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Thema des Monats Weil die Welt klein und grausam ist

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17.10.2006
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Weil die Welt klein und grausam ist

Es ist kurz vor zwei, als mein Bruder anruft. Während wir sprechen, sehe ich aus dem Fenster. Dort ist nichts, außer dröger Sonntag. Thomas erzählt mir, dass er sich ein wenig verspäten wird. Dagegen habe ich nichts. Am liebsten würde ich mir den Hörer so lange gegen das Ohr donnern, bis ich entweder taub oder wenigstens ohnmächtig werde, aber das würde meinen Bruder nur verwirren, deswegen entschließe ich mich, noch ein bisschen Konversation zu betreiben, und ich erzähle ihm von Vanessa.

Vanessa ist neu und schnell erklärt. Sie studiert irgendein medizinisches Fachgebiet und ich treffe sie bereits seit vier Monaten. Wir sind inzwischen so etwas wie Freunde geworden. Dieser Schritt ist wichtig für das weitere Vorgehen. Ja, sage ich, wir können mit der zweiten Phase weitermachen.
Kennen gelernt habe ich sie über ein Internetforum für Magersüchtige, als purge_princess001. Magersüchtig ist sie nicht, sondern einfach nur neugierig – sie betreibt dort irgendwelche Recherchen. Ich finde solche Plattformen irre spannend.
„Natürlich ist sie dein Typ“, sage ich. Diese Aussage hat einen rein prophylaktischen Charakter, aber für gewöhnlich reicht sie aus, um einen Themenwechsel zu provozieren. Darüber hinaus ist sie allerdings sinnlos; mein Bruder ist nicht wählerisch, war es nie.
Genau das hat er mir voraus.
„Hast du was von Vater gehört?“ sagt er.
Im Laufe unseres Gespräches fängt mein Bruder an zu weinen. Diese manischen Phasen sind Überbleibsel aus den Mittzwanzigern; zu dieser Zeit war er verheiratet, aufstrebend und das, was man allgemein als normal definiert. Doch irgendwo zwischen beruflichem Erfolg und zwischenmenschlichem Scheitern kam dann der Bruch. Solche Vorgänge müssen wohl kompliziert sein.
Ich spreche ihm Mut zu und versichere ihm, dass alles in Ordnung ist. Alles geht seinen Gang. Du bist nicht schuld. Mach dir keine Sorgen. Sein Weinkrampf geht in einen Lachanfall über, danach folgt eine Art von heuchlerischer Ruhe, die ich verabscheue. Ganz sicher hat er heute schon was gezogen.
„Hast du alles besorgt?“
Ja, sage ich. Heute früh habe ich noch den Rasen gemäht, aber es kommt mir vor, als müsste ich es morgen gleich noch mal machen. Bäume sind nur als Schemen gegen das Sonnenlicht zu erkennen, aber der Rasen nimmt es auf und zieht viel Licht ins Haus. Trotz der Helligkeit und dem Gefühl von Sommer denke ich an den Keller unter mir. Treppe im Flur runter, dann erste Tür links, ein Raum von etwa vierzig Quadratmetern. Es gibt Vorrichtungen zum Fesseln und einen Galgen. Sogar eine Streckbank. Und ganz neu: einen Gynäkologenstuhl, frisches Chirurgenbesteck, OP-Lampen in Kunststoffgehäuse. Alles Anschaffungen für unseren neuen, abendfüllenden Spielfilm. Seinen Film.
Thomas wird jetzt so ruhig, dass ich im Hintergrund Verkehrsgeräusche hören kann.
„Wann?“ sagt er dann noch.
„Gegen acht. Und du?“
Aufgelegt.

Die nächsten Stunden liege ich in absoluter Stille auf dem Sofa im Wohnzimmer. An der Decke sind erste Schatten zu sehen; es dämmert. Die Gedanken an den heutigen Abend bringen mich an den Rand einer Depression, aber meine antrainierten Abwehrmechanismen arbeiten mit stoischer Routine. Meine Gedanken sind im Badezimmer, bei den Rasierklingen im Spiegelschrank. Nicht heute. Ich bin feige, dass weiß ich, aber auch damit kann man sich arrangieren.
Ich schenke mir ein halbes Glas Whiskey ein. Pur. Sofort fühle ich mich besser.
Mein Blick geht ziellos durch den Raum, bleibt an dem Holzkreuz hängen, das unsere Mutter vor zehn Jahren dort hingehängt hat. Ein dürres Gerippe ist dran genagelt. Lose Umrisse nisten sich in meinem Kopf ein, die Ahnung eines großen Ganzen hinter dem, was sowieso niemand versteht. Alles steht in chaotischen Gegensätzen; die Fragmente ziehen sich nicht an, sondern stoßen sich ab. Auf der Ebene, auf der Leute wie wir uns bewegen, ist das Wort Mensch ohne greifbaren Inhalt; möglicherweise haben wir an einem Punkt unser Schicksal doch selbst gewählt. Dieser Gedanke ist unerträglich. Und dennoch; es gibt einen Ausweg.

Vanessa und Thomas sitzen im Wohnzimmer am Esstisch und betreiben planmäßige Annährung. Ich stehe in der Küche und tue das, was ich meiner Meinung nach am besten kann: ich koche. Heute abend wird es Garnelen mit Rosmarienkartoffeln geben, dazu einen gemischten Salat. Und irgendwo habe ich auch noch eine Flasche Weißwein rumstehen. Es riecht nach Olivenöl, alle meine Sinne sind hellwach.
Sie lacht über einen seiner Witze. Mein Bruder hat im Laufe der Jahre die Technik der Tarnung kultiviert. Im Grunde erzählt er die Lebensgeschichte unseres Vaters nach; nein, er wird zu unserem Vater. Er hat das gleiche Lächeln und den gleichen Sprachduktus. Er hat auch seinen gottgegebenen Charme, woher allerdings der Rest kommt, kann ich nicht sagen. Das ist wahrscheinlich alles nur ein riesiges Missverständnis. Das Gerippe am Kreuz schweigt sich dazu aus.
Diese ganze Inszenierung gehört zum Plan, zum Gesamtkunstwerk, wie mein Bruder es nennt. Wir könnten die ganze Sache auch anders durchziehen, aber er will es eben so haben.
Der weitere Ablauf sieht vor, solange Konversation zu betreiben, bis sie einschläft; ich habe ihren Cocktail mit einer soliden Dosis Schlafmittel vermischt. Nach diesem Teil werden wir sie nach unten schaffen, wo es dann zur vorletzten Etappe geht. Wie die sich dann gestaltet, hängt ganz von der Form und der Kreativität meines Bruders ab. In der Regel dauern die Dreharbeiten aber nie länger als zwei Stunden.
Die Beseitigung ihrer Leiche wird das geringste Problem sein; es hat Vorteile, wenn die Eltern im Geld schwimmen.

„Wusstet ihr, dass es mehr HIV kontaminierte Blutkonserven gibt, als bekannt gemacht wird?“
Ich schüttele den Kopf und esse weiter. Thomas beugt sich rüber und macht sein erzähl mir mehr Gesicht. Um seine Augen bilden sich Fältchen.
„Das liegt daran, dass immer mehr Blut aus dritte Welt Ländern verwendet wird“, sagt sie.
Thomas bekommt einen kleinen Lachanfall, beruhigt sich aber schnell wieder. Vanessa prostet mir zu, ihre Schultern sehen unter ihrem hauchdünnen Abendkleid atemberaubend aus. Es ist eine schöne Geste, aber ich kann nur daran denken, meinem Bruder die Gabel in den Hals zu rammen.
„Kannst du mir ein paar davon organisieren? Ich habe noch eine Rechnung mit meinem Steuerberater offen.“
„Vielleicht.“
Sie schiebt sich eine Garnele in den Mund. Die Art, mit der sie es tut, erinnert mich an etwas; so langsam wird es Zeit für den Schlafcocktail.
„Eigentlich stehe ich nicht auf Fisch. Mein Vater ist Fleischimporteur, ich bin gewissermaßen damit aufgewachsen“, sagt sie.
„Von wo importiert er?“
„Von überall her. Hauptsächlich Südamerika. Manchmal auch aus Europa. England.“
„Du bist doch in Südamerika gewesen, oder?“
„Ja. Bevor ich anfing, klinische Chemie zu studieren, wollte ich Ethnologin werden, also habe ich ein Jahr im Urwald verbracht.“
Sie wirkt gelangweilt, also gebe ich auf. Thomas holt ein kleines Tütchen aus seiner Hosentasche und legt es auf den Tisch. Es sind noch ungefähr drei Gramm Kokain drin.
„Nachtisch“, sagt er.
Ich und unser Gast lehnen ab, also zieht er die erste Line allein weg.
Ihr Handy klingelt. Sie geht aus dem Raum, während sie redet. Wahrscheinlich der Kontrollanruf der besten Freundin. Das ist natürlich nichts neues, und ändern wird es auch nichts. Diese Adresse existiert ebenso wenig wie ich.
Thomas wird unruhiger. Die ersten Anzeichen von Erregung machen sich bei ihm bemerkbar. Man erkennt es daran, dass er sich ständig mit der Hand über das Gesicht wischt, oder seinen Handrücken kratzt. Ich habe auch schon drei Gläser Wein weg, und so langsam stellen sich kleine Probleme ein.

Vanessa kommt zurück und trinkt ihr Glas leer. Dieser Moment erfährt eine Art Zeitraffer. Auf diesem Platz saß noch vor Wochen eine andere. Davor noch eine andere, davor noch eine andere, und davor noch...
„Wusstet ihr, dass es einen Urstamm gibt, der aus dem Fleisch seiner Toten eine biologisch höchst interessante Substanz gewinnt?“
Thomas ist voll und ganz auf seinen Nachtisch fixiert. Ich bin mittlerweile hundemüde. Koks war noch nie mein Fall.
„Anderes Thema. Viel interessanter finde ich, dass ihr heute sterben werdet.“
In meinem Kopf wird ein Hammer gegen einen Gong geschlagen. Alles brüllt, ich sollte jetzt etwas wirklich sinnvolles unternehmen, aber abgesehen davon, dass ich es geschafft habe, von meinem Platz aufzuspringen, erweist sich jeder Versuch, eine organisierte Handlungskette zu vollbringen, als beunruhigend hoffnungslos.
Schritte von überall her. Meine Reaktion hängt um eine Sekunde meiner Wahrnehmung hinterher.

Ich sehe Spiegelungen in den Terrassenfenstern. Menschen die sich bewegen – hinter mir. Aber wie? Ich drehe mich um, sehe gerade noch eine Faust auf mich zufliegen. Ich lande hart auf dem Rücken, starre an die Zimmerdecke. Pfeifen im Ohr. Alles ist ein Rauschen.
Hände greifen zu, zerren mich unter eine Glocke aus Gekreische und Gebrüll. Nackte Körper tanzen und springen. Schemen von Gesichtern. In dem Chaos kann ich meinen Bruder weder sehen, noch hören. Ich werde quer durch das Zimmer gestoßen, stolpere in den Flur. Ich bin zwischen unzähligen Körpern eingekeilt, Hände grabschen, zerren, reißen. Alle kreischen mir mindestens einmal ins Ohr. Dann plötzlich Stop. Ich erkenne unseren Gast in der Menge. Einige bewegen sich zur Seite, um Platz zu machen. Ein nackter, blonder Mann kommt aus Richtung Kellertür; sein Schwanz ist riesig, er hat die Muskulatur eines Schwergewichtsboxers. Soweit ich es sehen kann, ist er nirgendwo tätowiert.
Er nimmt Vanessa – oder wie auch immer dieser Mensch heißt – beiseite und redet mit ihr. Ich kann einen losen Zusammenhang herstellen, aber ich bekomme keinen verwertbaren Gedanken zusammen. Sie macht ein Handzeichen. Dreimal werde ich am Kopf getroffen, ehe ich zu Boden gehe. Zuerst wird alles weiß, milchig und unscharf, dann habe ich das Gefühl, dass mein Hirn in den Magen absackt. Lichtpunkte bilden sich. Und aus. Ich habe gerade noch Zeit, ein paar Füße zu sehen, die hier absolut nichts zu suchen haben.

Grelles Neonlicht blendet mich, als ich wieder zu mir komme. Halbwegs klar im Kopf stelle ich fest, dass ich nicht liege, sondern senkrecht bin; ich stehe. Ganz weit hinten bin ich erleichtert. Bewegen geht allerdings nicht; wahrscheinlich bin ich gefesselt. Der Boden unter meinen Füßen ist kalt.

Das erste klare Bild ist komplex, aber den Inhalt verstehe ich. Vor mir sitzt Thomas entkleidet und ebenfalls gefesselt auf dem Gynäkologenstuhl. Er atmet flach. Über seinem Mund ist ein Streifen Klebeband. Der Tisch mit dem Chirurgenbesteck fällt mir sofort auf. Die Instrumente funkeln. Der Anblick bereitet mir Kopfschmerzen, aber trotzdem bin ich klar genug, um die Ironie der Situation zu begreifen; wir sind in unserem – seinem - Filmset.
Mein Verstand arbeitet schwammig, aber die Szene lässt nur die Schlussfolgerung zu, dass ich einer Operation beiwohnen soll. Das Gewicht dieser Erkenntnis bewirkt, dass ich mir nur eine Frage stellen kann, nämlich die, nach welchen Kriterien hier vorgegangen wurde. Warum ist er dort? Warum stehe ich hier? Ist es verwerflich, dass ich in dieser Lage nur an mich denken kann?
Meine Augen können sich einfach nicht an das Licht gewöhnen, aber ich erahne weiter hinten Silhouetten von Menschen. Ich befinde mich in einem Schwebezustand, der zwischen Angst und einer sonderbaren Erregung hin und her pendelt.
Irgendwo habe ich bei der Planung des heutigen Abends einen fundamentalen Fehler begannen.

Eine Gestalt nähert sich mir. Sie ist es. Ohne Abendkleid. In der Hand hält sie eines der Messer, mit dem man Menschen aufmachen kann. Mein Körper ist eine einzige Missempfindung; gut möglich, dass ich selbst in dieser absurden Lage noch einen Ständer bekomme.

Die Klinge blitzt auf, zieht meinen Blick an.
„Was habt ihr hier unten gemacht?“
Sie stellt die Frage in einem nuancenlosen, neutralen Ton, der aus ihrem Mund sehr ungewöhnlich klingt. Es ist mir nicht möglich, die wahre Intention herauszuhören, also treffe ich eine verwirrte, spontane Entscheidung.
„Wir haben Menschen umgebracht.“
„Warum?“
„Er ist krank.“
„Und du?“
„Ich habe gefilmt.“
„Und mich wolltest du auch filmen?“
„Nein.“
„Wer ist er? Dein bester Freund?“
„Mein Bruder.“
Thomas beginnt sich zu regen. Er schlägt die Augen auf. Als er merkt, in welcher Lage er sich befindet, gerät er in Panik, versucht, sich irgendwie zu befreien. Aber ob er auch wirklich begreift? Niemand reagiert auf ihn.
„Hat er dich gezwungen, ihm zu helfen?“
Niemals, das Gerippe an der Wand kann es bezeugen. „Ja.“
Thomas Bemühungen, von dem Stuhl loszukommen, werden deutlich ehrgeiziger.
Sie schaut zwischen ihm und mir hin und her, als würde sie Möglichkeiten abwägen.
„Es gibt Möglichkeiten“, sagt sie.
Wir schauen uns an. Daran gibt es nichts hypnotisches; hier geht es darum, wach zu bleiben. Hier soll etwas transportiert werden.
Sie bewegt sich langsam von mir weg, geht auf Thomas zu. Hilfesuchend sieht er mich an, wie er es noch nie getan hat; das gibt dem Moment etwas einzigartiges, aber ich weiche aus. Ob er ahnt, was kommen wird?
„Wenn du einen Menschen isst, dann gehen seine Kräfte auf dich über, oder, du vernichtest ihn.“
Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet, also sage ich nichts. Thomas versucht zu schreien – vergeblich. Das einzige, was er mit seinen Bemühungen erreicht, ist, dass sein Kopf aussieht wie heißgekocht.
„Willst du sein Herz?“
Thomas zappelt. Thomas reißt die Augen noch weiter auf. Er hat Todesangst. Irgendwie großartig. Aber es hilft mir nicht dabei, eine Antwort zu finden.
„Willst du sein Herz?“
Sie hebt das Messer. Die Spitze schwebt wenige Zentimeter über der Haut. Sie zeigt direkt nach unten. Thomas fleht mich mit seinen Augen an, etwas zu unternehmen, aber das alles hier liegt außerhalb jeglichen Einflusses.
Ich bin ein Gerippe an der Wand.
„... oder sein Gehirn? Das Gehirn ist das Zentrum der Seele.“
Der Raum wird von leichten Klangvibrationen ausgefüllt. Die Horde bewegt sich aus dem Schatten ins Licht. Männer und Frauen. Alle nackt, alle hungrig. Alle ohne Ausdruck in den Gesichtern. Und trotzdem hat die Szene etwas feierliches.
„Seelenfraß“, schreit sie. Ein Chor murmelt das gleiche Wort.
Thomas nimmt in diesem Bild eine untergeordnete Rolle ein – sie ist das Zentrum. Er ist nur ein zappelndes, ängstliches Etwas im Nichts. Ein Fragesteller, ein Nichtswissender, ein königlich ins Knie gefickter.
Eine Sekunde ohne ein Ereignis, dann bewegt sie das Messer nach unten. Das zähe Tempo, mit dem sie das tut, gibt mir noch mal Gelegenheit, in das, in dieses Gesicht meines Bruders zu sehen. Ich fühle nichts. Nichts besonderes.

Thomas wird dort aufgeschnitten, wo ich unseren Magen vermute. Er macht quietschende Laute, Rotz kommt aus der Nase, er legt alle Kraft in seinen Körper, aber sie schneidet unbeirrt weiter. Blut kommt in einer Linie aus dem Schnitt hervor, verteilt sich, läuft in Richtung Boden.
Die Klinge wird bis zum Griff versenkt. Es sieht aus, als wäre es ganz einfach. Sie arbeitet sich jetzt von links nach rechts. Wenn es stimmt, dass man im Moment des Todes sein gesamtes Leben noch mal vor sich ablaufen sieht, möchte ich wissen, was er jetzt für einen Film vor sich hat. Sein Kopf zuckt hin und her, gurgelnde Geräusche kommen aus ihm heraus, seine Hände krallen sich in das, was sie gerade anfassen.
Sie nimmt einen Hautlappen hoch, klappt ihn auf die Seite. Darunter ist eine rote Fläche zu sehen. Vier große Stücke faltet sie auseinander, danach legt sie das Messer weg, arbeitet mit bloßen Händen weiter. Thomas hat seine offenen Augen nach oben gerichtet. Ob er dort etwas gesucht hat? Ihre Füße stehen in einer Pfütze aus Blut. Eine Form, rot, geformt, wie ein Seestern.
Sie macht was mit ihren Händen, schaufelt Blut heraus, tut etwas, was ich noch nie gesehen habe. Thomas Kopf wackelt mit starrem Blick sachte hin und her. Keine Regung mehr. Tod. Mir wird warm zwischen den Beinen. Etwas fließt an mir herunter. Kein Blut.
Jetzt hat sie etwas in ihren Händen, hält es in die Höhe. Etwas daran hängt schlaff nach unten, ist um ihren Unterarm gewickelt. Gedärm, das eben noch gelebt hat. Jetzt nicht mehr.
„Seelenfraß“, sagt sie.
Sie bewegt ihren offenen Mund darauf zu, beisst hinein, beisst ab. Zweimal, dreimal, dann fällt es auf die Erde. Es berührt ganz zart ihren Fuß. Fleisch gegen Fleisch. Fleisch, gegen Fleisch, gegen Blut.
Sie holt noch etwas heraus, etwas neues, kommt damit auf mich zu.
„Willst du ihn vernichten?“
Ich weine, mein Rachen wird trocken. Ich rieche Blut. Ich weine, ich liebe ihn doch, habe es immer getan. Nur unseren Vater, den habe ich gehasst.

Sie geht zurück, lässt das Stück zu den anderen auf den Boden fallen, macht dann einen Instrumentenwechsel. Es gibt ein Klappern von Metall auf Metall. Unerträglich.
Sie hält jetzt die Säge in der Hand, mit der man Knochen zersägen kann, wenn man will. Das ist die göttliche Bestimmung. Sägezähne und Hals kommen in Kontakt. Sie sägt den Kehlkopf auf, Fleisch klafft auseinander. Sein Kopf ruckt hin und her, stößt immer wieder gegen ein Teil, das ein leichtes Quietschen macht. Ich will eine Zeitreise, jetzt, schließe die Augen, sehe nichts, öffne sie wieder, muss hinsehen.
Die Säge wird gegen und dann durch die Knochen hindurch bewegt. Dann ist es geschafft, der Kopf wird abgehoben. Der Körper sitzt kopflos da. Einfach so. Eine Veränderung wurde herbeigeführt. Ich habe es gesehen, ich bin Zeuge. Ich habe alles gesehen. Sie hat ihn in der Hand, den Kopf, der ihm jetzt fehlt. Der Mund ist zugeklebt, so kann ihn ja niemand hören. Die Augen stehen offen und sind leer. Die Horde kommt näher, manche geduckt, manche aufrecht. Ein Gemisch aus blanken Körpern. Sie kommen näher.
„Das Gehirn ist das Zentrum der Seele“, sagt sie. Sie ist nicht viel mehr, als ein blutverschmiertes Gesicht inmitten eines Blutbads.
Sie kommen näher. Mir wird etwas ins Gesicht geschlagen. Nun bin ich auch voller Blut. Zähne brechen, ich spüre es mit der Zunge. Da bricht was in meinem Körper auseinander, drückt von innen nach außen; es schmerzt furchtbar. Heiß drückt was gegen meinen Kopf, ich werde taub. Das ist der Übergang zur Körperlosigkeit. Ich werde inexistent. Ich lache. Sie sind längst da. Zähne kommen, verbeißen sich, reißen Haut ab. Finger sind im Mund und in die Augen. Ich lache, aber ich sehe nichts. Etwas fügt sich zusammen.

Ob die Kamera läuft?

 

Hi Satyricon,

will mich mal für deine Rückmeldungen revanchieren, auch wenn die Geschichte schon älter ist.

Was mir als erstes aufgefallen ist, war dieser ungewöhnliche distanzierte Stil. Die kurzen Sätze wirkten auf mich am Anfang fast, als wollte man den Leser bewusst "draußen" lassen. Wie kleine Spots, die aufblinken und schnell wieder weg sind. Das hat mir sehr gut gefallen weil es eine unglaublich kühle und auch unheimliche Stimmung erzeugt.

Der weitere Ablauf sieht vor, solange Konversation zu betreiben, bis sie einschläft;

Ab hier dachte ich dann, ich würde den weiteren Verlauf kennen. Ein perverses Brüderpaar, ok. Dass es dann anders kam, hat mich dann schon überrascht. War absolut nicht vorhersehbar, gut so.

Die Splatterszenen waren für mich ziemlich krass. Ich bin eigentlich eher ein Fan des "leisen" Horrors, wenn auch ein paar Gore Elemente manchmal ganz gut sind. Deine Geschichte verlangte ja nach solchen Szenen also musste ich mich da durchkämpfen. Krass war´s dennoch, aber das war ja auch so beabsichtigt.

Technische Sachen haben andere ja bereits erwähnt (Die können das sowieso besser als ich, da ich noch nicht so viel handwerkliche Erfahrung habe), darum noch was zum ganzen Plot:

Dion erwähnte die Logik. Ist es wirklich möglich, das die beiden diese ganzen schlimmen Dinge anstellen konnten, ohne geschnappt zu werden, etc.

Ich behaupte jetzt mal: Wenn man ganz streng rangeht und das als "gewöhnliche" Horror-Story betrachtet, müsste man das bemängeln und eventuell sogar überarbeiten.

Allerdings habe ich das nicht als gewöhnlich empfunden. Vielmehr wirkte es durch die Verbindung der distanzierten Betrachtung mit den äußerst brutalen Szenen sehr entrückt und traumhaft. Ein Alptraum selbstverständlich. Als hätte man einen schlechten LSD-Trip und würde die ganze Szene von außen betrachten. Und das finde ich gut. Ein kleiner Psychedelic-Alptraum. Sehr ungewöhnlich.

Ich bevorzuge eher klassischen Grusel, deshalb würde ich die Geschichte wohl kein zweites Mal lesen. Aber das ist eine Geschmacksfrage. Ungewöhnlich ist sie allemal und zumindest ich finde, das man hier ein deutliches Talent erkennen kann. Bin neugierig auf deine anderen Geschichten.

Viele Grüße
Christian

 

Oha, Hi!

Hätte nich gedacht, dass sich dazu noch mal jemand meldet. Hatte selbst schon fast vergessen, dass es diese Nummer noch gibt:D!

Die Splatterszenen waren für mich ziemlich krass. Ich bin eigentlich eher ein Fan des "leisen" Horrors, wenn auch ein paar Gore Elemente manchmal ganz gut sind. Deine Geschichte verlangte ja nach solchen Szenen also musste ich mich da durchkämpfen. Krass war´s dennoch, aber das war ja auch so beabsichtigt.

Das Du es eher Suspensemässig magst, is mir schon aufgefallen;). Ich hab einiges probiert, aber so, wie es jetzt ist, funktioniert es am besten. Ich wollte, dass die ganze Welt, die dargestellt wird, praktisch aus Fleisch und Blut besteht (dem Tds-gemäss). Es sollte in den Dialogen sein, die Verwandschaft, die Fleischeslust generell (sowohl die sexuelle des einen Bruders, als auch die der Kannibalen dann später ect...)

Dion erwähnte die Logik. Ist es wirklich möglich, das die beiden diese ganzen schlimmen Dinge anstellen konnten, ohne geschnappt zu werden, etc.

Das sehe ich nicht so. Wir sind in einer Horrorstory, und nich bei Tatort:D! Ich meine, wieviele Leichen kann man verstecken, ehe man geschnappt wird? Ted Bundy brachte es auf über zwanzig. Ein anderer wird wahrscheinlich noch nicht einmal eine schaffen...

Ich bevorzuge eher klassischen Grusel, deshalb würde ich die Geschichte wohl kein zweites Mal lesen. Aber das ist eine Geschmacksfrage. Ungewöhnlich ist sie allemal und zumindest ich finde, das man hier ein deutliches Talent erkennen kann. Bin neugierig auf deine anderen Geschichten.

HrHr, dass die Story so aufgenommen wird, habe ich mir eigentlich gedacht. Das Gorenerds sie mögen könnten, erschien mir klar, und das die Traditionalisten die Nase rümpfen, ebenso:D! Macht nüschts, Operation gelungen. Von meiner Seite aus. Also, für die Zukunft werde ich nicht mehr so hart zu Werke gehen, glaub ich. Ich hab da schon ganz viele Ideen, aber bis etwas neues von mir kommt, wird es etwas dauern. Ich habe gerade eine andere Geschichte fertig, die viele Wochen in Anspruch genommen hat, und nu brauch ich erstma ein bissel Pause;)!

Sehr vielen Dank, dass Du Dir die Zeit zum lesen, und für den Komm. genommen hast!

Gruß,
Satyricon

 

Hi Satyricon.

Wow! Also da bin selbst ich platt. Und dass will wahrlich etwas heißen.
Soll nicht heißen, dass ich soch Darstellung der Folterung mag, ganz im Gegenteil (ich fand "Hostel" einfach nur widerlich) aber das nur am Rand.
Dennoch hat mich deine Story begeistert in jeglicher Hinsicht.
Der Stil war genau passend (die gewählte Zeit ebenfalls).
Ja, und dann die Darstellung des Grausamen: Einfach schleichender Horror, der sich mit jeder Zeile steigerte. Hatte ein ähnliches Gefühl mal bei Kings "Das Spiel". Ist zwar schon Jaaahre her, das ich es gelesen habe, aber da gab es eine Szene, in der sie sich die Haut aufschnitt, um sich aus Handschellen zu befreien. Und dieses beschrieb Herr King bis ins Detail, so dass mir beinahe der Atem stockte und ein wirklich unangenehmes Zittern meinen Körper durchfuhr.
Genauso ging es mir bei deiner Geschichte; und scheiße ... ich bin echt was gewöhnt. Aber es ist immer was anderes, ob man etwas selbst schreibt oder ob man es liest.
Naja, ich schweife ab. Wollte dir einfach nur mal mein Empfinden beim Lesen deiner Geschichte mitteilen.
Die Charaktere gefielen mir sehr gut, jeder einzelne.

Fazit: Einfach nur dickes Kompliment, dass du es geschafft hast, den alten Salemmagen doch noch eine empfindliche Seite abzuverlangen :D

Gruß! Salem

 
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Tach Satyricon,

hm, ich hab die Geschichte gelesen und dann hab ich mir flüchtig die Antworten angeguckt. Manche Kritikpunkte kann ich nur sehr schwer nachvollziehen. Wenn man zu tief in eine Suppe guckt, kann schon mal ein Haar hineinfallen... so meine Meinung.

Die Geschichte ist für das was sie sein will, ein Kannibalensnuff-Basement-Splatterblub, sehr gut ausgearbeitet. Ich kann die Fehler die drinne waren nicht mehr beurteilen, ich habe keine entdeckt und auch nicht so drauf geachtet, aber die Geschichte hat mir gefallen.

Der Wendepunkt, als das Mädchen zum Jäger wird, war jetzt keine Überraschung, ich habe irgendwie damit gerechnet, dass es nicht einfach nur ein Zwei Typen vergewaltigen und töten eine junge Frau-Snuff-Bericht wird.
Was mich aber tatsächlich überrascht hatte, war das Auftauchen des Kannibalenstamms/Clans, wie auch immer.
Wie realistisch ist es das sie alle im Vorgarten warten, bla bla.... garnicht wichtig, genau das macht die Geschichte für mich eigentlich zu einer Gruselgeschichte. Dieses Gefühl von Ausgeliefert sein, während da hungrige Kannibalen um mich rumstehen und eine irre Stammesführerin/Clanoberhaupt irgendwas von Seelenfraß erzählt (Auch wenn ich das ganze Szenario aus einer Tales from the Crypt-Folge kenne... oder mich daran erinnert... kann aber auch sein, dass ich da was vermische, was nicht gemixt gehört...)

Mir hat das alles sehr gut gefallen, aber obwohl ich den Wendepunkt mit den Kannibalen und deren Auftauchen gelobt habe, genauso muss ich sagen, hatte ich irgendwie mehr Spaß mit der ersten Hälfte. Besonders die Monologe des Erzählers haben mich bei der Stange gehalten.
Wie die Geschichte ausging, war keine Überraschung, der Tod der Beiden ist unvermeidbar, aber wie es mich dahin geführt hat, war sehr unterhaltsam.
Der Schlusssatz mit der Kamera war gut, hat mir sehr gefallen. Wobei ich mir gewünscht hätte, dass das Snuff-Thema in der ersten Hälfte vielleicht weiter ausgeführt würde, damit der Schlusssatz noch stärker auf den Leser wirkt. Abler bla bla, Erbsenzählerei.

Die Gewalt darin war doch garnicht so schlimm... also hm... klar, Kannibalismus widerlich und der Bruder wird enthauptet, aber... hm...
Ich fand die Gewalt auch garnicht erzwungen oder sonst was. Ich denke, wenn du eine einfache Snuff-Geschichte geschrieben hättest, wäre die Geschichte noch mal um einiges brutaler geworden, hehe... Von daher!

Ich finde einige Kritikpunkte hier mehr als fraglich und mir hat die Geschichte in Ausführung und Idee gefallen. Gern gelesen!

Es grüßt dich herzlich und Garnelen mit Rosmarinkartoffeln essend,

Jekyll and Hide

PS. Ein Kritikpunkt oder Anmerkung ist mir dann doch eingefallen:
Wenn sie die Beiden nicht aus Rache umbringen, sondern zufällig jemanden wählt, den sie aufessen können, WARUM zur Hölle war die Alte in einem Magersuchtforum, hehe.
Als Kannibale wäre es doch viel logischer in einem Übergewichtsforum oder keine Ahnung... Menschen mit zarten Lenden-Forum nach essbarem Material zu suchen. An so´nem Gerippe (wie so oft in der Story erwähnt) ist ja schließlich nix dran... und gesund sind die auch nicht, hüstel...

 
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Hallo, ihr zwei:D!

Besonders die Monologe des Erzählers haben mich bei der Stange gehalten.
Wie die Geschichte ausging, war keine Überraschung, der Tod der Beiden ist unvermeidbar, aber wie es mich dahin geführt hat, war sehr unterhaltsam

HeHe, dann ist es ja gut! Ja, der Typ, der Erzähler, hat halt Todessehnsucht. Daher dieses monotone ect. Im Grunde haben wir hier sogar ein Happy End. Wenn man es auf eine ganz verdrehte Weise betrachtet;)

Die Gewalt darin war doch garnicht so schlimm... also hm... klar, Kannibalismus widerlich und der Bruder wird enthauptet, aber... hm...
Ich fand die Gewalt auch garnicht erzwungen oder sonst was. Ich denke, wenn du eine einfache Snuff-Geschichte geschrieben hättest, wäre die Geschichte noch mal um einiges brutaler geworden, hehe... Von daher!

Das ist schön! Ist aber auch eine Zwickmühle, eine verdammte. Macht man zuwenig, hat man das Gefühl, etwas fehlt. Macht man mehr, dann rufen manche Buhhhh:D. Also, in diesem Fall habe ich beides ausprobiert. Es gibt noch eine viel harmlosere, als auch eine wesentlich härtere Version. Das hier ist genau die Mitte, und die Dosis an Gewalt hier, funktioniert meiner Meinung nach am besten, und passt, vom Tempo her, gut zur ersten Hälfte.

Ich hatte mal darüber nachgedacht, eine reine Snuff-Story zu machen, aber das lasse ich lieber. Solche Themen liegen mir nicht so.

PS. Ein Kritikpunkt oder Anmerkung ist mir dann doch eingefallen:
Wenn sie die Beiden nicht aus Rache umbringen, sondern zufällig jemanden wählt, den sie aufessen können, WARUM zur Hölle war die Alte in einem Magersuchtforum, hehe.
Als Kannibale wäre es doch viel logischer in einem Übergewichtsforum oder keine Ahnung... Menschen mit zarten Lenden-Forum nach essbarem Material zu suchen. An so´nem Gerippe (wie so oft in der Story erwähnt) ist ja schließlich nix dran... und gesund sind die auch nicht, hüstel...

So gesehen richtig, und auch eine gute Idee, aber das hier geht eher in Richtug Exokannibalismus. Nicht wirklich, weil die Tante mit ihren Leuten dieses Motiv nur wage aufgreift. Es ist eher das Fressen der Seele, als des Fleisches an sich. Also nicht im Sinne von satt werden. Welchen Knacks die Alte bekommen hat, weiß ich zwar, aber das da einzubauen, hätte zu weit weg geführt. Aber okay, ich probiere das mal aus. Wenn es mir besser gefällt, dann ändere ich das vielleicht. Auf jeden Fall danke, für den Denkanstoß!

Sehr vielen Dank, für den Komm.!

Gruß,
Satyricon

edit: Hallo Salem! Sorry, ich hatte doch glatt Deinen Komm. überlesen! Vielen dank auch an Dich! Freut mich, dass Du was damit anfangen konntest:)!

 

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