm Fenster sehen. Wie eine Bildstörung ohne Rauschen.
Aber ich will jetzt meine Augen gar nicht öffnen, nur daliegen und schlafen und diese Wärme ohne Feuer spüren.
Wir liegen mitten auf dem Teppich und für jemand, der in diesem Moment ins Zimmer käme, sähen wir wohl ziemlich tot aus. Derjenige würde lachen und an irgendwelche Liebesdramen denken. Aber hier geht es nur ums Müdesein.
Ich träume von Marienkäfern. Ich kann sie leise atmen hören, in meinen Träumen funktioniert das wirklich. Sie sagen nichts, sie atmen nur. Sie denken: Alles ist bereits gesagt.