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Weihnachten & Ordnung
Weihnachten & Ordnung
Am 24. Dezember, 14 Uhr, begann der Sicherheitsmann Philipp Klages seine letzte Schicht vor dem Weihnachtsfest. Der Krankenstand verlangte es, ebenso das Pflichtbewusstsein gegenüber Kollegen wie Arbeitgeber. „Es ist eine herausfordernde Zeit“, erklärte er seiner Frau Lisa, als er die schwere schwarz-blaue Uniform überzog und daran den Gürtel mit Schlagstock, Handschuhen, Abwehrspray, Taschenlampe und Ticketgerät befestigte. Am wichtigsten war das Diensttelefon, das er auch privat nutzen durfte. „An den Feiertagen geschehen die seltsamsten Dinge. Die Leute werden alle ein bisschen verrückt. Oder die Verrückten werden sichtbarer. So ganz genau weiß ich das noch nicht.“
„Und gerade du musst dich mit denen herumschlagen, ja?“, fragte Lisa mit verschränkten Armen und deutete nur mit einem Nicken in den unaufhörlich treibenden Schnee.
Philipp gab ihr einen Kuss auf die Wange und drückte die Kinder. „Weil ich gut in meinem Job bin“, erwiderte er.
Sie lächelte zurück – und erinnerte ihn an „die Sache, die noch zu erledigen ist“, was er nur bestätigte, gepaart mit einem Versprechen der schnellstmöglichen Rückkehr.
Der Nachmittag begann mit dem Zusammentreffen mit seinem Kollegen Ibrar in einer Station im gutbürgerlichen Viertel im Westen der Stadt. „So schlimm kann das alles nicht sein“, sagte Ibrar, „wenn man sich hier umsieht. Guck, die Leute gehen nicht in die Kirche, sondern sitzen zuhause und haben nix zu tun! Hier, wer meldet schon kaputte Maschine?“ Aber Ibrar lächelte und machte ein Bild des defekten Automaten auf dem Bahnstieg. Anschließend hielt er alles ordnungsgemäß in der App fest, während Philipp die Fragen eines älteren Ehepaars beantwortete. Innenstadt: Krippenspiel. Familie: Weiter raus. Auf der ausgehangenen Karte tippte er auf den Fluss, der die Stadt teilte, und erläuterte ihnen die besten Verbindungen. „Ihr Endziel, die Siedlung, ist ganz spannend. Sie sollten bei der Endstation gleich den Berg runter, also nach Süden. In die Hochhaussiedlungen auf der anderen Seite wollen Sie bestimmt nicht!“
Kurz wunderte man sich gemeinsam, im Sinne des zu begehenden Fests, über die räumliche Nähe von Arm und Reich in der Stadt, ehe die gegenseitige Verabschiedung erfolgte. Philipp und Ibrar zogen weiter zur nächsten Station, näher am Hauptbahnhof, näher am „Moloch“, wie Ibrar ihn nannte. Dort entfernten sie einige Obdachlose und die von ihnen verursachten Glasscherben – und erhielten die Mitteilung auf ihren Diensttelefonen, dass weitere Kollegen ausfallen sollten. Während Ibrar diese Meldung mit einer Betonruhe aufnahm, war Philipp für einen Moment komplex, begreifend, was dies für ihn bedeutete. Eine der übriggebliebenen Scherben wurde von ihm auf die Gleise geworfen, was bei Ibrar für Erstaunen sorgte. Zu diesem schnarrte er: „Ich muss mal telefonieren, hörst du?“
Nachdem er die Neuigkeiten an seine Frau weitergegeben hatte, ertrug Philipp den Schwall an Vorwürfen. „Dir sind diese Halsabschneider wichtiger als deine eigene Familie“, beschloss Lisa ihre Worte; nicht lauter, sondern leiser, bitterer werdend, in ein Zischen übergehend, dass er in dieser Form einmal von einer verrückten Pfandsammlerin gehört hatte.
„Es gibt einfach nicht genug Wachleute“, erwiderte er. „Das ist nun einmal Fakt.“
„Es gäbe mehr, wenn die Bezahlung stimmen würde – oder Leute nicht an Weihnachten arbeiten müssten. Wer ist denn da draußen?“
„Menschen ohne Familie zum Beispiel. Aber lass uns nicht streiten! Dann kriegt der Kleine sein Geschenk eben etwas später.“
Philipp entschuldigte sich bei Ibrar in die Pause, um nur diese eine Sache zu erledigen: Ein kleines Geschenk aus dem Laden um die Ecke holen, der gleich schließen sollte. Sie würden später wieder am Hauptbahnhof zusammentreffen.
Außerhalb der Stationen und Züge war der Schnee fühlbarer. Die wenigen Leute, die zu dieser Zeit noch unterwegs waren, spannten Schirme auf. Es gab eine Zeit, in der er in diesen potenziellen Waffen gesehen hatte. Der letzte größere Zwischenfall aber lag einige Zeit zurück; Philipp konnte sich nicht einmal erinnern, um was dabei genau ging. Arme Menschen waren involviert, das wusste er noch, und die Attacke kam aus dem Nichts.
Die Glücklichsten waren die, die ganz oben wohnten, in den fünften Stöcken, in denen sie Großraumwohnungen und Penthouses mit begrünten Dachterrassen anboten. Für sie musste die verschneiten Straßenzüge in Kombination mit dem Lichtermeer ein einziges Vergnügen sein.
An dem Kiosk, in dem sein Paket ausharrte, reihte sich der Wachmann in eine lange Schlange ein. Zwei junge Frauen musterten ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, und er hörte sie fragend zueinander flüstern, warum „der Wachtyp“ denn nicht sei eine Arbeit täte. Doch Philipp wartete geduldig, bis er von dem schwitzenden Verkäufer, kaum erkennbar hinter den Paketen, erfahren musste, dass die gewünschte Lieferung nicht eingetroffen sei. Grund dafür sei der Schnee. Er, Philipp, müsste nur aus dem Fenster sehen.
„Sind Sie sich ganz sicher, dass kein Paket da ist?“, schnarrte Philipp. Er rief dem Mann vor ihm eine Begebenheit aus dem Sommer in den Sinn, als er schon einmal hier war, und die andere Bestellung „verlegt“ gewesen sei.
Aber der Verkäufer war sich sicher. Er schob Philipp fast aus der Tür, und schloss den Laden vor den Augen anderer erboster Menschen, mit den Worten: „Ich habe auch Weihnachten!“
Frustriert begab sich Philipp zurück zur Station – und kurzerhand in eine weitere Schlange, dieses Mal kürzer, beim Bäcker. In dem überhitzten Glasraum zog er seine Uniformjacke aus und bestellte die letzte, trocken gewordene Streuselschnecke. Er verscheuchte eine Taube und hielt die Tüte triumphierend in die Höhe: „Meins! Geh woanders würgen!“
Zunächst bemerkte Philipp den Mann kaum Auf seinem Weg war er nur einer von weiteren Gestalten, die im Hauptgang der Station standen und – dieses Wort benutzten meist seine Kameraden – lungerten. Von der Seite trat etwas Übelriechendes – anders konnte er es beim besten Willen nicht beschreiben – auf ihn zu. Jemand, der den ganzen Tag unterwegs war und morgens trotzdem das Deodorant vergaß. Das Gesicht zwischen hochgezogenem Mantel und Mütze war kaum erkennbar. Er rief Worte in einer fremden Sprache zu ihm und deutete verlangend auf die Tüte in seiner Hand.
Mit einem machtvollen „Nein!“, das laut Lisa einer der Gründe war, warum sie ihn geheiratet hatte, wimmelte Philipp den Mann ab, als er hinauf die Stufen zum Bahnstieg nahm.
Hinter ihm hörte Philipp noch Protest, ein Fauchen, doch in diesem Moment sprang er nur durch den Schnee in die geöffneten Türen der S-Bahn. Wie ein Passagier, ließ er sich Philipp neben einem Mann mit Kopfhören, die Augen geschlossen, niederfallen. Für einen Moment tat Philipp es ihm gleich: Er stieß schweren Atem aus und dachte an die warme Stube mit dem Weihnachtsbaum. Vier Zimmer, im nächsten Jahr vielleicht endlich ein Haus, wenn auch nur zur Miete und weit außerhalb. Zugleich, als der Zug losrollte, dachte er an das enttäuschte Gesicht seines Sohnes und hörte die Fragen seiner Tochter, wo er denn bliebe.
Seine Nase riss schleuderte ihn in die anstrengende Realität zurück: Dort vor ihm stand derselbe Mann aus der Station.
Philipp erstarrte, weil ihn seine Berufserfahrung, sein Instinkt im Umgang mit den herausforderndsten Menschen des täglichen Verkehrs, klarmachte, dass dieser Mann ihn verfolgt haben musste.
Dieser hingegen schien verblüfft von dem erneuten Zusammentreffen; so, als wenn er schon viele Leute erneut ausfindig machen wollte, aber dies heute, an diesem heiligen Abend, zum ersten Mal klappte.
Dann streckte der Mann seinen Arm vor und deutete auf die Streuselschnecke, die auf Philipps Schoß liegender gefaltete Jacke lag. Sein ausgestreckter Finger begann auf und ab zu gehen, seine Stimme lauter zu werden.
„J'ai besoin de manger. S'il te plaît, ton repas!“, sagte der Fremde mit den umröteten Augen.
Philipp, des Französischen nicht mächtig, schüttelte mehrfach den Kopf, doch der Fremde wiederholte seine Worte nur in mehreren Variationen, laut und gehetzt, auftrampelnd, sodass auch der Mann mit den Kopfhörern wach wurde. „Manger!“
„Scher dich weg und mach dich nicht nützlich – aber nicht bei mir!“, grunzte der sitzende Philipp hinauf.
Die unverständige Antwort tönte auf Französisch, doch dazwischen sagte der Mann dies, auf sich deutend, nun im Ton ruhiger: „Je suis Jacques. J'ai besoin de manger. Personne ne me donne à manger.“
Der Passagier neben den Beiden stand auf und begab sich ans andere Ende des Zugs. Andere waren eben ausgestiegen. Noch zwei weitere Stationen zum Hauptbahnhof in einem fast leeren Abteil.
„Nein!“, sagte Philipp dann und schüttelte den Kopf, hob die Arme zu einem Kreuz der Abwehr.
„Manger!“, ertönte es erneut von dem Mann.
Jacques.
Jacques riss sich sogar die Mütze vom Kopf, um noch deutlicher auf das Gebäck in Philipps Hand zu deuten. „Manger! Maintenant!“
„Hör auf!“, befahl Philipp ihm und hievte sich auf die Beine „Jeder andere hätte dich schon längst aus’m Zug geworfen! Was zur Hölle fällt dir eigentlich ein?!“
Die nächste Station. Jacques machte einen Schritt zurück und griff nach einer Schlaufe über ihnen. Er blickte an Philipp herab, der nun Jacke und Essen in jeweils einer Hand hielt und, ganz nach dem Training seiner Ausbildung, den Gürtel mit seiner Ausrüstung sichtbar machte. Jacques blickte in das Schneetreiben. Hinter ihnen öffnen sich die Türen und ließen kalten Wind ins Innere des Gefährts.
Dann spuckte Jacques nach vorn, in Philipps Richtung, und rief einen weiteren, unverständlichen Fluch.
Angeschrien, angepöbelt, versucht anzugreifen: Nichts davon aber geschah mit dieser Feindseligkeit, die der französischsprechende Mann zeigte. Noch nie hatte ihn jemand angespuckt.
Philipp schrie auf und schellte vor, doch mit wehendem Mantel sprang Jacques ins Freie.
Sie sahen einander ein weiteres Mal in die Augen. Wenige Momente später war der Fremde nicht mehr als ein grauer Strich im Tosen des Wetters.
Am Hauptbahnhof angekommen, wünschte ihm der Mann mit den Kopfhörern in einem widerlichen Ton: „Frohe Weihnachten!“ Er deutete dabei auf die Streuselschnecke in Philipps Händen.
Halb gefrorene, ekligen Sabber, der durch die dünne Tüte gesuppt war.
Philipp fauchte und warf das, was seinen knurrenden Magen füllte sollte, wutentbrannt davon.
Der Mann war da längst verschwunden.
Philipp benutzte sein Dienstgerät und traf mit Ibrar zusammen. „Was ist dir passiert?“, fragte Ibrar ihn. „Du siehst aus, als wäre das gerade Freitagabend zur Geisterstunde. Dabei haben wir’s gerade mal fünf Uhr.“
„Ich will mich an Heiligabend nicht aufregen“, lautete Philipps Antwort bei der er seine Mütze tiefer ins Gesicht zog.
„Vergessen als Strategie“, sagte Ibrar und tippte auf die eigene Brust; dann mutmachend auf Philipps Schulter.
„Was gibt es hier?“, fragte seinerseits Philipp, der seine Beine zitternd fühlte und dafür nicht die Kälte verantwortlich machen konnte.
Ibrar informierte ihn über eine sechsköpfige Gruppe von halbstarken Rauchern, sodass es nun an der Zeit sei, ihnen ein Platzverweis zu erteilen – und, falls sie dem nicht nachkämen, die Polizei hinzuzuziehen.
Die vorherige Begegnung mit Jacques in Philipps Hinterkopf führte zu einer sonderbaren Produktivität. Er war es fast im Alleingang, der die jungen Männer mit klaren Worten und eindeutigen Gesten, den ausgezogenen Einsatzstock dabei in der Hand, zum Verlassen des Bahnhofs bewegte. Zuerst klagten sie noch, dass sie ja keinen anderen Ort hätten an dem sie sein könnten, basierend auf einer vagen Kritik an Besitz- und Produktionsverhältnissen. Sie hielten ihm eine zerknüllte Zeitung entgegen: Dieses Jahr, so hieß es, empfanden fast zweit Drittel der Bevölkerung das vergangene Jahr als einen Abstieg für das Land.
Doch sie taten all das mit einem ironisch-berauschten Grinsen und führten nur langsame Bewegungen aus. Philipp aber trieb sie unnachgiebig, wie Gefangene in den Kriegszug, und als sie dann im Schnee standen, bettelten sie ganze zehn Minuten, in denen Philipp nichts sagte, und vor dem Eingang West des Bahnhofs türmte.
Nachdem die Gruppe endlich aufgegeben hatte, klatschte Ibrar und reckte die Daumen nach oben. Daraufhin platzte es aus Philipp heraus. Er erzählte Ibrar alles. „In zehn Jahren in diesem Job“, sagte er, „habe ich so etwas noch nicht erlebt! Diese Unverfrorenheit! Was bildet sich der Bastard ein? Er soll andere Leute bestehlen, reiche Leute, aber doch nicht mich! Ich sag’s dir: Im neuen Jahr werden wir diesen Typen vor Anderen beschützen müssen, so, wie der sich aufführt!“
„Sollte mal vernünftig Deutsch lernen, der Hurensohn“, sagte Ibrar. Mehr Zustimmung brauchte es nicht.
„Er sollte vor allen Dingen niemandem mehr Luft zum Atmen wegnehmen“, sagte Philipp. „Der sollte einfach verschwinden. Man kann sich auf niemanden verlassen! Herumlungerer und Psychopathen, und das an scheiß Weihnachten!“
„Ach, Bruder…“, sagte Ibrar, aber beließ es dabei. Manchmal hatte dieser mehr zu sagen. Darauf hoffte Philipp. Doch nicht in diesem Moment.
„Ach ne, oder? Guck mal da hinten!“
Ibrar deutete auf ein Paar mit einem kleinen Mädchen. Dieses sprang auf und ab – in den Händen ein Luftballon, ein metallener Drache.
„Jetzt dürfen wir auch noch einem Mädchen den Weihnachtsabend versauen“, sagte Ibrar mit einem lauten Seufzen.
Eigentlich wäre der Kollege am Zug gewesen. Doch es war wieder Philipp, der die Hauptlast der Tätigkeit übernahm. Er erklärte den Eltern, dass ein solcher Ballon beim Kontakt mit den Oberleitungen „eine Katastrophe auslösen“ könnte. Daher müsste er diesen an sich nehmen. Das Mädchen begann zu weinen, und die nun aufgebrauten Erwachsenen verwiesen auf das Weihnachtsfest und den letzten Zug, den sie nehmen müssten. Sie wollten gute Menschen sein, nicht die Umwelt belasten, aber wenn man so behandelt würde, dann hätten sie doch das Auto nehmen sollen.
„Reisen sollten Sie bei diesem Wetter generell unterlassen“, war das, was Philipp am Ende zu sagen wusste. „Es ist keine einfache Zeit für Familien. Glauben Sie mir, ich verstehe das.“
Gegen 17.30 Uhr telefonierte er noch einmal mit Lisa. „Ich hoffe, dass ich gleich abkommandiert werde“, sagte er ihr. „Dann wäre ich gegen 19 Uhr zuhause, zum Abendbrot. Ihr habt schon die Bescherung…?“
„Nein“, sagte Lisa. „Wir haben auf dich gewartet, weil-“
„Das war unrealistisch“, fiel Philipp ihr ins Wort.
„…weil sich das so gehört. Aber gut, jetzt weiß ich ja, woran ich bin.“ Nach ihrem charakteristisen Zischen versuchte sie es wärmer, jedenfalls so wie es ihr möglich war: „Die Beiden sind völlig ungeduldig. Irgendwann fragen sie mich, wie du überhaupt aussiehst.“
„Lisa, du musst nicht wieder übertreiben!“
„Und du brauchst einen anderen Job!“
Philipp war dankbar, als Ibrar, der bis eben selbst telefonierte, auf ihn zutrat. „Ich muss gehen“, sagte er zu seiner Frau. „Feiert einfach ohne mich, es ist schon okay“, fügte er hinzu und legte auf.
Ibrar jedoch vermochte es nicht, Philipp in die Augen zu sehen.
„Hör mal, Bruder“, begann er, „ich weiß, dass ist arschig, aber ich muss auch gehen.“
„Was? Du? Wieso? Ihr Muslime arbeitet doch an Weihnachten, damit wir andere feiern können! Ibrar, darauf habe ich mich verlassen!“
„Ja, ich weiß, aber du weißt auch, meine Mutter hat Probleme. Heute schlägt’s durch.“
„An Heiligabend, wenn ich zu meiner eigenen Familie will. Wie passend!“
„Bruder, es ist doch eh immer jedes Jahr das gleiche. Na komm, ich weiß, dass-!“
„Nein! Wenn du jetzt gehst, dann wird dieses verdammte Telefon nach meinem Namen verlangen!“
„Du bist ein guter Mann, ein erfahrener Kollege…“
Philipp schnaufte und musterte Ibrar von Kopf bis Fuß, woraufhin dessen verzwicktes Lächeln in einem verknautschten Mund verschwand. „Herr Klages“, sagte er, „guck mal hier in die App: Ich hab‘ in diesem Jahr drei Mal mehr Schichten geschoben wie du. Außerdem, hier siehst du: Meine Schicht ist auch schon wieder vorbei. Ich muss mich von dir nicht ankacken lassen, wenn ich mit meiner Mutter ins Krankenhaus muss!“
„Ja, das ist heute wirklich der beste Tag dafür, vorher hat man ja nichts gemerkt“, erwiderte Philipp unter einem Grunzen.
Als Ibrar sich dann ohne ein Wort umwandte, riss Philipp die Arme in die Höhe. Es tat ihm leid, wollte er rufen, doch er besah das Verschwinden Ibrars zahnnagend.
Dann war er allein in der glitzernden, viel zu leisen Bahnhofshalle. Philipps Magen knurrte immer noch. Und obwohl er an unzähligen Geschäften vorbeikamen, sah er es nicht ein, erneut Geld auszugeben. Nein, er würde alle Schäden seinem Arbeitgeber in Rechnung stellen, und so auch seine sabotierte Streuselschnecke. Lisa würde das gefallen. Sie würde ihn unterstützen.
Um 18.20 Uhr wartete Philipp auf die nächste Bahn. Er müsste eine Station zur Kirche benutzen. An deren Haltestelle sollten Leute herumlungern, die erst in der Kirche beim Krippenspiel störten und nun in der Station randalierten. Mit den anderen Kollegen sollte er einen Platzverweis aussprechen.
Er sah sein eigenes Antlitz im Glas eines vorbeifahrenden Zugs spiegeln. Mit einem Lächeln hatte er von seinem Diensttelefon aufgesehen und genau in dieses Spiegelbild blickte er nun. Seine Hand lag sogar schon auf dem Griff des Einsatzstocks.
„Warum nicht, eh?“, sagte er zu seinem Antlitz und nickte diesem fast militärisch zu.
Als er dann den Zug betrat, nutzte er die Zeit und dokumentierte das, was ihm in den letzten Stunden widerfahren war, detailgetreu (inklusive des Verlusts seiner Mahlzeit). Kaum war der letzte Satz getippt, tauchte eine neue Meldung in der App auf, die von einem anderen Zwischenfall berichtete: Ein Mann sei in einer Auseinandersetzung mit einer Familie verwickelt, in der anderen Richtung, in den Außengebieten, wo der Schnee schon über die Felder trieb. Dieser Mann spreche Französisch.
Vier Stationen entfernt, genau in seiner Richtung. Zufall oder Schicksal: Die Karte zeigte an, dass er der nächstverfügbare Mitarbeiter war.
Philipp ließ die Kirche an sich vorbeiziehen und bestätigte sein nächstes Ziel.
Er riss sich die Mütze vom Kopf – so heiß war ihm – als der Zug die Station anfuhr, ein mäßig überdachter Bahnsteig im Schneetreiben. Eine Familie aus mehreren Frauen mit Kopftüchern und einem Kinderwagen stritt energisch mit eben jenem Mann – nein, Kerl, Hurensohn, wie es durch Philipps Kopf ging – der ganz eindeutig Jacques war. Dieser hielt einen Gegenstand in seinen Händen, ein Spielzeug, ein Auto oder Bagger, das er der Familie entwendet haben musste.
Beim Halten des Zuges hämmerte Philipp auf den Knopf für die Doppeltüren, obwohl er um die Sinnlosigkeit dieses Handelns wusste.
Im erstbesten Moment stürmte er aus diesen hervor, durch den treibenden Schnee, und entkoppelte den Einsatzstock in einer einzigen Bewegung. Die Frauen am Ende des Bahnstiegs mussten einen Riesen sehen, der erobernd auf sie zuhielt. Ihr Aufschreien brachte auch Jacques dazu, den eigenen Körper mit wehendem Mantel herumzuwerfen.
Beim Anblick Philipps zuckte er zusammen.
„Genau, du Hurensohn!“, rief Philipp voran durch den Schnee mit geöffnetem Herzen. „Darauf habe ich nur gewartet!“
Eines der Kinder versuchte Jacques das Spielzeug aus der Hand zu entreißen, was den Erschrockenen jedoch nur in Bewegung setzte. Bevor der Zug wieder abfuhr, sprang Jacques in den nächsten Wagon.
Ein anderer Sicherheitsmitarbeiter wäre ihm nicht gefolgt. Er hätte mit der Familie gesprochen und deren Schaden aufgenommen. Philipp aber rief dieser zu, fahrig, ohne Augenkontakt: „Ich hol’s zurück!“
Dann war auch er wieder im Zug, doch in einem anderen Wagon, durch Glasscheiben getrennt von Jacques.
Es war ein Bagger in seiner rechten Hand, teils von Schneeflocken gezeichnet, aber brandneu. Die linke Hand zitterte. Davon ab, war er beherrscht, ruhig, ganz anders als zuvor.
„Merkste, ne?“, sagte Philipp aus seinem Wagon, obwohl Jacques ihn nicht hören konnte. Er musste nicht einmal über die Schultern sehen um Leere hinter sich zu wissen. „Nur wir zwei“, fügte er noch hinzu.
Jacques zeigte sich steif, wie festgefroren.
Fünf Stationen konnten sie noch fahren, bis ans Ende der Stadt, an das Flussufer mit den Villen im Süden und Hochhäusern im Norden.
Philipp griff nach seinem Telefon und rief Lisa an. Ohne ihren Gruß, ihre Sorge, ihre Kritik abzuwarten, sagte er: „Eine Sache noch, und dann komme ich nach Hause.“
Für einen langen Moment hörte Philipp das schwere Atmen Lisas. „Wir wollen nur, dass du wieder sicher bei uns bist“, sagte sie. „Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch“, sagte Philipp, der die Sorge in ihrer Stimme wohl hörte, aber beschloss, diese ganz und gar auszublenden.
„Wo bist du?“, fragte Lisa.
„Da, wo wir morgen unseren Weihnachtsspaziergang machen sollten“, sagte Philipp. „Linie 2, nach Südosten. Ich fahre gerade über die Höhe und sehe den Fluss. Da unten, die da jetzt im Schnee sind, die haben’s echt gut erwischt. Wir werden da nie wohnen können, aber mal langgehen, hm? Es ist wunderschön, alles glänzt!“
„Philipp…“
Aber dann kam der nächste Stopp.
Jacques hatte an der Tür gestanden und Philipp nur für halbe Sekunden aus den Augen gelassen. Leben war wieder in ihn geraten, wie in eine Puppe, die von dunkler Magie belebt wurde. Gezittert und gezuckt hatte er, und würde das versuchen, das alle vor Sicherheitspersonal Fliehenden in Zügen taten: Die Flucht andeuten. Sich nicht auf das Duell einlassen, sondern damit spielen.
Zumindest vermutete Philipp all das. Er würde das tun, was er schon früher hätte tun sollen: Er legte alle Scheu ab. Als sich seine Tür öffnete, lief er direkt auf die Tür Jacques‘ zu.
Dieser sprang noch zurück und wollte direkt ans andere Ende des Wagons eilen, doch Philipp ließ ihn nicht. Er warf seinen gesamten Körper gegen ihn und schleuderte ihn und sich in eine leere Sitz-Vierergruppe.
Jacques, dünn und ausgemergelt, immer noch stinkend, schlug mit den Armen aus, doch eine Gegenwehr gegen den viel breiteren und größeren Philipp war kaum möglich.
Philipp drückte ihn mit aller Kraft nieder, das Gesicht direkt in den blauen Bezug. Er blinzelte viel heftiger als sein Opfer und begriff zum ersten Mal, was ein Rausch war. Er dachte an knackende Schädelknochen.
„J'ai du mal à respirer! J’ai du-!“, ruft Jacques, gewunden und gedemütigt im Griff des Sicherheitsmanns.
„Gib den verdammten Bagger her!“, faucht Philipp zurück.
„Meins!“, erwiderte Jacques zum ersten Mal in einem Verstehensdurchbruch.
Philipp schlug ihm in den Rücken und drückte ihn tiefer. Jacques begann zu schreien, als einer der Finger an Philipps Hand sich bohrend in sein Gesicht drückte.
Dann biss er zu. Philipp schrie auf, taumelte zurück, sein Kopf knallte gegen die Kante der Sitzgruppe.
Jacques nutzte den Moment und sprang zurück, noch immer das Spielzeug in den Händen.
Plötzlich stand Jacques mit dem Rücken zu Philipp. Er gestikulierte wild mit den Armen. Philipp begann erst verspätet zu verstehen, was er damit zu bezwecken versuchte.
„Glaubst du wirklich, der Fahrer wird irgendetwas unternehmen?“, grunzte Philipp und wischte sich das Blut von der Lippe. „Den Zug für jemanden wie dich anhalten und die Bullen rufen, damit sie mich festnehmen?!“
Jacques drehte sich wieder um. Er wich zurück in den Zug und brachte so Abstand zwischen die Beiden.
„Du hast die Familie bestohlen“, knurrte Philipp. „Du hast einem Jungen sein Spielzeug weggenommen! Wie tief kann man eigentlich noch sinken? Du hast hier nichts verloren!“
Philipp begriff erst in diesem Moment, dass der Bagger in den Händen Jacques‘ dem Modell entsprach, dem Lisa und er auch ihrem Sohn schenken wollten. Nicht nur dies, sondern die allumfassende Abscheu, die in ihm aufstieg, als er Jacques betrachtete, mit seinen roten Augen unter dem eingehüllten Gesicht, der aufrechten Haltung im Stand, obwohl dieser Bastard am Boden liegen sollte: Sie ließ ihn vorschnellen.
Aber dort war schon der nächste Stopp und dieses Mal sprang Jacques.
Doch Philipp folgte ihm, obwohl er noch hörte, wie sein Diensttelefon piepte.
Dies war die Endhaltestelle der Linie S2. Hier, wo sie mehr Geld besaßen, jedenfalls in einem Teil der Gegend, hatte man einen leuchtenden Stern oberhalb des Ausgangsportals befestigt. Der Wind trieb diesen von links nach rechts. Unter ihm warteten die einzigen Personen auf dem Bahnsteig: Eine Frau mit einem Kind.
Sie warteten und wichen nicht, als Jacques auf diese zuhielt. Die Frau fiel ihm um die Arme, das Kind um das Bein. Dann überreichte Jacques dem Kind den Bagger in seinen Händen.
Philipp verlangsamte seinen Gang, als er dies sah – und begriff. Für einen Moment wurde er langsamer. Er war sich sicher, dass Jacques nun aufgeben würde.
Jacques war in der Hocke, sagte etwas zu dem Jungen, der gewiss sein Sohn sein musste.
Auf seinem Telefon sah Philipp, dass eine Meldung, die das Ende seiner Schicht verkündete. Irgendjemand anderes war eingesprungen und stellte damit die nötige Zahl für den Einsatz am Heiligen Abend sicher. Es war nun 19.03 Uhr.
„Aufhören“, sagte Jacques gebrochen vor ihm. Er hatte die Arme gehoben und stellte sich vor die Familie.
Philipp musterte die Drei ausgiebig, trotz des Schneetreibens in seinem Gesicht. Eine Frau, ebenfalls mit Kopftuch, komplett verhüllt. Ein Junge in einem löcherigen Komplettanzug und brauner, sandiger Haut.
Eine Durchsage ertönte: Die nächsten Züge würden sich auf unbekannte Zeit verspäten.
Er zückte die Handschellen und deutete auf Jacques: „Du musst mitkommen.“
„Okay“, sagte Jacques und ließ die Arme sinken.
Die beiden Menschen an seiner Seite protestierten. Er sagte etwas auf Französisch zu ihnen und deutete fort von dem Bahnsteig, in Richtung Norden, zur Hochhaussiedlung, die ebenfalls leuchteten, aber ohne Leuchtkränze, ohne Fensterschmuck, ohne Sterne.
Philipp öffnete die Handschellen mit der linken und deutete auf den Jungen mit der rechten. „Das Ding muss er zurückgeben“, sagte er. „Das gehört einem anderen Kind. Denen geht’s vielleicht nicht besser als euch. Nix entschuldigt dein Getue.“
Jacques blinzelte. Er verstand, da war Philipp sich sicher, doch sagte nichts. Er blickte zu seinem Jungen und sagte: „Si tu ne veux pas que ton père soit enfermé, tu dois me donner ça. Je suis désolé.“
Der Junge schüttelte den Kopf und drückte das Spielzeug fest an seine Brust.
Jacques lachte.
Philipp schlug ihm mit den Handschellen ins Gesicht.
„Sorry“, grunzte er. „Das war die Streuselschnecke.“
Für einen Moment sah er sein Gesicht gespiegelt in einem der Glaskästen.
Dann, unter dem Schrei von Mutter und Kind, waren die beiden Männer plötzlich wieder ineinander verkeilt. Sie grunzten, fauchten, schrien und schleuderten Bluttropfen in das endlose Weiß um sie herum.
Der Junge trommelte gegen Philipps Beine, trat, schlug mit dem Bagger aus. Er brachte den Riesen nicht zu Fall, aber ins Taumeln. Dieser aber riss seinen Vater mit sich.
Philipp und Jacques stürzten den Hang hinab, durch den Schnee, ins weiße Dunkel.
Das vibrierende Telefon weckte Philipp auf. Mit dröhnendem Kopf prüfte er die Uhrzeit – 19.24 Uhr – und verstand, dass er nicht lange außer Gefecht gewesen sein konnte.
Das Display zeigte Ibrars Namen.
„Bruder, was tust du?“, kam es knackend aus dem kleinen Gerät. „Deine Frau hat bei mir angerufen. Sie ist bei mir. Wir kommen zu dir. Warum zur Hölle bist du da draußen?“
„Ich tue meine Arbeit“, sagte Philipp und versuchte aufzustehen – er rutschte aus.
„Du verfolgst jemanden“, korrigierte ihn Ibrar.
Philipp sah Blut um ihn herum. „Warum bist du nicht bei deiner Mutter? Dachte, du hast frei?“
„Na, wegen dir, Philipp! Hör mal, ich geb‘ dir deine Frau!“ Er sagte ihren Namen: „Lisa…!“
Weitere Blutflecken – nicht seine – waren vor ihm. Sie führte in die Heckenlandschaft zwischen den Villen.
„Ich muss weitermachen“, sagte Philipp und legte auf.
Er kämpfte sich in einen prächtigen Garten. Hinter großen Fenstern entdeckte er eine ebenso große Familie aus Männern in Anzügen und Frauen in Kleidern, die, begleitet von einem Klavier, Weihnachtslieder sangen. Sie bemerkten weder ihn, noch die andere Gestalt in ihrem Garten.
Jacques saß zusammengekrümmt am Rande eines zugefrorenen Springbrunnens. Zu spät wurde er sich des näherstampfenden Philipps gewahr, der Jacques an den Schultern packte, und mit dem Körper auf das Eis warf und, wie zuvor, mit dem Kopf vorandrückte.
Dann aber schienen Philipps Hände von ihrem Besitzer fortzuspringen. Das Zittern, das er noch im Zug gespürt hatte, fühlte sich mit einem Mal mahnend an. Das kalte Wasser war auch in seine Handschuhe gedrungen. Sie hatte etwas Reinigendes.
Doch Philipp tat nichts, um das Gurgeln Jacques aufzuhalten. Er trat lediglich zurück und musterte dessen Umriss im fahlen Weihnachtslicht.
„Na los“, hörte sich Philipp Raunen, als würde da ein Anderer sprechen als er. „Hilf dir selbst!“
Endlich, vielleicht im letzten Moment, japste Jacques nach Luft und drückte sich über den Rand des Brunnens in die Höhe. Sein nasses, bebendes Gesicht sah sich suchend um, und als es Philipp erblickte, kam es gebrochen hervor: „Warum? Warum hier? Die Leute da – nichts!“
Noch immer hatten die Feiernden nicht bemerkt, was sich im Garten hinter ihnen abspielte.
Der Mann, der für die Sicherheit zuständig war, ließ die Arme hängen.
„Lass mich gehen“, bat Jacques. „C’est Noël. C’est Noël!“
Über den Hecken hinweg sah er die Bootsmasten. Sie waren nicht mehr weit vom Fluss entfernt.
„Lass mich gehen!“, kam es noch einmal von Jacques. Dieses Mal verlangte er.
„Nein“, sagte Philipp, und als er vorschnellte, rannte Jacques schon los.
Er warf sein Quittiergerät nach ihm. Es traf Jacques am Bein und gab ihm die nötige Zeit zum Aufholen. Er würde nicht nachlassen. Fast friedlich schien ihm der Winter nun in seiner blutigen Mission. Er achtete nicht mehr auf den Wind oder den Stimmen.
Er verfolgte Jacques hinab ans Ufer des halb gefrorenen Flusses. In dem schmalen, ländlichen Weg zwischen dem Schilf und den Booten, wusste Jacques keinen Ausweg. Philipp trieb ihn mit seinem Stock voran, über den nächsten Hang, und hinauf auf einen leeren Steg.
„Hab dich“, sagte Philipp und hob den Einsatzstock voran, auf Jacques deutend.
Jacques begann mit gehobenen Armen erneut auf Philipp einzureden. Wieder war es Französisch und wieder ein einziges Hin und Her aus Betteln und Beleidigen, Demut und Drohung – Philipp war sich sicher.
„Ich höre nicht auf“, sagte er nach vorn. „Ich mache meinen Job, auch und gerade an Noël. An Weihnachten. Kapierst du das?“
Jacques war an den letzten Zentimeter des Stegs angelangt. Nun wimmerte er.
„Das Eis dürfte hart genug sein“, sagte Philipp, und nicht mehr, obwohl da noch so viel wartete. Ein letztes Mal stieß er Jacques, der fiel, aus dem letzten Licht des Weihnachtsleuchtens.
Philipp trat an den Rand des Steges und hörte, unter dem Heulen des Winds, Geräusche, die auf ein knackendes Eis hindeuten. Da drüben war ein Boot, an dem er sich festhalten konnte. Die Breite des Flusses war bewältigbar. Auf der anderen Seite erwartete ihn nicht mehr als eine kleine Wiese, dann die Straße. Ein Bus würde nicht mehr fahren. Die gerechte Strafe – und noch immer zu milde – bestünde in dem langen Marsch im Schnee zur nächsten Brücke, drei Kilometer flussabwärts. Wenn er sich beeilte, konnte Jacques den Fluss überkehren und den restlichen Heiligabend mit seiner Familie verbringen – statt zu lungern, stehlen, spucken, beleidigen, anzugreifen.
In seiner moralischen Aufrechnung verging Philipp sein Lächeln. Er sah Jacques nicht mehr in der Dunkelheit, noch hörte er ihn. Mit einer schnellen Bewegung hielt seine zitternde Hand die Taschenlampe. Er leuchtete über das gesamte Ufer hinweg, dann über die Mitte des Flusses – nirgendwo entdeckte er ihn. Ihm wurde Gewahr, dass der Fluss in der Mitte nicht gefroren war.
„Jacques!“, rief er. „Ich bin hier!“
Er erhielt keine Antwort. Der Fluss schien Jacques verschluckt zu haben, und anders als in der Stadt, war niemand da, der angesprochen werden konnte, um zu helfen.
Hinter Philipp tauchte eine Gruppe gut gekleideter Menschen auf. Ihnen schilderte er die Situation. Sie sollten den Krankenwagen und die Feuerwehr rufen – was sie taten, doch nicht genug. Sie redeten auf Philipp ein, mit unzähligen Fragen und der immer wieder ausgesprochenen Forderung, dass „jemand doch etwas tun müsse“.
Es war der Sicherheitsmann, der das Ufer hinab trat und auf das Eis ging. Philipp dachte an Lisa und die Kinder und die Welt, in der sie lebten.