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Wenn die Liebe sterben muss
Ihr brach das Herz. Wieder einmal. Trennungen, warum immer wieder Trennungen? Diesmal war es zwar nur für eine Woche, dennoch hatte sie das Alleinsein gründlich satt.
Sina fuhr aus der Parkgarage des Flughafengebäudes und reihte sich ein in den Berufsverkehr. Ein Blick auf die Uhr – Philipp hatte noch zwanzig Minuten bis zum Abflug. Sina seufzte und fuhr aus der Stadt. Sie sollte sich auf den Verkehr konzentrieren, doch ihre Gedanken gehörten Philipp, immer und jetzt. Er beherrschte ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Welt. Und nun graute ihr davor, nach Hause zu kommen, in ein leeres Haus, zwischen dessen Wänden Philipps Atem längst erkaltet war. Wie sollte sie die Woche ohne ihn nur überstehen?
Sina seufzte erneut, als sie in die Garage fuhr, ausstieg und auf das Haus zuging. Das Geräusch des Schlüssels, der ihr gemeinsames Leben aufschloss, klang künstlich und hohl. Jedes Mal, wenn Philipp verreist war, fühlte sich Sina wie in einer Zeitblase gefangen, die sie vom wirklichen Leben abschottete und in der sie die Wartezeit bis zu Philipps Rückkehr nur abstotterte; betäubt in ihrer Lebendigkeit.
Sie hatte ihn schon oft gebeten, sich endlich einen Job zu suchen, bei dem er nicht ständig verreisen musste. Ob Hamburg oder zum Nordpol machte für Sinas Gefühlswelt keinen Unterschied. Philipp war weg, und in dieser Zeit lebte Sina nicht, sie existierte nur, strebte auf den einen Augenblick zu, an dem sie sich wieder komplett fühlen konnte.
Bewaffnet mit warmen Socken und ihrer Jogginghose versuchte Sina, es sich mit einem Glas Wein vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Die hereinbrechende Dunkelheit drückte gegen die Fenster, die Stille des Alleinseins gegen ihr Trommelfell. Ihre Augen verfolgten die Nachrichten im Fernseher, doch die Bedeutung dessen, was sie sah, erreichte ihr Bewusstsein nicht. Philipp war inzwischen sicher schon gelandet und Sina wartete auf seinen Anruf, dass alles gut gegangen war. Noch sechs Tage, bis er zurückkommen würde, sechs lange Tage: Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag ...
„– und stürzte kurz nach dem Start über unbewohntem Gebiet ab. Der Airbus A320 von München nach Hamburg war nach Angaben der Fluggesellschaft mit 173 Passagieren besetzt, davon sieben Besatzungsmitglieder. Alle Passagiere kamen bei dem Unglück ums Leben. Wodurch die Explosion an Bord ausgelöst wurde, ist derzeit noch unklar, ein Bombenattentat wird jedoch nicht ausgeschlossen ...“
Sina erstarrte, bevor sie schlucken konnte. Sie sah Bilder von verkohlten Trümmern, aus denen vereinzelte Rauchfahnen aufstiegen wie die Seelen vergangener Leben. Behutsam stellte sie ihr Weinglas auf dem Wohnzimmertisch ab, als ob sie durch eine unbedachte Bewegung den schützenden Schleier zwischen Wahrheit und Unmöglichkeit zerreißen könnte. Dann lehnte sie sich vorsichtig zurück und verfolgte weiter die Nachrichten, ohne diese aufzunehmen. Ihr Körper war taub, unfähig, zu reagieren aufgrund des Schocks, der ihre Adern durchpulste, während der Nachrichtensprecher zu weiteren Themen überging. Doch Sina musste sich ihrem Albtraum stellen. Sie konnte ihn nicht ungeschehen machen, indem sie einfach die sich auftürmenden Sekunden wegatmete.
Philipp.
Philipps Flugzeug war abgestürzt. Sina fing an zu zittern. Erst ganz harmlos, doch das Zittern nahm zu, je mehr sich die Tragweite dieses Unglücks in ihr Innerstes biss, jede Sekunde ein bisschen mehr.
Philipp.
Philipp war abgestürzt, keine Überlebenden, alle tot, kein Philipp mehr, kein Abholen am Flughafen, keine Umarmung, kein Kuss, keine Zukunft mehr, nie mehr. Nie mehr Philipps Stimme, Philipps Geruch, Philipps Berührung, nie mehr. Unmöglich, unvorstellbar, unüberlebbar.
Sina wurde schlecht. Sie stürzte ins Badezimmer und schaffte es gerade noch, sich über die Wanne zu beugen, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.
Als sie wieder zu sich kam, wunderte sie sich, warum sie zitternd auf dem Badezimmerboden lag. Doch die gnädige Unwissenheit war schlagartig vorbei, und Sina stand ihrem Albtraum wieder viel zu schnell gegenüber.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Sina erschrak, doch entgegen jeglicher Vernunft hoffte sie. Hoffte, dass es Philipp war, der das Flugzeug verpasst hatte, dem plötzlich so übel geworden war, dass er nicht einsteigen konnte, der seine wichtigen Geschäftsunterlagen zuhause vergessen hatte, der eine Vorahnung gehabt hatte und deshalb nicht eingestiegen war, der ...
Fast euphorisch stand Sina auf und ging zitternd auf das Telefon zu. Wenn sie jetzt nicht schnell genug abheben würde, würde sie Philipp verpassen. Sie nahm den Hörer auf.
„Philipp?“, fragte sie zögernd – Stille.
Dann: „Hallo Schatz. Ich wollte dir nur sagen, dass ich gut gelandet bin und mich jetzt auf den Weg ins Hotel mache, okay?“
Sina spürte die Tränen nicht, die ihr über das Gesicht liefen. Den Rotz in ihrem Hals schluckte sie zusammen mit dem Kloß hinunter, der ihre Stimme nicht durchlassen wollte. „Philipp! Du lebst!“ Sie sank auf das Sofa, während sie sich über die kalte Stirn fuhr.
Philipps Lachen klang unsicher. „Ja, aber natürlich Schatz. Was sollte ich denn sonst tun!“
„Oh Gott! Du weißt ja nicht, was ich gerade durchgemacht habe. Ich habe geglaubt, du bist tot!“
„Aber warum sollte ich denn tot sein? Was ist denn los?“, fragte er. Sein misstrauischer Unterton entging ihr.
„Dein Flugzeug ist abgestürzt. Ich bin so froh, dass du nicht drin gesessen bist, dass du lebst! Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin!“ Sie holte schluchzend Luft. Fast hätte sie gelacht, als ihr auffiel, dass keine Antwort kam. „Philipp? Bist du noch dran? Wo bist du?“
Stille.
„Philipp! Was ist los?“ Sina wollte schon wieder in Panik ausbrechen, als ihr bewusst wurde, was Philipp vorher gesagt hatte. Sie setzte sich auf. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie den Sinn darin erkannte, und ihr wurde kalt. „Du bist gut gelandet? Du gehst jetzt ins Hotel? Du bist geflogen? Mit einer Maschine die abgestürzt ist, ohne Überlebende?“, fragte sie gedehnt. Für die nächste Erkenntnis brauchte sie einen Augenblick. „Du bist nicht in Hamburg. Du bist gar nicht geflogen. Du hast es gar nicht gewusst, oder? Dass deine Maschine abgestürzt ist?“ Sie konnte Philipp atmen hören. „Du hast noch keine Nachrichten geschaut. Du warst anderweitig beschäftigt!“ Mit jedem Satz, den sie aussprach wurde die Wirklichkeit auf eine andere Weise grausamer als noch Minuten zuvor. Trotzdem tat sie nicht weniger weh.
„Wo.Bist.Du.“
In der Leitung klickte es.
Philipp drehte sich zu Monika um, die noch auf dem Bett lag. „Liebling, ich glaube, wir sind gerade aufgeflogen.“