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Weißes Fell und Menschenhaut
Ich möchte voranstellen, dass entgegen des landläufigen Glaubens der Biss eines Werwolfs das Opfer nicht zu einer Kreatur gleichen Ranges macht. Vielmehr verwandelt sich das Opfer in einen Wolf und wird mit der Zeit vergessen, wer es war. Es wird ein willenloser Diener des Lykanthropen, der sich so ganze Meuten schaffen kann.
- Felven von Bleckenfels, Wanderscholar
Dem Hammerschlag folgt ein Blutregen, der sich auf dem umliegenden Morast absetzt. Anna holt erneut mit ihrem Kriegshammer aus. Vor ihr liegt ein alter Mann, das Gesicht eingedrückt, der Brustkorb auseinandergerissen. Gerade einmal an den ledrigen Händen kann man noch das Alter ablesen. Von den Bissspuren erkennt man nichts mehr.
Ich sehe meiner Zwillingsschwester zu, sitze an einen Baum gelehnt. Ich bin erschöpft, stinke nach Schweiß und bin voller Blut. „Ist es geschafft?“, rufe ich.
Anna lässt von dem Mann ab. „Nun gut, ich hole den Torfstecher.“
Sie geht los und ich ziehe mich zwischen die Bäume zurück. Vor fünf Jahren bin ich das erste Mal außerhalb der Burg aufgewacht. Voller Blut. Und es war nicht mein eigenes.
Ich höre die Schritte von Anna und einer weiteren Person.
„Meine Güte, Herrin van Vlegge!“, keucht eine männliche Stimme.
„Sei still, Alvar. Mach deine Arbeit.“
„Herrin van Vlegge!“, begehrte er noch einmal auf. „Warum tut Ihr das?“
Anna antwortet nicht. Ich kann sie mir jedoch bildlich vorstellen, wie sie vor dem gebeugten Torfstecher steht und einfach nur abwägend ihren Kriegshammer begutachtet. Das ist ihre Idee gewesen. Es gibt zwar zuhauf Hunde und Wölfe in der Gegend, doch die richten keine so schlimmen Wunden an wie ich. Deswegen verrichtet Anna ihr Werk. Um die Spuren zu verwischen. Ich glaube, es macht ihr Spaß.
„Die Menschen werden unruhig, Herrin van Vlegge! Ihr seid unsere Herrin, aber wenn die Angst zu groß wird … vielleicht tun sie etwas Unüberlegtes!“
„Muss ich meine Männer rufen, Alvar?“
Die Antwort war ein eifriges Scharren in der Erde.
„Können wir sie nicht einfach begraben?“, fragte ich einmal. „Dann kriegt es keiner mit.“
„Bis einer auf der Suche nach den Toten ihre Gräber findet? Nein, die Menschen brauchen eine Geschichte, damit sie keine Fragen stellen“, sagte Anna. „Und die Geschichte ist, dass ich eine blutrünstige Tyrannin bin. Jeder Landstrich Fiskgards kennt seine wahnsinnigen Adeligen. Da werden ausgerechnet die Bauern Olavstadds sicher nicht anfangen, darüber nachzudenken.“
Eine grauenhafte Erklärung. Aber bis jetzt hat sie recht behalten.
Alvar braucht einige Zeit, um das Grab auszuheben. Anna geht bereits los und ich folge ihr so, dass der Torfstecher mich nicht sehen kann. Wir gehen weiter in den Wald hinein, drei Männer aus der Burg erwarten uns. Sie blicken ausdruckslos, wie immer, wenn Anna sie auf ihre „Ausritte“ mitnimmt. Ich schließe zu Anna auf, sie läuft kommentarlos zügig weiter in Richtung der Straße, wo ein vierter Wächter aus der Burg mit den Pferden wartet. Plötzlich wird mir flau, ein seltsames Kribbeln geht mir durch die Fingerspitzen und die Knie. Ich bleibe stehen, schließe die Augen. Es fühlt sich an, als würde sich alles drehen.
„Maria!“
Ich spüre Druck um meinen Oberkörper, reiße die Augen auf. Anna steht bei mir, einer der Wächter hinter mir. Ich hänge in seinen Armen wie ein nasser Sack. „Was ist passiert?“
„Du bist einfach umgekippt. Mach jetzt keinen Unsinn.“ Anna schüttelt den Kopf. „Du reitest bei mir mit, wir schaffen dich zur Burg und dann ruhst du dich aus.“
Jasper weicht Annas Angriff durch eine leichte Drehung aus und verpasst ihr mit seinem Holzschwert einen Schlag auf die Hand. „Nicht so ungestüm, Fräulein Anna.“ Er sieht zu mir und grinst schelmisch. Anna versucht sofort den nächsten Angriff, doch Jasper ist keineswegs abgelenkt. Er hat sie nur provozieren wollen. Unter dem Schlag taucht er durch und fällt aus, lässt das Holzschwert kurz vor ihrem Hals stehen. Sein Lächeln verschwindet. „Es ist mein Ernst, Fräulein Anna. Wenn Ihr so ungestüm auf einen ausgebildeten Schwertkämpfer zustürmt, nützen meine Lektionen nichts.“ Anna macht einen Schritt zurück und wirft das Holzschwert achtlos zur Seite. Wie häufig verlässt sie den Kampfraum ohne ein weiteres Wort.
„Wollen wir es versuchen, Fräulein Maria?“, fragt Jasper. Er zeigt sein verschmitztes Lächeln, das so viel besser zu ihm passt als die grimmige Miene, die er aus der Armee mit zu uns gebracht hat. Dieser schreckliche Bart. Zum Glück konnte ich ihn bald nach seiner Anstellung überzeugen, ihn gehörig zu stutzen.
„Ich glaube, für heute ist es genug.“ Ich hänge das Holzschwert hastig auf und laufe zur Tür.
„Ist alles in Ordnung?“
„Alles gut“, sage ich hastig und verschwinde durch die Tür. Schnell gehe ich Anna nach, deren Schritte in den steinernen Gängen der Burg laut widerhallen.
„Anna, warte!“, sage ich gerade so laut, dass es noch kein Rufen ist. Meine Zwillingsschwester dreht sich um, das blonde Haar klebt ihr schweißnass im Gesicht. „Was ist?“
„Ich muss mit dir sprechen.“ Ich ziehe Anna einen Gang weiter in meine Kemenate.
„Es ist wegen Jasper.“
Anna hebt die Hände. „Als ob ich das noch nicht mitbekommen hätte. Es ist mir scheißegal, mit wem du …“
„Das ist es nicht. Doch. Es ist …“ Ich lege die Hände auf meinen Bauch. Anna reißt die grauen Augen auf, die im dämmrigen Licht fast schwarz erscheinen. Dann schlägt sie mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Es brennt.
„Du dummes Mädchen.“ Sie lässt sich auf eine Bank fallen und vergräbt das Gesicht in den Händen. Sie hat sich immer um mich gekümmert. Zwischen den Fingern nuschelt sie hervor: „Du dummes, dummes Mädchen. Bist du dir sicher?“
„Ja. Ich glaube, ich kann mit Jasper darüber reden, aber … ich habe Angst.“
„Die solltest du auch verdammt noch mal haben.“
Ich antworte nicht und Anna sieht auf. „Du meinst wegen der anderen Sache.“
Mein Mund ist trocken und ich kann nicht antworten.
Wir sitzen abends in meiner Kemenate zusammen. Ich hocke am offenen Fenster sehe hinaus in den dunkler werdenden Himmel. Anna steht vor mir. „Was hat er gesagt?“
„Er war erst geschockt“, sage ich langsam. „Aber dann hat er mich in den Arm genommen.“ Ich sehe zu meiner Zwillingsschwester. „Er liebt mich, Anna. Wirklich. Wir können das vielleicht schaffen.“
„Er liebt dich, so ist das also. Maria! Er ist ein Schürzenjäger. Wenn er dich lieben würde, dann hätte er seinen Samen auf den verdammten Boden gespritzt!“
„Sprich nicht so von ihm! Er ist ein besserer Mann, als Vater für mich aussuchen würde.“
„Du bist verrückt. Meinst du, Vater wird dich mit Jasper hier einfach aus der Burg herausspazieren lassen?“
„Leise, Anna, verdammt. Ich weiß doch auch nicht, was wir tun sollen. Aber ich wollte wissen, wie Jasper dazu steht. Und er steht zu mir.“
Ich stehe zwischen den Bäumen und beobachte aus einigem Abstand die Arbeit des Torfstechers. Mit einem Spaten lockert er den Boden auf. Immer wieder wirft er Blicke über die Schultern in Richtung Olavstadds, seines kleinen Dorfes. Neben ihm liegt die Leiche eines Bauernjungen. Er ist beinah auseinandergerissen, durch grobe Hammerschläge ist sein Gesicht nicht mehr zu erkennen, der Leib eingedrückt.
Der Torfstecher hat einen seltsamen Geruch an sich. Einen, den ich trotz der Entfernung wahrnehme, trotz des zerfleischten Jungen neben ihm. Ich atme den Duft ein, der anziehend und abstoßend zugleich ist, wie verrottendes Obst. Trete zwischen den Bäumen hervor und mache einige Schritte auf ihn zu, bleibe an einem Holzzaun stehen. Da sieht Alvar auf. „Herrin van Vlegge, Ihr seid noch hier?“
Ich antworte nicht. Er hält mich für meine Schwester. Ich beginne zu zittern. Der Geruch bekommt weitere Nuancen. Alter Schweiß, etwas Saures. Und dahinter liegt Gefahr. „Herrin van Vlegge, sind Eure Männer schon fort?“
Alvar sieht sich um.
„Mach deine Arbeit, Torfstecher“, befehle ich und versuche so herrisch wie Anna zu klingen. Doch er fixiert mich weiter und seine Augen verfärben sich von einem stumpfen Braun in ein stechendes Gelb. Alvar lässt den Spaten fallen und geht auf mich zu. Haare beginnen ihm aus der Haut zu sprießen, seine Knochen sich darunter zu verformen. Er wächst in alle Richtungen, überragt mich bereits nach den ersten beiden Schritten um drei Köpfe. Und mit jedem Schritt scheint er weiter zu wachsen. Ein Werwolf. Noch einer.
Ich wirble herum und renne in den Wald. Im Augenwinkel sehe ich, wie Alvar auf alle Viere geht. Ich habe mich noch nie absichtlich verwandelt. Immer nur bei Vollmond, wenn ich keine Wahl habe, wenn es mich überkommt. Ich hätte auch keine Chance gegen ihn.
Im Zickzack spurte ich zwischen den Stämmen hindurch. Richtung Straße. Irgendwo dort muss Anna sein, dann sind wir in Überzahl. Es kann nicht weit sein … Ich sehe den Wolf mit dem blaugrauen Fell an mir vorbeipreschen, in den Alvar sich verwandelt hat. Er ist groß wie ein Brauereigaul.
Alvar weiß, wo ich hin will. Ich brauche ein Versteck. Tiefer im Wald wird es hügeliger. Oft genug habe ich mich dort in kleinen Schlupflöchern versteckt, wenn es mich an einem Vollmond ins Niemandsland getrieben hat.
Ich wende mich nach links, höre seine donnernden Schritte hinter mir. Der Wald wird bald dichter, dann habe ich einen Vorteil gegenüber diesem Monster. Die Bäume ragen hier hoch, ihre dichten Kleider aus Tannennadeln schlucken das spärliche Licht der Morgensonne. Es ist dunkel hier – und ich übersehe die knorrige Wurzel.
Ich schlage der Länge nach auf dem harten Waldboden auf, schmecke Erde im Mund. Sofort rapple ich mich auf. Der blaugraue Wolf steht kurz vor mir. Geifer läuft ihm aus dem Maul, als er genüsslich nähertrottet. Ich erinnere mich an eine der ersten von Jaspers Lektionen. Selbst wenn ein Gegner größer und stärker ist als du, kannst du ihn besiegen. Wenn du ihn reizt.
Ich sehe mich hektisch um. Dort. In dreißig Metern zu meiner rechten ist ein Abhang. Alvar steht direkt vor mir, sieht mir in die Augen. „Hab ich dich“, gurrt er beinah.
Mein Tritt trifft ihn unvermittelt mitten auf die Schnauze. Er schreckt zurück, sicher mehr aus Überraschung als aus Schmerz, und ich renne los. Das Knurren des Werwolfs hinter mir lässt meine Knochen vibrieren. Ich muss rennen. Zum Abhang. Wegducken. Rennen. Dann wegducken.
Ich renne – und der Werwolf trifft mich mit der Wucht eines Pferdes im vollen Galopp. Er ist zu schnell für mich und jetzt will er nicht mehr spielen. Die Welt vergeht in einer Mischung aus dem dunklen Grün der Tannen, dem tiefen Braun des Bodens und dem viel zu fernen silbernen Funkeln des Morgenhimmels. Ich spüre einen Schmerz an meinem Arm. Der Farbenrausch um mich erhält einen Rotton.
Langsam wird das Bild klarer und als das dumpfe Pochen in meinem Schädel nachlässt, begreife ich, dass Alvar mir in den Arm gebissen hat. Nicht in den Kopf, den er mit Leichtigkeit zerquetschen könnte. Er will, dass ich mich verwandle. Glaubt, ich wäre ein einfacher Mensch und würde ein einfacher Wolf werden. Ich kippe auf die Seite, ziehe mich über den kalten Boden. Aus meinen Armen schießen weiße Haare hervor. Ich habe mich nie absichtlich verwandelt. Der Schmerz und die Orientierungslosigkeit machen es leichter.
Ich renne über den gefrorenen Boden. Äste knacken unter meinen Pfoten, Blätter rascheln um mein weißes Fell. Ich muss rennen, rennen. An meinem rechten Vorderbein pocht es, ich spüre das Blut aus der Bisswunde strömen. Ich bin noch nicht weit gekommen und meine Kräfte lassen schon nach. Aber er wollte mich nicht töten. Ich bleibe stehen, spüre das Zittern im ganzen Körper. Langsam drehe ich mich um, rieche den Duft meines eigenen Blutes, mit dem ich eine Spur durch den Sumpf gelegt habe. Es ist still. Es gibt keine Vögel mehr, keine anderen Tiere. Nur Hunde und Wölfe.
Sein Jaulen hallt durch den Sumpf. Einmal. Dann ein zweites Mal und diesmal findet es vielfache Antwort. Ich bin aus Reflex geflohen. Jetzt muss ich zurück, bevor er erkennt, dass er mich nicht verwandelt hat. Ich recke meine Schnauze in die Luft und antworte dem Jaulen. Dann trabe ich in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
Wir folgen dem Menschenwelpen durch den Wald. Der Blaugraue, unser Anführer, hat zuerst angegriffen, doch jetzt wollen wir spielen. Setzen ihm nach. Das Gras knistert unter unseren Pfoten, als wir durch den Wald eilen. Wir scheuchen ihn vor uns her, geben keine Laute von uns. Nur hie und da lässt einer mit Absicht einen Busch rascheln. Jedes Mal winselt der Menschenwelpe aufs Neue los. Ich kann seinen sauren Schweiß riechen. Die Angst. Er stößt sein Jaulen aus, als er über einen Ast stürzt. Der Rote ist sofort auf ihm, doch der Menschenwelpe springt auf, schüttelt ihn ab. Lange rote Kratzer ziehen sich über seinen Rücken. Er rennt weiter – die Panik scheint ihm neue Kräfte verliehen zu haben. Wir werden schneller. Mit einem Mal fühlt es sich an, als wäre mir ein Fels auf die Brust gefallen.
Hechelnd komme ich zum Halt. Sehe, wie der Braune kurz stehenbleibt und mich ansieht. Er bleckt die Zähne. Schwäche wird nicht geduldet. Ich knurre zurück, ziehe die Lefzen an und lege die Schultern zurück. Bereit zum Ausweichen – oder zum Sprung. Der Braune gibt ein fast schon pfeifendes Fiepen von sich und folgt der Meute. Langsam atme ich durch. Mein Körper ist schwerer geworden. Es ist das Kind in mir. Ein leises Jaulen befreit sich aus meiner Kehle. Ich hatte es fast vergessen. Vergessen. Ich trage das weiße Fell schon zu lange.
In diesem Zustand ist eine Flucht unmöglich, der Blaugraue würde mich immer mit Leichtigkeit finden und einholen. Und wenn der Welpe erst da war … Die Meute entfernt sich, da höre ich, wie einige Meter rechts von mir ein Ast zerbricht. Der Blaugraue steht dort, größer als ein Pferd. Er blickt mich an. Ich weiche aus, sehe auf den Boden. Obwohl es mir Schmerzen bereitet, laufe ich wieder los. Was wird der Leitwolf mit dem fremden Welpen machen? Und was mit mir, wenn er merkt, dass er mich nicht beherrscht?
Wir ruhen an unserem üblichen Platz. Er kommt zu uns und stinkt nach Mensch, hat ihre Haut einige Tage getragen. „Ihr seid alle wohlauf, gut, gut“, sagt er, der Blaugraue in Menschenhaut. Spricht die Sprache der Menschen. Dann wird er wieder zu einem von uns, der Größte von uns allen. Von allen unserer Art, da bin ich sicher. Zu groß, um ihn herauszufordern. Zu stark für mich, für die Weiße. Zu meinen Pfoten kauert der Kleine, der einzige Welpe. Weiß wie ich. Der Blaugraue kommt auf mich zu, schnuppert an dem Kleinen, der gerade so lang wie ein Zahn von ihm ist. Ich blecke die Zähne und knurre ihn an. Bisher hat er den Welpen geduldet. Aber wer kann schon sagen, wie lange noch.
Er sieht mir in die Augen, Gelb trifft auf Blau. „Heute Nacht wird eine Familie wiedervereint. Bist du bereit?“
Ich beende mein Knurren, als ich ein kleines Stück vorschnelle und zuschnappe. Demonstriere, wie ich ihre Kehlen zerreißen werde. Der Blaugraue schnaubt und wendet sich den anderen zu. Ich lecke das Fell des Welpen. Es schmeckt seltsam süß. Er fiept und Fetzen von Erinnerungen ziehen durch meinen Schädel. Da ist mehr als das Schaf, das wir vorgestern gerissen haben.
Wir nähern uns der Straße alle von einer Seite. Die Schritte der Pferde auf der Erde hören wir schon, dann sehen wir durch die Äste und Büsche die Menschen auf ihnen sitzen. Im Mondlicht glitzert ihr angelegtes Fell silbern. Ganz vorne reitet ein Weibchen, das sich rotes Fell übergeworfen hat. Ich zögere. Doch aus den anderen bricht wie durch einen Instinkt das Jaulen, Bellen und Knurren heraus. Ich schließe mich an, höre auf darüber nachzudenken, jaule aus voller Kehle. Unser Geschrei erschreckt die Menschen, aber noch viel mehr erschreckt es die Pferde. Sofort preschen sie nach vorne los, einer der Menschen fällt erschrocken vom Pferd – die Braunen sind sofort bei ihm und zerren ihn in die Büsche, bevor er seinen silbernen Fangzahn ziehen kann. Seine Schreie ersticken und hätten ihm ohnehin nichts genützt. Seine Herde treiben wir voran. In die Fänge des Blaugrauen.
Als wir dazukommen, hat er den Rest der Menschen bereits gerissen. Auf einer Lichtung am Rand der Straße liegen drei zerfetzte Körper herum, ebenso die Pferde, abgesehen von einem, das halb tot und mit riesiger Wunde an der Kehle davonhumpelt. Wir wollen fressen. Doch der Blaugraue richtet sich auf den Hinterbeinen auf, wie es die Menschen tun. „Zwischen die Bäume mit euch. Es ist noch nicht vorbei.“ Die anderen ziehen sich zurück. Der Blaugraue stößt ein seltsames Knurren aus, fast wie ein Gurren. „Weiße, bleib hier. Ich habe etwas für dich.“ Ich bleibe stehen und der Blaugraue zieht einen Menschen am Nacken nach oben. Es ist das Weibchen im roten Fell. Sie hat blonde Haare.
„Erkennst du sie wieder?“, fragt der Blaugraue und hält sie mir vor. Der Geruch. Menschlich süß. Ich erkenne sie, natürlich. Wie unwissend lege ich den Kopf schräg und schlage mit dem Schwanz hin und her. Das Gesicht des Menschenweibchens ist nah an mir. Kaum zu erkennen, eine Hälfte nur noch blutiger Matsch. Anna …
„Du erkennst sie nicht? Nun, wie sieht es bei Euch aus, Herrin van Vlegge? Erkennt ihr, wer vor Euch steht? In Eurem letzten Moment?“
Anna öffnet das eine Auge, das ihr noch gehorcht. Das Grau leuchtet auf. Fast wird es blau. Sie versucht ein Lächeln. Der Blaugraue reißt sie zurück, schleudert sie auf einen Baum, lässt den Kopf zuletzt los. Das Knacken ihrer Wirbelsäule an verschiedenen Stellen schallt über die Lichtung.
Ein Winseln entwindet sich mir. Der Blaugraue beugt sich vor. „Reste von Erinnerungen? Das wird vergehen, Weiße, da bin ich sicher. In wenigen Stunden wird auch nichts mehr übrig sein, woran zu erinnern dir wert sein wird!“
Er ist gekommen und steht in der Mitte der Lichtung, von der Meute umkreist. Die letzten Reste der jugendlichen Leichtigkeit, die ihm das Soldatenleben gelassen hatte, sind weggefegt. Der Bart ist ihm dicht gewachsen in den letzten Monaten, das Haar hat lange keine Pflege mehr gesehen. Jasper. Meine Erinnerungen sind klar.
Der Blaugraue tritt hervor. „Hallo, Jasper.“
„Ich erkenne diese Stimme. Alvar?“
Der Leitwolf gibt mir einen stummen Befehl und ich trotte auf die Lichtung. „Eine lang verschollene Liebe.“
Er sieht mich an. Aus seinen braunen Augen, die früher vor Leichtigkeit gestrahlt haben, sieht er mich an. Und in der Erkenntnis bricht der Blick, genau wie ich es befürchtet hatte. „Das ist unmöglich.“
Alvar stößt ein tiefes Lachen aus. Jasper sieht mich einen Moment länger an. Seine Stirn zerfurcht sich, langsam schüttelt er den Kopf. Seine Augen sind feucht umrahmt. Ich habe dich vor dieser Erkenntnis schützen wollen, Jasper.
„Das ist eine Lüge!“ Er zieht sein Schwert. Jasper und Alvar fauchen sich noch weiter an. Währenddessen sehe ich Jasper einfach nur an. Und an seinem Zorn erkenne ich, dass mein Plan, wenn er aufginge, der richtige sein würde. Für ihn, für mich, für den Kleinen.
Der Kampf geht los, Jasper landet einen frühen Treffer an Alvar. Ich kenne seinen Stil. Er sagte immer, gegen eine Überzahl war nicht zu kämpfen, deshalb konzentriert er sich auf einzelne Gegner. Scheucht die Meute auf, die Alvar auf ihn loslässt. Ich streiche ebenfalls um ihn herum. Abwartend. Die Rotbraunen sind leicht zu beeindrucken, wenn sie das Metall vor ihrer Schnauze sehen. Aber es ist auch immer wieder jemand in Jaspers Rücken.
„Was ist los, Alvar? Bist du so schwach, dass du dich hinter deiner Meute versteckst?“
Alvar stößt einen Schrei aus. Eine Herausforderung ist ausgesprochen, der Leitwolf fühlt sich gezwungen, ihr zu folgen. Er schreitet auf Jasper zu, scheucht die Meute zurück. Unter sich stehen sie auf der Lichtung – und mein Moment ist gekommen. Ich schnelle vor und schnappe zu. Meine Kiefer schließen sich um die Ferse eines Hinterbeins. Der Blaugraue schreit auf, Jasper nutzt seinen Moment und versenkt das Schwert im Hals des Werwolfs. Blut schießt hervor. Alvar schlägt noch einmal um sich, packt Jasper am Genick. Er würde ihn zerbrechen, wenn es sein musste, mit letzter Kraft. Ich beiße noch fester zu. Die Muskeln in den Beinen brennen, als ich an ihm zerre. Dann gerät Alvar aus dem Gleichgewicht und Jasper kommt frei. Sie stürzen aufeinander, doch der Leitwolf ist bereits tot.
Die Meute kommt zwischen den Bäumen hervor. Sie fiepen beinah jämmerlich. Ich knurre sie an. Diesen Kampf habe ich gewonnen. Ich bin nun die Leitwölfin. Mit eingezogenem Schwanz huschen sie davon, zurück zu unserem Platz. Hinter mir kämpft sich Jasper unter Alvar frei. Er sieht mich an und ich blicke zurück.
„Hallo, Maria.“
Es tut mir leid, Jasper.
„Es tut mir leid …“ Er vergräbt das Gesicht in den Händen. Der Gram frisst ihn auf. Doch das wird nachlassen. So kann er abschließen und weiterleben. Und der Kleine und ich können es auf unsere Weise, fernab von allem. Es tut mir leid, Jasper, mein Weg ist nicht an deiner Seite. Er versinkt in seinem Schmerz und schreit in den Nachthimmel. Ich kehre ihm den Rücken und folge der Meute.
An unserem Platz angekommen haben die anderen einen Kreis gebildet. Es gibt nur eine Lücke: Unter dem vorstehenden Felsen, ein Platz wie ein Thron. Ich trotte quer durch den Kreis hindurch. Mit jedem Schritt richtete ich mich auf. Die Knochen verformen sich, das weiße Fell zieht sich zurück. Als Maria van Vlegge spürte ich nach Monaten der Tarnung endlich wieder, was es hieß, ein Mensch zu sein. Nach dem Biss Alvars hatte ich mich als Wolf tarnen müssen. Er musste glauben, er würde mich beherrschen, damit er mich nicht tötet.
Die Meute weicht zurück, doch ich taxiere jeden von ihnen mit einem festen Blick. Mit einem Jaulen erkennen sie mich als ihre neue Leitwölfin an und erschöpft lasse ich mich unter dem Felsen fallen.
Der Kleine schiebt sich durch das Gras auf mich zu. Schnuppert neugierig und erkennt mich dann. Er rollt sich auf meinem Schoß zusammen, schläft ein. Ob er sich jemals in einen Menschen verwandeln kann?