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Weihnachtsgeist
Elsa zog den Mantel fester um sich und schob sich müde durch die Straßen. Graue Schneereste lagen am Straßenrand. Glitzernde Weihnachtsbäume, wohin sie schaute. Aus einem Lautsprecher dröhnte “Last Christmas”, und der Geruch nach gebrannten Mandeln ließ Übelkeit in ihr hochsteigen. Ein Mann rempelte sie an und ging weiter, ohne sich zu entschuldigen. Bald würden die Geschäfte schließen, denn heute war Heiligabend. Dann würde sie nach Hause gehen.
Auf einmal stand ein Weihnachtsmann vor ihr. Roter Mantel, weißer Wattebart und die Mütze tief in die Stirn gezogen. Er lächelte sie an, griff in seinen Sack und drückte ihr ein Päckchen in die Hand: ”Frohe Weihnachten!”, sagte er und ging weiter.
Elsa starrte auf das Päckchen. Sie riss das Papier auf und fand eine kleine Schnapsflasche darin. “Weihnachtsgeist” stand in Schnörkelschrift auf einem silbernen Etikett. Elsa spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Sie ließ die Flasche in ihre Manteltasche gleiten und ging schnell weiter, den Blick auf den Boden gerichtet.
Sah man ihr jetzt schon an, dass sie zu viel trank? Warum sonst hatte der Weihnachtsmann ihr die Flasche geschenkt? Am liebsten hätte sie sich nach dem Schreck einen Schluck gegönnt. Aber nicht hier vor all den Leuten. Elsa bog in eine stille Seitenstraße ein. Sie angelte nach der Flasche, die in ihrer Manteltasche baumelte, und drehte den Verschluss auf.
Es ploppte leise. Etwas Rotes zischte aus der Flasche, entfaltete sich, wurde schnell größer und fiel schließlich wie ein nasser Lappen zu Boden. Elsa stieg der scharfe Geruch von Schnaps in die Nase.
“Teufelschzeug!”, lallte es von unten, und nur mit Mühe gelang es diesem Etwas, sich mit den Händen an einem Laternenpfahl hochzuziehen. Aus einem zerknitterten roten Gewand schob sich ein durchscheinender weißer Kopf, auf dem eine rote Mütze saß. Es strich sein Gewand glatt und nuschelte:
“Schuldige meine Auf- Auflachung, aber son Flaschenleben lässt einen einfach verdattert, nee verlottert aussehen. Ups, sicher gedes mir gleich wieda besser, der Schnappes muss nur verhunsten, nee verdunsten, boah, is mir schlecht...”, und schon beugte es sich vor, würgte einen Schwall Flüssigkeit auf den Boden.
Elsa ging einen Schritt zurück. Wie viel hatte sie heute schon getrunken?
“So, jetzt gedes mir schon besser. Is ja grauenhaft. Ich kann von dem Zeusch einfach nicht von bleiben. Aber wem erzähle ich das…” Das Wesen rülpste laut. “Also, du bischt Elsa, stimmt das?”
Elsa begann zu zittern. Sie stellte die leere Flasche neben die Laterne. Mit fahrigen Händen durchwühlte sie ihre Handtasche und holte einen Flachmann heraus. Sie trank einen großen Schluck. “Wer bist du? Und woher kennst du meinen Namen?”
“Ich bin ein Weihnachtsgeischt. Stand doch auf der Flasche!” Er strich über seinen Kopf, verzog sein Gesicht und stöhnte noch einmal: “Teufelszeug!” Aus seinem Gewand zog er ein schwarzes Buch heraus.
“Hier steht es, Elsa Odinsky ist dein Nahame. Du bist unglückerlich. Deswegen bin isch hier.” Er schwankte und hielt sich am Laternenpfahl fest.
Mit zitternder Hand genehmigte sich Elsa noch einen kleinen Schluck. “Weihnachtsgeist? Ich glaub doch nicht an Weihnachtsgeister!”
“Es bleibet dir wohl nix anderes üblig! Ich stehe ja hihier vor dir.” Er legte den Arm um den Laternenpfahl, damit er nicht umkippte.
Elsa fragte leise: “Wo kommst Du denn her?”
Der Geist wies mit dem Kopf nach oben. “Man schickt uns schu Weihnachten hier runter. Wir sollen helfen.”
“Warum sollte es mir nicht gut gehen?”
“Schicksalsbuch! Dasch hier is deins!” Er hob das Buch hoch. “So eines haben wir oben für jeden Matschen, ne Menschen. In die Bücher trägt sich ein, was Ihr hier unten so treibt. Wenn ein Matsch zu viel über den Tod in scheinem Kopf denkt, wird der Buchdeckel schwarz.”
“Und wie kannst du mir helfen?”
“Du muscht mir sagen, was ganz genau dich so unglückerlich macht.” Der Geist machte mit der Hand, die von der Laterne baumelte, eine schreibende Bewegung. „Dann schreibe ich dasch hier rasch um!“
Das war die Gelegenheit! Elsa musste nachdenken. Was machte ihr am meisten zu schaffen in ihrem Leben? Aber der Geist ließ ihr nicht genug Zeit und klopfte ungeduldig gegen die Laterne. Er zeigte auf den Flachmann in Elsas Hand: „Kann ich nen Schluck?“
Elsa schüttelte mit dem Kopf.
„Mein Mann hat mich verlassen. Wegen einer anderen.“
Der Geist sah sie an und schwieg. Elsa sagte:
„Meine Kinder sehe ich fast gar nicht mehr. Sie besuchen meinen Mann andauernd, mich aber nie.“ Der Geist zuckte mit den Schultern.
„Meine Freundin hat geheiratet und keine Zeit mehr für mich.“ Schweigen. “Meine Katze ist gestorben!“ Aber der Geist forderte sie mit einer Handbewegung auf, weiter zu reden. Elsas Stimme überschlug sich, als sie rief: “Reicht das alles denn nicht, um unglücklich zu sein?”
Der Geist zeigte auf das Buch. „Hier drinnen steht, was dich wiklich unglückerlich macht. Aber ich darf es nuhur umschribben, wenn du selber darauf komms. Selbstverkenntnis nennen die das.”
“So!” sagte Elsa und schnaubte. “Alle, die ich liebte, haben mich verlassen! Ist es das?”
„Nein. Du könntest mir ja vielleicht…“ Der Geist warf einen Blick auf Elsas Flachmann und seine durchscheinenden Lippen verformten sich spitz, als wolle er auf die Entfernung den Schnaps aus dem Flachmann saugen. „Dann hefle ich dir beim Raten.“
Elsa hielt dem Geist den Flachmann hin. „Einen Schluck!“ sagte sie. Der Geist nahm die Flasche, legte den Kopf in den Nacken und ließ den Schnaps in sich hineinlaufen. Elsa machte einen Schritt auf ihn zu und riss ihm den Flachmann aus der Hand.
„Scheiße! Jetzt hast du den ganzen Schnaps ausgetrunken!“ Sie holte mit ihrer Tasche nach ihm aus und zischte: „So, und jetzt sag mir, was da steht. Was meinen die da oben, was mich unglücklich macht?“
Der Geist versuchte frei zu stehen, um das Buch in beide Hände zu nehmen. „A“, sagte er und legte den Arm wieder um die Laterne. „Alohol“
Elsa stampfte mit dem Schuh auf den Boden und funkelte den Geist giftig an. “Alkohol? Was für ein Quatsch! Du brauchst doch in dem Buch nur die Stelle zu ändern, wo mein Mann diese blöde Ziege kennengelernt hat. Dann wäre mein Leben ganz anders verlaufen! ”
“Dein Mann isch nich dasch Plobrem. Du tinkst schon langer zu viel. Du muscht den Tasachen ins Gesicht sauen! Sagen die da oben! ” Der Geist wies wieder mit dem Kopf nach oben, wankte und wäre fast umgekippt. Elsa machte schnell einen Schritt auf Geist zu. Sie riss ihm das Buch aus der Hand und lief so schnell sie konnte davon.
In der Nähe war ein Park. Sie versteckte sich im Gebüsch und setzte sich auf einen Baumstumpf. In der Tasche kramte sie nach einem Stift. Wenn dieser Geist die Stelle nicht ändern wollte, so würde sie es eben selber tun. Aber die Seiten klebten aneinander, sie konnte das Buch nur in der Mitte aufschlagen. Und dort starrte sie in einen Spiegel.
Stumpfe Augen, verquollene Lider. Schuppige Haut spannte über die rote Nase. Rissige Lippen. Auf dem Doppelkinn wucherten ein paar lange schwarze Stoppeln. Die Haare hingen fettig über Stirn und Ohren und den fleckigen Mantelkragen.
“Das kann doch nicht ich sein?” Elsa ließ das Schicksalsbuch sinken. “Den Tatsachen ins Gesicht schauen...”
Elsa wollte weinen, aber es kamen keine Tränen. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme blieb stumm. Sie wollte das Buch zerreißen, aber die Arme versagten ihren Dienst. Sie blieb lange auf dem Baumstumpf sitzen. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf und hangelte sich durch Erinnerungen an ihr früheres Leben. Und irgendwann hob sie den Kopf und schaute nach oben. „Die haben Recht da oben!“, sagte sie leise. Sie stand auf und legte das Buch auf den Baumstumpf. Dann kletterte sie aus ihrem Versteck und ging davon.
Nach einigen Schritten drehte sie sich noch einmal um. Der Geist stand da, schwankte ein wenig und schob gerade das Buch unter sein Gewand. Er winkte ihr zaghaft zu. Elsa winkte zurück und ging weiter. Sie hatte einen langen Weg vor sich, aber sie wusste jetzt, was zu tun war. Während sie darüber nachdachte, wo sie eine neue Katze her bekam, holte sie den Flachmann aus der Tasche und warf ihn ins Gebüsch.