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Weihnachten 2016
In der Heiligen Nacht sprühten Unbekannte »Ausländer raus aus Deutschland« auf die Schaufensterscheibe des Obst- und Gemüseladens, der seit über zehn Jahren von Aram Boyacian betrieben wurde. Im Ort hielten ihn alle für einen muslimischen Türken, tatsächlich aber stammte er aus einem kleinen Bergdorf im Irak und war ein armenischer Christ. Deshalb fuhr er manchen Sonntag gut fünfzig Kilometer zur armenischen Gemeinde und besuchte über Weihnachten Landsleute, mit denen er in die Weihnachtsgottesdienste ging. So bekam er die Schmiererei gar nicht mit.
Nach Weihnachten stand seine Angestellte alleine im Laden und regte sich über den Schriftzug auf der Schaufensterscheibe sehr auf. Da es kalt geworden war, hatte sie keine Obst- und Gemüsekisten auf die Auslagen vor dem Laden gestellt, das ganze Angebot befand sich im Verkaufsraum.
Schon zwei Minuten nachdem sie aufgeschlossen hatte, kam die erste Kundin:
„Hallo, ich hätte gerne zwei Kilo Apfelsinen.“
„Guten Tag, es tut mir Leid, aber Apfelsinen haben wir heute nicht.“
„Naja, dann nehme ich halt Mandarinen.“
„Wir haben leider auch keine Mandarinen, genauer gesagt, haben wir gar keine Südfrüchte.“
Die Kundin schaute ebenso erstaunt wie ihre Nachbarin, die gerade in die Tür gekommen war und fragte: „Und wie ist es mit Bananen?“
„Nein, leider auch nicht.“
Ratlos gingen die beiden Frauen zwischen den Obstkisten herum und stellten fest, dass zwischen den Kisten sehr viel mehr Platz war als noch vor Weihnachten.
„Letzte Woche hatten Sie hier Renette-Äpfel, die haben mir sehr gut geschmeckt, aber jetzt sehe ich sie nicht. Haben Sie alles ausverkauft?“, fragte ein älterer alleinstehender Herr, der die ausgestellten Äpfel begutachtete.
Die Verkäuferin zuckte mit den Achseln: „Wir bekommen die Äpfel von einem Biobauern aus Frankreich: Heute kam noch keine neue Lieferung.“
Ein Junge kam in den Laden gestürmt: „Mama braucht ein Päckchen Zuckererbsen.“
Die Verkäuferin suchte einen Moment und meinte dann: „Tja, Ich kann dir nur tiefgekühlte junge Erbsen aus deutscher Ernte anbieten.“
„Da muss ich Mama erst fragen.“ Und schon rannte der Junge wieder aus dem Laden.
Inzwischen waren weitere Kunden gekommen und kauften auch manches ein. Aber vieles gab es nicht. Zum Beispiel Tomaten, was allen sehr auffiel.
Einige Kunden bekamen ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wollte Herr Boyacian seinen Laden etwa schließen?
Ein junger Lehrer kam in den Laden, um sich ein wenig Obst und Nüsse für sein Müsli zu holen. Als er nur zwischen drei Sorten Winteräpfeln wählen konnte, fand er die Erklärung:
„Es gibt hier nur noch Obst und Gemüse aus Deutschland.“
Er hatte seine Erkenntnis so laut herausposaunt, dass jeder im Laden sie deutlich hören konnte. Alle Augen starrten auf den Schriftzug an der Schaufensterscheibe. Dann redeten die Menschen im Laden wild durcheinander und fragten, ob Obst und Gemüse dieser Aufforderung etwa gefolgt seien oder ob diese Verknappung eine ganz perfide Strategie von Herrn Boyacian sei. Aber dann war zu hören, dass es bei Bäcker Becker keine Schokoladen-Croissants gebe. Der Lehrer konnte sich gleich wieder als Besserwisser geben und erklären: „Schokolade enthält Kakao und Kakaobohnen wachsen ebenso wenig in Deutschland wie Kaffeebohnen.“
Einige Kundinnen eilten daraufhin zum Supermarkt. Auch dort waren die Regale weitgehend leer. Es gab nichts mehr aus anderen Ländern. An den Kassen herrschte heillose Aufregung. Der Marktleiter rang seine Hände: „Wir haben unsere neuen Registrierkassen erst vor zwei Monaten aus Taiwan erhalten – und jetzt sind sie spurlos verschwunden. Wenigstens das deutsche Wechselgeld ist noch da.“
Besorgt fragte eine Frau die Umstehenden: „Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass viele Nachbarn fehlen, die sonst mit uns einkaufen?“
„Naja, die Ehefrauen von den Gastarbeitern scheinen nicht zu kommen.“
„Ich kenne manche Nachbarn, die aus anderen Ländern gekommen sind. Keinen von ihnen habe ich bisher gesehen.“
Der Lehrer kam auch wieder und erzählte: „Der Unterricht fällt heute aus. In der Schule herrscht helle Aufregung. Die Austauschlehrer aus Frankreich und Australien fehlen und mehrere Schüler sind auch nicht erschienen.“ Er grummelte vor sich in und meinte dann: „Ich verstehe das nicht. Ein guter Schüler von mir zum Beispiel. Seine Eltern kommen aus der Türkei. Aber er ist in Deutschland geboren und hat einen deutschen Pass.“
„Was bedeutet denn Ausländer? Sind wir nicht alle irgendwie Ausländer?“, warf eine Frau ein und wunderte sich anschließend über sich selber. Wie war sie bloß auf diesen Gedanken gekommen.
„Wohin verschwinden denn alle? Die Südfrüchte und die Menschen und was noch alles?“, fragte jemand.
Die anderen lachten, aber der Lehrer begann zu rechnen: „Wir wissen nicht, ob nur bei uns alles Ausländische verschwindet oder auch an anderen Orten. Denn dann dürften in Spanien oder in Israel die Apfelsinen meterhoch auf den Straßen liegen. Und wo sollen die ganzen Menschen jetzt unterkommen. Die haben doch nichts mit und in ihrer alten Heimat ist wahrscheinlich gar kein Raum für sie.“
„Ich fürchte, es wird noch viel mehr fehlen“, stöhnte jemand.
„Was meinen Sie damit?“
„Na, schauen Sie doch einmal auf die Straße.“
„Ist irgendwo ein Unfall? Oder wieso stehen die Autos?“
„Wie sollen sie denn ohne Reifen fahren?“
„Wieso, was haben denn Reifen damit zu tun, die gibt’s doch überall zu kaufen.“
„Ich hab‘ neulich gelesen, dass die Industrie Naturkautschuk verwendet und der kommt auch aus dem Ausland.“
„Man könnte auch Kautschuk aus Kohle herstellen, aber der ist teurer“, warf der Lehrer ein.
Überall standen ratlose Menschen herum. Ihre Autos sahen aus, wie frisch vom Schrottplatz geholt. Alle wischten vergeblich auf ihren Smartphones. Einige ältere Menschen hatten noch Uralthandys aus deutscher Produktion. Aber selbst deren Innenleben hatte sich verflüchtigt. Ein genervter Autofahrer fragte: „Wie soll ich jetzt meinen Chef anrufen, dass ich zu Fuß kommen muss?“
„Wollen Sie denn barfuß laufen?“
Erstaunt schaute der Mann auf seine bestrumpften Füße: „Meine italienischen Schuhe! Die waren sauteuer.“
Jemand meinte dann: „Ich fürchte, manches wird demnächst sehr viel teurer. Wirklich ganz dumm, was hier passiert ist.“
„Vielleicht sollten wir den Schriftzug von der Schaufensterscheibe entfernen und Ausländer willkommen darauf schreiben“, schlug der Lehrer vor.
„Meinen Sie, das hilft?“
Er zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Hat überhaupt die Schmiererei an der Schaufensterscheibe dieses Geschehen, um nicht zu sagen, diese Katastrophe ausgelöst?“
Jemand kicherte. „Oder ist ein Engel vom Himmel gekommen und hat alle Fremden in ein besseres Land geführt?“
Eine ältere Frau schüttelte den Kopf: „Also mir ist sehr unwohl. Ich geh zum Pfarrer. Vielleicht hat der ja ‘ne Idee, was man tun kann.“
Einige Frauen eilten zur Kirche. Als erstes stellten sie fest, dass die Kirchenpatrone, Petrus und Paulus ihre Sockel verlassen hatten. Links vom Altar stand zwar noch die Krippe, aber die Figuren waren nicht mehr da - weder die Hirten noch die drei Könige aus dem Morgenland, nicht einmal Maria, Josef oder das kleine Jesuskind. Nur über der Krippe schwebte weiter der Engel. Er schaute aber gar nicht mehr freudig und selbst sein Spruchband hing traurig herab und die Schrift war so verblasst, dass man nur noch entziffern konnte: „Erde . . . den Menschen“.
Neben der Krippe stand ein Jugendlicher und malte mit seinem Filzer ein Fragezeichen auf das Spruchband.
„Sie können doch nicht einfach ...“, begann eine erboste Frau, als neben ihr die sanfte Stimme des Pfarrers erklang: „Wem gehört denn die Erde?“
Es wurde Nacht. Frau Weber lag im Bett und freute sich kein bisschen auf den kommenden Tag, Sie konnte nicht einschlafen, weil sie über die Worte des Pfarrers nachdachte. Wenn jetzt der Weihnachtsengel käme, was würde er uns verkünden? „Nun seht mal zu, wie ihr alleine zurechtkommt“, oder? Dann träumte sie von einem riesigen in dunkle Flammen gekleideten Engel, der auf dem Marktplatz stand und rief: „Fürchtet euch.“
Der Lehrer hatte Besuch von einem Freund, der fünfzig Kilometer mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte und ihm atemlos berichtete, die orthodoxe Gemeinde, zu der auch Herr Boyacian gehörte, sei während ihres Weihnachtsgottesdienstes spurlos verschwunden. Sie alarmierten ihre Bekannten und alle trafen sich am Laden. Weitere Passanten kamen dazu und halfen mit, die Schmiererei vom Schaufenster abzuwaschen. Dann pinselten sie gemeinsam mit weißer Farbe „Ausländer willkommen.“ auf die Scheibe.
„Hoffentlich hilft es“, murmelten einige dabei.
„Morgen ist alles wieder gut.“