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Weihnachten muß zerstört werden!

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27.07.2003
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Weihnachten muß zerstört werden!

Die Zeit zum Handeln war gekommen. Nur noch ein paar Tage, dann war sie da, die Plage. X-Slayer packte seinen Koffer mit den nötigen Reiseutensilien. Nicht die Reise auf die Malediven, wie leztes Jahr. Schliesslich hatten sie dort auch Weihnachten, und obwohl in der Gluthitze schmorend, wurde man auf Schritt und Tritt von braungebrannten Reise-Animatoren in kurzer Hose und Rauschebart samt Santa-Mütze verfolgt. Ho-ho-ho war das mindeste, was man abbekam. Manchmal, wenn sie einen erwischten, zwangen sie einen, Stille Nacht mitzusingen oder gaben selbst ein besinnliches Gedicht zum besten, das sie kurz zuvor aus dem Internet gedownloaded hatten. Malediven war nun auch verseucht, vielleicht war es schon immer verseucht gewesen, aber dazu konnte er nichts sagen, da er jedes Jahr einen anderen Fluchtpunkt wählte. Die letzen fünf Jahre hatte X-Slayer es in den wärmeren Gefilden versucht, der Idee folgend, daß da wo kein Schnee ist, auch eigentlich keine Besinnlichkeit zu erwarten war. Nachdem er die Karibik, Australien und große Teile Afrikas abgegrast hatte, wurde ihm die Absurdität seines Tuns in vollem Umfang bewusst. Die kälteren Länder, da mußte man kein Prophet sein, um Bärte, Schlitten und beissenden Glühweingeruch zu erwarten; deswegen waren die schon immer auf seiner Zielkarte, die die Wand seines Zimmers schmückte schwarz durchgestrichen gewesen. Als ob sie nie existiert hätten. Mit Wut sah er auf eine leere Cola-Dose hinunter, die auf dem Boden neben dem Bett lag. Er trat auf sie. Einmal , zweimal... Nachdem er wie ein wilder minutenlang auf sie eingestampft hatte, hatte sie das Aussehen einer ausgewalzten Zwei-Euro-Münze angenommen. Ja, so war das gut. Jetzt nur kein Mitleid zeigen. Mitleid und Besinnlichkeit, das war das schlimmste, was ihn jetzt noch überkommen konnte, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er hoffte, sein Kumpan würde sich bald melden, denn die Lichterketten, die sein Nachbar aufgehängt hatte spiegelten sich bereits in seiner Fensterscheibe und drohten feierlich. Das Händy klingelte. Er stutzte als er glaubte "Stille Nacht" in dem elektronischen Gepiepse erkennen zu können. Sein Atem beruhigte sich wieder als er dann doch "Seek & Destroy" von Metallica erkannte. Er summte kopfschwingend zum blechernen Takt mit :
"Searching... Seek and Destroy! Ha hahahaha!"

"Ja, Sterbinsky?", sagte er in den Hörer, der Fotos schießen, Videos aufnehmen, wiedergeben, im Internet Surfen und Texte für Kurgeschichten-Seiten verfassen konnte. Außer einem Swimmingpool war alles darin eingebaut.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang tief und unbekannt.
"Tschuldigung. Habe mich verwählt. Wiederhören", der andere war dabei, wieder aufzulegen.
"Zu wem wollten Sie denn?"
Der andere schwieg betreten für einen Augenblick, dann seufzte er leise.
"Ich, tja... wohnt bei Ihnen ein gewisser Iks-Sleja?"
X-Slayer riss die Augen auf und schrie in den Hörer:
"Bart-Abreisser?"
"...wie bitte? Nein..."
"Gingerbread-Blaster?"
"Nö."
"Na los sag schon, wer du bist. X-Slayer hier."
"Aah!", kam verzückt vom anderen Ende, "Nett, dich mal zu hören. Ich hab mir immer deine Stimme bedrohlicher ausgemalt..."
X-Slayer verdrehte die Augen und ließ seine Piepsstimme für einen Moment lang ruhen.
"Find's auch nett, dich zu hören, Tree-Fire"
"Tree-Fire schuldet mir noch zwanzig Euro, weil er beim letzten Einbruch dem Köter Tic-Tac anstatt Schlafpillen gegeben hat. Mein neuer Pulli ist dahin und..."
"Kreuzdonnerwetternochmal, verrat mir endlich, wer du bist", piepste X-Slayer wie ein wildgewordener Kanarienvogel.
Aber bevor er noch antworten konnte, war X schon selber darauf gekommen. Es war eigentlich gar nicht so schwer. Wer hatte als letzter begriffen, wie man die Verschlüsselung im Browser einschaltete, damit einen die Cops nicht erwischen? Sie hatten immer gadacht, es muss an seinem langsamen PC liegen, den er offenbar noch aus den 3.11-Zeiten hatte, daß er so lange brauchte, um im Chat ein Wort rauszuwürgen. Aber nun wußte X-Slayer es besser. Dieser offenbar Hirnamputierte musste natürlich Jingles-Ringo sein. Was für ein hirnverbrannter Name, dachte X.
"Grüße dich, Jingles", sagte X piepsig.
Der andere rülpste offenbar, vielleicht war es auch eine Netztstörung.
"Wann geht's los. Meine Oma hat schon den Baum gemacht. Es wird langsam Zeit, X."
"Klar ists Zeit. Ich warte schon seit Tagen auf deinen Anruf. Wenn du bereit bist, trommele ich die anderen zusammen und es kann losgehen."
Von Jingles aus konnte es auch losgehen. Er ließ unerwähnt, daß er Weihnachten eigentlich mochte. Er hatte nichts auszusetzen an dem süßlichen Geruch der Plätzchen, die seine Oma zum Fest buk. Oder dem verführerischen Duft von Glühwein, den sie eigenhändig für ihn machte, der sich immer im ganzen Haus ausbreitete und in den Gardinen verfing, der so schön die Enttäuschungen und Schmähungen seines Lebens überdeckte. Jingles-Ringo hielt es für besser, es der Weihnachtshasser-bande zu verheimlichen. Er kannte sie alle bis auf X-Slayer, der erst seit kurzem zur Clique gestoßen war, und binnen kurzem zu ihrem virtuellen Anführer geworden war. X war nicht wie sie alle, das bestätigte auch seine mädchenhaft hohe Stimme. Wahrscheinlich wog er weniger als Einhundert Kilo, konnte womöglich nicht mal Hundertzwanzig Kilo Bankdrücken. Wahrschienlich war er so ein Halbhemd, das Schwierigkeiten damit hatte, die Fernbedienung hochzuhieven. Aber wenn es den anderen egal war, dann schloss er sich ihrer Meinung an. Das war besser so. Seinen Kopf überzustrapazieren mochte er nur ungern, da er ihn noch für das Durchbrechen von geschlossenen Türen brauchte.

Eine halslose Kompanie, jeder kurzgeschoren und im Schulterumfang breiter als die Körperhöhe, standen versammelt in der verlassenen Turnhalle. Sie warteten auf den grossen Auftritt ihres Anführers, ihres geistigen Vaters sozusagen. Sie wußten nie, wogegen sie waren, nur daß sie gegen etwas waren. Aber hatten sie erstmal ein Ziel ausgemacht, das würdig war, darauf wütend zu sein, dann war es kurze Zeit später entweder abgebrannt, niedergetrampelt oder in die Luft gejagt. Auf jeden Fall war es dann Geschichte. Dieses Jahr sollte das Weihnachtsfest daran glauben. Und Coca-Cola. Sie wußten nicht wieso der Getränkekonzern auch ein verwerfliches Objekt war, laut X-Slayer genauso hassenswert wie Weihnachten, aber wenn ein Ding niedergewalzt werden konnte, wieso dann nicht auch zwei? X-Slayer erschien auf der Turnhallentribüne, die etwa drei Meter über den Boden ragte. Irgendwie schien es ihm wichtig, auf die Gorillas von oben runteschauen zu können und das wäre ohne dieses Hilfsmittel schwierig gewesen. Stille breitete sich momentan aus, als ihnen klar wurde, mit welch einem Halbhemd sie sich hier eingelassen hatten. In ihren Köpfen hatte immer das Bild eines Dünnspargels gespuckt; fünfzig Kilo, vielleicht einssechzig groß, was von seinem besser entwickelten Hirn ausgeglichen wäre. Offensichtlich hatten sie sich auch hierbei vertan. Er sah mehr nach einsfünfzig Körpergrösse und vierzig Kilo Körpergewicht aus. Er wirkte mit der Brille wie ein trotziges Kind. Das sollte X-Slayer sein? Schon wollte einer den Knaben fragen, wo der richtige X ist, als das Kind zu sprechen begann. Das schrille vogelartige Piepsen wischte jeden Zweifel beiseite. Diese Stimme kannte jeder von ihnen. Schliesslich hatte er schon mit jedem telefonischen Kontakt gehabt. Sosehr es wehtat, dies war ihr neuer Boss.

"Was machst'n da oben X?", fragte ein frankensteingesichtiger Block, dessen Stimme X als die von Tree-Fire erkannte.
X-Slayer hatte sich lange und gründlich auf diesen Augenblick vorbereitet. Er hatte Unmengen von Reden entworfen, die er wieder verworfen hatte, schienen sie doch alle zu schwierig für die Hirnies, egal wie einfach er sie gestaltete. Im Internet konnte man über solch eine Brisante Sache nicht reden, selbst bei der maximalen Bitanzahl bei DES-Verschlüsselung nicht. Er dachte, die NSA hätte irgendeine Hintertür für DES, damit sie jeden abhören konnte und verschob deshalb die Finale Erklärung, sprich alles auf diesen Augenblick. Trotz stundenlangem Rauchens gestern abend war seine Stimme nicht einen deut überzeugender und weniger quietschentig wie sonst. Und die unendlich dumm dreinblickenden Gesichter seiner Gang festigten in ihm die Gewissheit, daß er es ihnen nie und nimmer erklären würde können.
"Jungs, Gang", begann er, "Hallo, ihr."
Sie schwiegen.
"Scheiss Weihnachten, wir machen kaputt, den Scheiss!", rief er verzweifelt.
Keine Reaktion.
"Wir schiessen den Rentieren die Kniescheiben weg, essen die Leber vom Weihnachtsmann, schneiden den Elfen die Kehlen durch, stehlen alle Geschenke, zünden sie an, jagen sie in die Luft, drücken ihnen das Schmalz aus den Ohren, warten, bis sie nur noch japsen und dann tanzen wir auf ihren Gräbern!"
Langsam erhellten sich die Mienen der Steinblöcke.
"Und wie willst du das machen?", wollte der zwei meter große Bart-Abreisser wissen.
Endlich waren sie auf dem Punkt. Er hatte ihre Aufmerksamkeit.

Sein Hirn stellte die Sätze in eine ihnen verständliche Sprache um.
"Ist'n scheiss, Weihnachten, alter. Aber nicht zu ändern, ey. Wenn der Weihnachtsmann kommt, dann blutet das Herz, da gibt's keine Rettung."
Sie nickten.
"Und wer ist schuld? Coca-Cola, sag ich, ey!"
Sie hörten auf zu nicken. Gingerbread-Blaster trat vor.
"Boss, du weisst, wir mögen dich, obwohl du so dünn bist. Weil kaputtmachen, das ist unsere Sache. Weist, Boss, Cola trinken wir eigentlich gern. Ich, Boss, zum Beispiel, das hab ich dir noch gar nicht erzählt, ich trinke Cola mit Bier gern, wirst sogar noch mehr besoffen von wie von blondem allein. Und alle haben wir uns gefragt, warum willste die plattmachen? Weihnachten von mir aus. Aber wir wollen weiter Colaweizen saufen, Boss."
Das war der längste und durchdachteste Satz, den er je von einem von ihnen gehört hatte. X-Slayer legte die Stirn in Falten. Gingerbread würde er nie mehr unterschätzen.
"Cola schmeckt gut, das ist wohl wahr, aber wollt ihr auch wissen, warum?"
Sie nickten. Klar wollten sie's wissen.
"Weil sie die Leute verhexen. Früher haben sie Kokain in die Flaschen getan, damit's besser geschmeckt hat, bis alle süchtig waren. Außerdem haben die Weihnachten erfunden."
Gingerbread schaute verdutzt.
"Kokain?"
"Koks, sie taten immer ein bisschen Koks rein."
Alle Felsgesichter in der Halle wurden weicher. Keinem war klar, wieso man dann die Firma fertigmachen sollte. Sie hatten offenbar Koks frei unter die Leute verteilt. Es müssen Heilige gewesen sein.
"Die Fima bestand damals aus lauter Junkies. Einer von ihnen, kam dann im Drogenrausch auf die Idee seines Lebens, die uns noch heute quält. Er hat den heiligen Nikolaus als Vorlage genommen und den Weihnachtsmann daraus gemacht. Er hat ihm ne rote Robe verpasst, nen langen, weißen Bart", Bartabreisser zeigte bei diesem Wort lachend seine Zähne, "hat ihm nen Schlitten und Rentiere verpasst, und ließ ihn sein Gottverdammtes Ho ho ho gröhlen. Zuerst war es eine Werbeidee, dann haben sich die Leute daran gewöhnt. Die ganze scheiss Besinnlichkeit, das Wasser in den Augen der Passanten auf den Weihnachtsmärkten, die bunten Lichter, die einem den Atem rauben, das alles basiert auf einer Gottverdammten Werbeidee von Coca-Cola."
X-Slayer schüttelte sich bei diesen Worten vor Ekel.
"Weihnachten muß zerstört werden", sagter er nochmal mit allem Nachdruck.
"Gut", meinte Jingles, "TNT drauf werfen, und fertig!" Er meinte es nicht so, aber bei seinen Kumpels würde er damit punkten.
"Panzerfaust ham wir auch. Jeden, der besinnlich guckt, unter die Erde damit..."
Jingles kam nicht weiter, weil Gingerbread sich vor ihn stellte. Er war noch einen halben Kopf grösser als Jingles. Er hob die Hände und sagte:
"Ihr kapiert doch garnix. Was er uns sagen will, ist: wir können noch soviel auf die Besinnlichen ballern, es bleiben immer noch genug davon übrig. Wir können Coca-Cola auslöschen, bleiben noch die Weihnachtsmärkte und Kaufhäuser mit ihren bunten Kinkerlitzchen. So geht's nicht. Das Problem ist, daß Weihnachten schon in den Köpfen der Leute drin ist. Wir müssten sie in der Vergangenheit packen, am besten da wo die Idee mit der Werbung aufgetaucht ist. Hab ich nicht recht, X?"

X-Slayer war sprachlos. Dieser Gingerbread hatte es faustdick hinter den Ohren. Genau das war der Punkt. Das Problem lag in der Vergangenheit.
"Und deshalb müssen wir in die Vergangenheit reisen, um den Werbefritzen zu töten, der sich das ganze damals im Koks-Rausch ausgedacht hat. X-Slayer ist dünn genug und hat genug Grips um eine Zeitmaschine zu bauen, da bin ich mir sicher. Schaut ihn euch an, der sieht doch schon so verdammt Halbhemdmässig aus. Alle halben Hemden sind dazu in der Lage."

X-Slayer schrie auf. Alles, bis auf den letzten Satz war die reinste Wahrheit. Für diese Detektivleistung hätte Gingerbread-Blaster den Nobelpreis verdient.
"Und sie ist sicher unter der Bühne, stimmts, X?"
Diesmal war es Jingles, der offenbar Gedanken lesen konnte. X tippte auf einen Glückstreffer, warf dennoch einen prüfenden Blick auf ihn. Ihm kam der Gedanke von unsichtbaren Intelligenzstrahlen, die den Raum durchleuchteten.

Die Zeitmaschine war schlicht. Nicht so pompös, wie sie in den Science-Fiction-Filmen immer dargestellt werden. Es war einfach eine große, rechteckige, graue Kiste, die sich mit ihrer Tristheit mit jeder Faser gegen den Weihnachtsramsch zu stemmen schien. X-Slayer betrat sie als erster, die anderen folgten ihm breitschultrig. Man fühlte sich darin wie in einem überdimensionalen Aufzug, bloss das keinerlei Knöpfe zu sehen waren.
"Boss, wieso sind da keine Knöpfe, musse das Teil nich steuern?", fragte einer.
"Ich habs fest auf das Datum programmiert, wo der Werbe-Heini seinen Einfall hat. Wir landen da, drehen unser Ding und verziehen uns wieder. Wenn wir Glück haben, ist dann nix mehr von Stille Nacht übrig."
Jingles schaute traurig drein, liess es aber niemanden anmerken. Das Lied mochte er, weil es eine der Puppen immer gesungen hatte, mit der er früher gespielt hatte. Er behielt das für sich.

1830, das Jahr wo das geschenkbeladene In-sich-gehen erfunden wurde. Sie wussten sofort, dass alles wahr war, was X-Slayer vorhin erzählt hatte. Nirgendwo war auch nur eine Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt. Die Menschen liefen normal auf den schneematschigen Straßen umher, keiner hatte auch nur den Hauch von einem glasigen Blick. X atmete auf. Hier gefiel es ihm. Sollten sie ihre Mission, aus welchem Grund auch immer nicht vollbringen können, er würde sicher hierbleiben. Er sah dick vermummte Kinder miteinander Fangen spielen. Keines von ihnen würde quengeln oder nach einem Geschenk gieren. Aber es würde sich ändern, vielleicht schon in ein paar Jahren, wenn die Coca-Cola-Idee durchstarten würde, würden auch sie Sklaven des Einkaufes und der gespielten Fröhlichkeit werden. X biss die Zähne zusammen und schwor bei seinem Leben, alles erdenkliche zu tun. Bis zum bitteren Ende.

Selbst das Firmengebäude schien das große Brimborium, das in ihm erdacht wurde und in Kürze die ganze Welt beherrschen würde nicht zu bemerken. Einer schlich sich auf leisen Sohlen rein, der Rest rumpelte mehr oder weniger wie eine Einhundert-Tonnen-Eisenbahn ins Gebäude. Es war schon spät und die Flure waren nur noch spärlich beleuchtet. Leere Flaschen standen hier und da. Es sah fast aus wie in der Zeit nach der Einführung des Dosenpfands, nur daß hier keine Plastikflaschen zu sehen waren. Die Menge teilte sich unter X-Slayers Anweisungen in zwei Gruppen auf. Gruppe I, bestehend aus dem Chef persönlich und einigen weniger hellen sollte sich um den Werbedesigner kümmern. Abmurksen war der Plan. Alles andere wäre zu zeitaufwendig und kompliziert gewesen. Gruppe II, unter der Leitung von Gingerbread-Blaster war für Plan B verantwortlich, der eigentlich Plan A war, nur mit einer rabiateren Ausführung. Dem gesamten Firmenvorstand die Kehle durchschneiden war die grandiose Idee, die darauf aufbaute, daß dann niemand übrig wäre, den Brausenkonzern fortzuführen was somit dem Werbefeldzug das Wasser untergraben würde.

X hatte viel über die Möglichkeit von Zeitparadoxen gelesen. Wenn man in der Vergangenheit zurückreiste und den eigenen Großvater umbrachte, dann konnte man nie geboren worden sein, um in der Vergangenheit zurückzureisen, um den Großvater zu töten. Das einzige Paradoxon, das ihn interessierte war jedoch das plötzliche Verschwinden von Weihnachten im Jahr 2003, von niemandem bemerkt, weil es nie erfunden wurde, weil der mögliche Erdenker einem brutalen Mord zum Opfer gefallen war. Weil X das gespielte Gefühlsgedussel hasste. Dafür war es wert, den Lauf der Geschichte umzubiegen auch wenn er gefährliche Seitenflüsse bilden könnte, die vielleicht von niemandem mehr zu kontrollieren wären. X hoffte natürlich inbrünstig daß sowas nicht passieren würde.

Eigentlich konnte nichts schiefgehen. Das Gefühl verstärkte sich noch bei X-Blaster, als er mit seinen Schlägern das Büro des Werbefritzen betrat. Es war überraschend schlicht, eigentlich genau nach X'es Geschmack eingerichtet. Irgendwie erinnerte es ihn an sein eigenes Zimmer in der Zukunft. Sogar eine Weltkarte hatte er an der gleichen Stelle aufgehängt. Das war seltsam. Manchmal war man seinem schlimmsten Feind näher als gedacht. Der Typ saß über einem Stapel Blättern, den kümmerlichen Rücken ihnen zugedreht und nippte an einer Flasche Cola. Er schien von dem Gepolter, mit dem sie ins Zimmer gekommen waren nicht sonderlich beeindruckt. Ein Ruhiger? Macht das der Koks? Dachte X.
Sie standen still abwartend da. Vielleicht stimmte es ja, daß man spürt, wenn seine Zeit gekommen ist. X hatte gehört, daß Leute ruhig werden und es oft schon ahnen, kurz bevor ihnen etwas zustößt.
"Seit ihr also endlich da", sagte der Weihnachtserfinder ohne sich umzudrehen.
"Ja, du Ratte", sagte Jingles mit gespielter Aggression, "wir klatschen dich an die Wand."
"Du scheinst uns mit jemandem zu verwechseln", meinte X-Blaster, "willst du dich nicht umdrehen und einen Blick auf deinen Besuch werfen?"
"Brauch ich nicht, mein Freund. Gruppe II ist sicher beim Firmenvorstand, ihr wurdet erwartet", sagte der Designer mit einer Fistelstimme, die noch um einiges höher als die von X war.
X wußte nicht, ob er sich freuen sollte, daß jemand ein noch feminineres Stimmorgan als er selber besaß, oder entsetzt darüber sein, daß der Drecksack bescheid wußte.
"Woher weißt du Drecksack das alles?", fragte X, packte ihn an der Schulter und drehte ihn auf dem Stuhl zu sich. Was nicht schwer war, er war leicht wie ein Kind.
X-Blaster schaute auf ein rattenähnliches, spitz zulaufendes Gesicht; häßlich aber irgendwie intelligent. Ihm war es, als ob er in einen Spiegel schaute, nur daß der andere noch dünner und ausgezehrter war.
"Boss, das sind ja Sie", bemerke Jingles scharfsinnig, "nur dünner."
"Danke, Jingles, und ausgezehrter. Da wäre ich selber nie darauf gekommen."
X' s Verstand lief auf Hochtouren. Das mußte irgendeine art von diesen Scheiß-Paradoxen sein. Wieso zum Teufel war er jetzt doppelt da? Und wieso hatte er selber Weihnachten erfunden? Er, der Weihnachtshasser erster Güte.
X-Blaster-2 sprach jetzt wieder:
"Du fragst dich jetzt, wieso du doppelt da bist, und warum du selber Weihnachten erfunden hast. Wo du doch der Weihnachten so hasst. Ich weiss was du denkst."
"Was zum Teufel..."
"Ich wußte, daß du das sagst."
"Aber..."
"Das wußte ich auch."
X beschloß erstmal zu schweigen. War der andere vielleicht irgendwie mit seinem Gehirn vernetzt? Wie konnte er wissen, was er denkt?
"Ich erklär's dir", sagte X-2, "Es ist weniger komplizert als du denkst. Natürlich bin ich nicht mit dir vernetzt. Es ist einfach so, daß ich du bin. Wir beide sind eins, dieselbe Person, mit dem Unterschied, daß wir aus verschiedenen Zeiten stammen."
X kratzte sich am Kopf.
"Ich, oder wenns dir besser gefällt, du bist in der Zeit zurückgereist nach 1830, hast den Werbedesigner um die Ecke gebracht und bist in deine Zeit zurück. Mir/dir haben aber die Auswirkungen davon im Jahr 2003 nicht sonderlich gefallen, deswegen bin ich nochmal in die Maschine gestiegen, um den Zeitlauf wieder zurechtzubiegen und um Weihnachten zu retten. So einfach ist das."
"X-Blaster reist in der Zeit zurück, um Weihnachten zu retten und gleichzeitig zu zerstören", sinnierte Jingles.
"Halts Maul!", schrie X-1, "Wie hast du es geschafft, daß du der Designer bist und was für Auswirkungen waren das in der Zukunft, die nicht so dolle waren? Weihnachten war doch weg, oder?"
"Das mit dem Designer war einfach. Ich habe mich etwas weiter zurückversetzen lassen, noch bevor er bei Coca-Cola angestellt war und hab mich um den Posten beworben. Es war einfach, da reinzukommen. Die Auswirkungen auf die Zukunft, das verrate ich dir jetzt nicht..."
"Wieso?", schnaubte X1, "Wieso erzählst du mir nicht alles?"
"Weil du Penner mein Konkurrent bist, und ich dir keinen Vorteil verschaffen will. Wir sind jetzt doppelt da und nur einer darf nach 2003 zurück. Die Zeitmachine ist nur einmal da, weil sie jedesmal denselben Raum einnimmt und sie ist auf ein X-Blaster-Individuum kalibriert. Dämmerts?"

Es dämmerte tatsächlich. Es schien der schwerste Kampf seines Lebens zu werden. Er gegen sich. Der andere wußte alles über ihn. Er wußte was er dachte, wie er handeln würde. Warscheinlich hat er schon alle Vorkehrungen getroffen, um auch die zweite Gruppe zu vernichten. Und seine eigenen Leute, die jetzt hier im Zimmer standen, steckten sicher auch in einem schweren Schlamassel.

Gruppe-II, die den Vorstand killen sollte, war tatsächlich in einer mißlichen Situation. Gingerbread hatte nicht lange gebraucht, um die Lage zu verstehen. Sie waren in eine gut vorbereitete Falle getappt, die nur von jemandem bewerkstelligt werden konnte, der in ihrer Clique bescheid wußte. Ein Maulwurf war es nicht, hätte der doch zu wenig Zeit gehabt, mit den örtlichen Kontakt aufzunehmenm, um sie zu verraten. Nein, es war ein Zeitparadoxon, das war ihm gleich klar. Und als er auf die umstehenden Typen mit ihren angeschlagenen Maschinengewehren schaute, erkannte er Jingles, Tree-Fire und einige weitere seiner Kumpanen. Sie sahen nicht wie sonst aus. Jeder von ihnen wog das doppelte von seinem normalen Gewicht. Sie sahen aus, als ob sie Jahrelang irgendwo eingesperrt und mit Süßigkeiten vollgestopft worden wären, möglicherweise waren sie auch vom Koks aufgedunsen. Die schwitzenden Kugeln zogen den Kreis um Gruppe II immer enger.
"Tut mir leid, Jungs, daß es so enden muß", sagte Tree-Fire-II.
Die Dicken entsicherten gleichzeitig.
Gingerbread konnte nirgends sein aufgedunsenes Ebenbild orten. Vielleicht war das ihr Vorteil, daß die Runden niemanden dabeihatten, der zwei und zwei zusammenzählen konnte. Er versuchte es.
"Ihr seid dabei, einen schlimmen Fehler zu machen", sagte er.
Sie hielten inne, die aufgeschwemmten Gesichter in Fragezeichenform verzogen.
Tree-Fire-II erhob das Wort:
"Boss hat gesagt, wir sollen euch nix über die Zukunft sagen. Nur abmurksen, hat der gesagt. Es ist für eine gute Sache..."
"Ihr solltet mich kurz anhören, Jungs."
Auf Ging hatten sie schon oft gehört und es hatte ihnen bisher nur gutes eingebracht.
"Machma, aber schnell. Wir wollen keinen Ärger mit dem Boss."
"Ich weiss, was ihr denkt, denn ich kann eure Gedanken lesen."
Sie starrten bedröppelt.
"Du, Tree-II zum Beispiel denkst gerade ans Abfakeln, stimmts?"
Tree-II grinste voluminös und nickte.
"Bartabreisser-II hat gerade das Bild eines künstlich bebarteten Billig-Santas im Kopf, richtig?"
Bart-II wurde kugelrot und nickte auch.
"Ich will es kurz machen. Ich weiss alles über euch, weil ich nicht Ginger-I bin, wie ihr alle denkt, sondern Ginger-III. Nachdem ihr uns hier erledigt habt, werdet ihr in die Zeitmaschine steigen, in die Zukunft zurückgehen, dort abnehmen und feststellen, daß die Welt noch schlimmer geworden ist als zuvor. Das, was ihr 2003 gesehen habt, ist ein Zuckerschlecken, verglichen mit dem, was wir gesehen haben... X, ich meine X-3 hat ausgerechnet, daß wir uns vertragen müssen und hier zusammenarbeiten, um den schlimmen Zeitlauf abzuwenden. "
Sie ließen die Gewehre momentan herunter. Der Gedanke, daß sie in der Zukunft abnehmen werden, hatte alle Bedenken beiseite gewischt.
Das war der Moment, auf den Gruppe-II, felsgesichtige Fassung, gewartet hatte.
Mit einem kollektiv gebrüllten "Tod dem Weihnachten" warfen sie sich auf die Weihnachtsbefürworter. Diese hatten in ihrem momentanen Zustand keine Chancen gegen die Abriss-Truppe. Die Doppelgänger wurden nach allen Regeln der Kunst übermannt und ohne mit der Wimper zu zucken ermordet. Körperteile lagen auf dem Boden verstreut herum, das Blut hatte jeden Fleck des Konferenzraumes rot eingefärbt.
"Wie weihnachtlich", sagte Gingerbread-Blaster und nickte den anderen zu, zu gehen.

Als X-Blaster-II die blutbespritzten Halslosen ins Zimmer kommen sah, fielen seine rattenartigen Mundwinkel nach unten und er schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
"Diese Idioten. Ich sagte noch, nicht lange labern, sondern gleich killen...", seine Augen huschten in alle Richtungen, um einen Fluchtweg auszumachen. Aber wie soll man flüchten, wenn der Weg mit zwei-meter hohen Grabsteinen gepflastert ist? Er fühlte innerlich, daß seine Zeit gekommen war.
"Deine Zeit ist gekommen, du lächerliche Parodie!", sagte X, der sich inbrünstig für das Original hielt, was physikalisch keineswegs belegt war.
"Übernimmt das jemand für mich? Ich habe hemmungen, mir selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen", X gab seine Pistole an einen der Umstehenden.

24.12.2003

Wie würde sie aussehen nach der erfolgten Operation, die einst so weiße Weihnacht? Voller Erwartung, aber auch mit einer Prise Unbehagen ging X-Blaster nach Hause zurück. Die anderen hatten sich gleich nach der Ankunft verdünnisiert, planten sie doch für morgen einen neuen, noch besseren Anschlag, der hoffentlich noch mehr Menschenleben kostete. Zunächst hatte er die Zeitmaschine demontiert. Er wollte nie wieder Überraschungen der Art, wie sie in der Vergangenheit vorgekommen waren, erleben. Er grübelte. Wenn das Ding jetzt nicht mehr existierte, wie konnte er dann zurück nach 1830 gehen, mit sich selber kämpfen, den anderen töten und die gegenwärtige Realität real werden lassen. Ihm brummte der Kopf. Er beschloss, diesen blöden Internet-Nick nie mehr zu benutzen. Ab jetzt hiess er schlicht und einfach Harald Sterbinsky, basta. X-Blaster war für immer und ewig begraben.

Der erste Eindruck war positiv. Wie 1830 gab es von außen kein erkennbares Zeichen von Weihnachtsstimmung auf den Straßen und obwohl es schon nach Mitternacht war, verpestete kein fröhlich blinkender Weihnachtsbaum seine Sicht. Kein Papp-Weihnachtsmann stieg an einer Wand hoch. Die Fenster waren alle dunkel, ohne Kinkerlitzchen. So hatte er sich immer Stille Nacht vorgestellt, wirklich still. Er ging heim und legte sich ins Bett. Er schlief tief und fest, das beste hoffend.

Am Morgen gab es dann für Harald ein paar Überraschungen. Zunächst einmal hatte er jetzt eine Frau. Und die war offenbar Unterwäsche-Model, wie er aus den Augenwinkeln verschlafen sehen konnte. Sie stand mit einem T-shirt und Slips bekleidet in der Küche und machte Frühstück. Ihre Beine hatten eine Länge, wie er sie nur im Guinness-Buch der Rekorde, Abschnitt Körperteile gesehen hatte. Mindestens Einmeter-dreissig lang, dachte Harald. Aber was war, wenn das gar nicht seine Frau oder Freundin war? Wenn er aus versehen ins falsche Haus gegangen war? Panik ergriff ihn.
"Ausgeschlafen, Schatz? Sie kam näher und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. "Na, will mein Bussi-Bärchi-Schatzi vielleicht noch ein bisschen Sex am morgen?"
Sie beugte sich über ihn, rammte ihm ihre Zunge in dem Mund. Mit aufgerissenen Augen ließ es Harald mit sich geschehen. Sie war blond, einsachtzig groß, sah besser aus als Heidi Klum zu ihren besten Tagen und schien keine anderen Interessen zu haben, als ihn morgens mit Sex zu beschenken. Fünf Minuten später, als sie fertig waren, besser gesagt, als er fertig war, stand sie nackt auf, um sich zu duschen.
"Bussi-Haraldi, wenn du nochmal willst, sagst du sofort bescheid. Ich will daß du glücklich bist."
Sie sagte das mit einem Nachdruck, der ihn erschaudern ließ. War das die schlimme Zukunft, vor der ihn X-2 warnen wollte? Oder haben sie sie mit ihren Kämpfen wieder in eine andere Richtung gebogen. Diese Entwicklung gefiel Harald erstmal. Er dachte über ihr Angebot nach, Neugierde, wie die restliche Welt so aussehen mochte, ließ ihn aber davon absehen. Er duschte sich schnell, warf sich einen Armani-Anzug aus seinem Schrank über, der da offenbar schon immer gehangen hatte und ging zu seinem Ferrari in die Garage.

31.12.2003. morgens.

Bücher. Die Bibliothek war Haralds erste Anlaufstelle um zu sehen, wie sich die Welt in den letzten Einhundertsiebzig Jahren entwickelt hatte. Geschichte-Grundschule, da stand doch alles kurz zusammengefasst. Er öffnete das Buch hastig, blätterte darin. Was ihm zuerst auffiel: Es hatten keine Weltkriege stattgefunden. Keine Spur von Weltkrieg-I, keine Massengräber in Verdun. Millionen Menschen hatten ihr Leben behalten. Toll. 1940 war sichtlich auch nichts besonderes passiert. Außer daß alle asiatischen Staaten zu einem großen, fröhlichen Land wurden. Friede, Freude, Eierkuchen. Danach kein Kalter Krieg, Atomwaffen wurden nie erfunden. Haralds Puls schoß auf Einhundertachtzig, als er merkte, daß er wirklich großes geleistet hatte. Niemand achtete auf ihn, als er so allein dasaß, aber er fühlte sich stark. Mit seinem infantilen Weihnachtshass hatte er die Welt gleich mit verbessert.
"Mit links erledigt", sagte er zu sich leise und grinste.

"Harald, was in Gottes Namen machst du da?", hörte er die Stimme seiner Frau.
Sie kam mit einer großen Einkaufstüte in die Bibliothek gehastet. Er schaute sie an. Sie sah verhetzt aus. Er schaute sie nochmal an. Nein, es war nicht Verhetztheit, er hatte sich geirrt. Es war etwas viel grundlegenderes. Sein rattenartiger Mundwinkel zuckte nervös als er es sich eingestehen mußte: Sie schaute besinnlich.
"Baby, heute ist doch das große Fest. Ich will, daß du da nicht in Bibliotheken rumlungerst. Komm mit nach Hause."
Auf dem Heimweg sah Harald noch mehr seltsame Gesichtsausdrücke. Die Menschen auf der Straße hatten allesamt Wasser in den Augen. Glasiger Blick. Er kannte das, aber wie konnte das sein, ohne Weihnachten. Es hing natürlich irgendwie mit dem heutigen Fest zusammen. Meine Fresse, dachte er, hatten die Weihnachten jetzt auf Sylvester verlegt? Aber Weihnachtsmänner oder ähnliches gab es ja nicht zu sehen. Soweit so gut. Irgendwie schien eine große goldene Rakete an ihre Stelle getreten zu sein. Überall zierten goldene Raketen die Fensterscheiben. In allen Variationen und Größen. Manche hatten Münder und Augen aufgemalt, manche sahen eher wie Kanonen aus. Aber alle waren sie oben spitz zulaufend. Es mußten Raketen sein. Goldene Raketen.
Er rümpfte seinen spitzen Mund und seufzte. Ein besinnliches Fest durch ein anderes ersetzt, na toll. Aber es war nicht so schlimm wie Weihnachten. Und daß er die Welt vor zwei Kriegen bewahrt hatte, das zählte natürlich auch. Und dafür, wie seine Frau aussah, dafür lohnte es sich, sämtliche Raum-Zeit-Kontinuen zu sprengen und die Zeitläufe in wirres Spaghetti zu verwandeln.

Fünf Minuten vor Neujahr

Harald saß vor dem Fernseher da, eine Sektflasche in der Hand.
"Schatz, wo bleibst du?", rief er, "du verpasst den Rutsch!"
Seine Frau kam rein, mit einer schwarzen Plastikschürze und schwarzen Handschuhen bekleidet. Sie schob eine Art Liege ins Zimmer.
"Leg dich jetzt da hin", befahl sie.
Obwohl er das Feuerwerk und die goldene Rakete (oder was das sein sollte) nicht verpassen wollte, dache er, jetzt ein kleines Sex-Spielchen könnte eigentlich nicht schaden. Sicher wären sie, wie immer, in ein paar Minuten fertig und er würde nichts verpassen. Noch drei Minuten. Er legte sich auf die Liege. Sie schnallte seine Hände und Füße mit Riemen Fest.
"Ah, die harte Tour heute..."
Seine Frau wußte ihn immer noch zu überraschen. Sie zog sein Hemd und seine Hose aus. Seinen Slip schnitt sie kurzerhand mit einem Messer durch und warf ihn kaputt auf den Boden.
Noch zwei Minuten. Sie schmierte seine Genitalien mit einer klebrigen Flüssigkeit ein. Musste das sein, dachte er. Auf die Wascherei danach wollte er eigentlich heute abend verzichten und sich so richtig gehen lassen.
Noch eine Minute. Die Fernsehsender unterbrachen ihr laufendes Programm. Es trat der Präsident ins Bild.

"Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir wollen jetzt diesen feierlichen Augenblick der Goldenen Rakete begehen. Wir wollen all den Männern aus tiefstem Herzen danken, daß sie sich für uns aufopfern. Das Fest der Goldenen Rakete ist nicht nur einfach ein Fest. Nein, es ist in unserer Kultur verwurzelt, es erlaubt uns, überhaupt zu existieren. Die Weltbevölkerung hat sich seit dem 19. Jahrhundert auf zwanzig Milliarden Menschen erhöht. Dazu hat das Fehlen von Kriegen nicht unmaßgeblich beigetragen. Wir freuen uns, daß wir keine Kriege mehr führen, das ist wahr, aber unser neuer Gegner ist die Fruchtbarkeit. Das Fest der Rakete erlaubt es uns, die Fruchtbarkeit im Zaum zu halten, indem wir jedes Jahr zum Sylvester ausgewählte Männer um ihre Männlichkeit bringen. Auf, daß die Goldene Rakete hoch gen Himmel empor schwebe."

Beifallsturm. Seine Frau kam immer näher und...

Schnipp

Flieg, Goldene Rakete, Flieg!

Und sie hatten 2004.

 

Moin megarat,

Mal eine Kritik in Stichwortform:
Deine Geschichte hat mir ziemlich gut gefallen. Voller skurriler Ideen und mit einer guten Prise Humor gewürzt.

Nicht so toll fand ich allerdings die Stelle, an der X und seine Jungs auf ihre Doppelgänger treffen. Der Gag mit Zeitparadoxa und auf sich selbst treffen ist wirklich ziemlich alt. Dazu kommt, daß mich dieser Teil ein wenig verwirrt hat. Was ich aber wieder witzig fand, war daß diese ganzen Paradoxa, die du aufgeworfen hast, nicht gelöst werden und scheinbar auch keinerlei Auswirkungen haben.
Schade fand ich, daß du nicht erwähnt hast, warum X plözlich mit dieser Frau verheiratet ist, warum sie sich ihm als Sexsklavin unterwirft (ziemlich unemanzipiert), woher er die ganze Kohle hat und warum er einer der Auserwählten ist. Da steckt noch einiges an Potential drin. Wie hat sich die Gesellschaft verändert, da es kein Weihnachten gibt?
Ein wenig seltsam auch der Zeitsprung vom 24. auf den 31. Dezember. An Sylvester führt ihn sein erster Weg in die Bücherei. Was hat er die ganze Woche vorher gemacht?

So, das war jetzt zwar nur Gemecker (das waren die gröbsten Ungereimtheiten, die mir auffielen), aber insgesamt hat mir deine Geschichte trotzdem gut gefallen.

 

Hi Gnoebel,

danke fürs lesen des ewig langen Schinkens.
Zeitreisen und Paradoxone, ja das mag alt und langweilig sein, was solls, einmal wollt ich sowas schreiben :) Am Ende wirds in der Tat ein wenig sprunghaft, liegt aber daran, daß sonst der Text ca. 20 seiten lang geworden wäre, und dann, ja dann hätt ihn sicher niemand gelesen. (Meine Messungen bei kg.de ergeben, daß die Lesebereitschaft umgekehrt proportional zur Textlänge ist, das Optimum liegt wohl so bei 3 Din-A-4 Seiten)

Daß dieser X auf einmal mit dem Model verheiratet ist, ist einfach Zufall (kann passieren, bei Parodoxen.. oder heisst das Paradoxonen? weiss nich..)
Ahja da fällt mir ein: Ich wollts ja so schreiben, daß die "Auserwählten" eine Woche lang, kurz bevor sie entmannt werden, noch das Leben geniessen sollen und daß die Frau ihm deswegen zugeteilt worden ist...habs dann weggelassen, hätt die Story noch länger gemacht...
Kann man eigentlich in einer Kurzgeschichte alles schlüssig erklären? Hm ich glaube ich kann das nicht auf ein paar Seiten...

ein Hilfloser
megarat

 

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