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Weckruf (neue Version)
Zu Ende? Yes; das war sie, die erste Vorlesung des Tages. Ich strecke mich und sehe zur Uhr: Zwölf, High Noon; Okay, es reicht. Hab nicht viel mitbekommen von Harzers Theorien, bin groggy und beschließe, zu türmen. Weg vom Schweißgeruch der Anderen, raus aus dem muffigen Hörsaal und rein in den zweiunddreißig Grad heißen Tag. Mich ausziehen und pennen am Baggersee. Ein bisschen koksen und später dann: alles klar machen für die Nacht; Lippenstift drauf und ab in den Club; tanzen, trinken und leben.
Aber dann Kallscheidts zerknirschtes Gesicht und die zaghaft vorgetragene Bitte, mitzukommen. Ich verdreh die Augen und tu ihm den Gefallen. Der alte Mann ist mein Mentor, kein übler Kerl; leider einer, der unter allen möglichen Gebrechen leidet und wie ein Hund unter meiner Ignoranz. Ich folge seinen hängenden Schultern die Treppen hinauf, unters Dach, den Gang entlang und noch einen, verliere die Orientierung und stehe plötzlich vor einer Tür. Kallscheidt sieht mich komisch an, drückt zittrig die Klinke nieder und geht rein. Wird im selben Moment krumm und verschmilzt mit der Wand.
Ich folge ihm. Abgestandene Luft trifft meine Nase; Bohnerwachs und gekalkte Wand.
Ich mach es wie immer, drehe mich einmal um die eigene Achse. Warum auch immer, der Raum widert mich an, ist groß und kahl; bis auf einen Stuhl und ich sehe, Kilometer entfernt im Halbdunkel, zwei Typen. Stehen blöd rum, bis sich einer von dem anderen löst und auf mich zu marschiert, irgendwie automatenmäßig immer einen Schritt wie den anderen.
Na so was, Anica, die wollen dich von der Uni werfen, denke ich und muss gähnen. Hab keine Lust auf diese Diskussion, hab Lust auf Baggersee; drehe mich um und geh.
„Nicht so schnell, Frau Schatz!“
Bitte? Was zum Henker war das? Eine Stimme, wie festgefroren. Ich hab - glaub ich – gezuckt und suche Kallscheidt – der mich anfleht, zu bleiben, die Lippen wie ein Karpfen bewegt. Okay, alter Mann, zwei Minuten. Hab Pirouetten-Tag heute und drehe mich um.
Der Typ taucht ins Licht des Dachfensters, steht vor mir und – sorry. Nichts hält mich, ich fange an zu lachen, muss ihn einfach auslachen wegen seines bescheuerten Bürstenhaarschnitts, die Army fällt mir ein und Clint-Eastwood. Hab ich Zeit für so was?
„Bitte setzen Sie sich, Anica. Wir werden einige Minuten brauchen.“
Darf der das? Der Gebrauch meines Namens erwürgt mein Lachen. Bürste ist im Begriff, meinen Tag zu ruinieren, mich zu langweilen, yes. Ich guck ihn mir an: Anfang-Mitte fünfzig, mit albern trainiertem Körper von der Sorte: heute diesen, morgen jenen Muskel- aber keine Ausdauer. Und tatsächlich Uniform. Die Polizei? Hätte Gründe, mich zu sprechen, aber doch wohl nicht hier oben, unterm Dach.
Er mustert mich und ich denke: Kriegsgericht; spüre, wie es gärt in meinem Bauch, Hitze von innen heraus nach oben kriecht und meinen Hals befleckt.
„Frau Schatz, sie sind vierundzwanzig Jahre alt und wohnen in einer Wohngemeinschaft am Bürgerpark.“
„Was Sie nichts angeht. Was wollen Sie von mir?“
„Eine Entscheidung. Sie vergeuden ihre Zeit, hier an der Uni. Haben die falschen Gewohnheiten und einen asozialen Lebenswandel“, sagt er und ich rucke an wie das Sicherheitsventil eines Dampfkessels.
Okay Bürste, ich werde jetzt gehen.
„Wir kennen sie, Mädchen. Wissen, sie sind hochbegabt; gehen von einem IQ jenseits 120 aus. Das lässt sich testen, das werden wir testen wie auch ihre psychische Belastbarkeit und“, er zögerte einen Moment, „Körperliches.“
Körperliches, höre ich und blicke ungläubig in seine Fresse. Finde, es reicht, doch Bürste ist noch nicht fertig, kriegt sich gar nicht mehr ein und macht noch ganz andere Sachen, wagt es, mich anzustarren, hemmungslos zu beglotzen wie eine Schimpansin im Zoo und ich schlage die Arme vor die Brust.
Ruhig, Süße, ruhig. Es ist dir egal.
Okay, unten ist mir wirklich egal. Ich trage die schweren Stiefel und Mini wie immer; meine Beine sind dünn und bleich und interessieren mich nicht. Aber oben rum, da bin ich stolz drauf, meine Brüste sind hinreißend und gehören verdammt noch mal mir, da is nix mit Ausschnitt sondern immer schön geschlossene Shirts für mein Eigentum.
Er sagt was. Diese Stimme, - Faschist! – denke ich und keuche.
Was er dann tut …überfordert mich. Bürste fasst mich an. Legt seine Griffel auf meine Schultern und fixiert mich so auf dem Stuhl, dem Scheiß-harten Stuhl, nagelt mich an und ich sitze wie ein Idiot auf meinem Hintern und starre ihn an. Alles von selbst, ich fauche, schieße nach oben und schlage seine Hände weg, höre den Stuhl fallen, drehe mich um und laufe zur Tür.
„Plavic!“
Scheiße.
„Anica Plavic, das ist doch ihr Name? Die Tochter des serbischen Industriellen.“
Industriellen?
Waffenschieber und Kriegsverbrecher, weiß ich besser. Und krächze: „Verwechslung.“
„Njet. Sie sind aus dem staatlichen Erziehungsheim von Novi Sad weggelaufen. Haben sich einen falschen Pass erschlichen und an die Uni gemogelt. Wollten ihren Abschluss und Karriere machen.“
Er muss aufhören. Ganz dringend aufhören, in diesem Ton zu mir zu sprechen.
„Aber dann überfielen sie die üblichen Probleme Hochbegabter: Sie sind ungeduldig und unterfordert, grenzen sich ab und mutieren zum Kotzbrocken. Fragen sie mal ihre Mitschüler …“
„Völlig egal!“
„Mag sein. Jedenfalls lassen sie sich gehen, Mädchen …“
„Wenn sie mich noch einmal Mädchen nennen, werde ich sie mit dem Stuhlbein erschlagen.“
„Wir verschwenden Zeit. Kooperieren Sie mit uns, Anica, oder wir packen sie in unseren Mercedes; und sie sitzen in“, er blickt auf eine riesige Uhr an seinem Gelenk, „drei Stunden in Belgrad, auf der Couch ihres Vaters.“ Er umkreist mich wie ein Planet. „Er hat wieder geheiratet, wissen sie das? Sie dürfen eine Tasse Tee trinken mit ihrer neuen Mutter Jelena, einer scharfen Blondine; pikanterweise in ihrem Alter. Redet nur Stuss, die Kleine, doch ihren alten Herrn, den hält sie auf Trab.“
Ich schnaube. Will den Stuhl greifen und an seiner Stirn zertrümmern, schlage stattdessen mit der flachen Hand gegen die Wand.
Das tut weh. Aber auch gut. Der Schmerz holt mich runter; ich atme durch und versuche nachzudenken.
Was Bürste da weiß, kann mir gefährlich werden. Meine Pläne durchkreuzen. Pläne? Scheiße, ich hab doch gar keine mehr. Dabei bin ich durch die Hölle gegangen für dieses Studium. Sehe das vierzehnjährige Mädchen vor mir, stundenlang eingeschlossen im Laderaum des LKW, rausgekotzt auf den Hinterhof des schmutzigen Hotels, wo ich von der kettenrauchenden Swetlana empfangen werde und beginne, Scheißhäuser zu schrubben; drei Jahre lang.
Okay. Ich hebe den Stuhl auf und setzte mich auf meinen Arsch.
„Gut so, Plavic. Wir beide“, Bürste deutet auf den Mann im Dunkel, „gehören zu einer Unterabteilung des Bundesnachrichtendienstes, nach außen hin bekannt als Abteilung TE. Das bedeutet …“
„Internationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität“, unterbreche ich ihn. „Die Abteilung TE ist zuständig für die Aufklärung grenzüberschreitender Gefahren des Terrorismus.“
„Wikipedia hätte es nicht besser erklären können. Wir bieten ihnen einen Job, Mädchen. Ein Gehalt jenseits ihrer Vorstellungskraft. Sie dürfen ihren Vornamen behalten und bekommen einen deutschen Pass. Dafür werden Sie ihr bisheriges Leben hinter sich lassen und zwar sofort. Sie unterschreiben eine Geheimhaltungsvereinbarung und kommen mit uns. Kein Weg zurück in ihrer versiffte Wohnung, zu den versifften Typen, die da rumhängen.“
Und da brennt sie durch, meine Sicherung. Ich springe auf und an ihm hoch und packe seine Krawatte, reiße seinen Kopf nach unten und ramme ihm mein Knie in den Schritt. Ramme es mit all meiner Kraft aus Masse mal Beschleunigung zwischen seine Beine - und wir schreien vor Schmerz. Ich nutze meine blendende Form, hole wie Beckham aus und trete zu; mein stahlkappenbesetzter Vintagestiefel trifft perfekt und Bürste bricht mit einem komischen Pfeifen zusammen, aber ich bin noch nicht fertig mit ihm, stürze auf seine Brust und kralle ihm die Hände um den Hals.
„Diese versifften Typen“, brüll ich und spucke, „heißen Karo und Georg, hörst du!“
Er stöhnt.
„Sie sind meine Freunde! Und du wirst mich nie wieder belästigen, klar?“
Nicken; er versteht. Ich springe auf und am bleichen Kallscheidt vorbei durch die Tür, renne den Gang entlang, die Treppe nach unten und noch eine Treppe zum Gebäude heraus, über den Campus die Straße entlang und über die Brücke. Erst am Park komme ich zum Stehen und halte mich pumpend an einer Eiche fest. Sinke nieder und lege mich flach auf den Boden, mitten hinein in eine spießige Blumenrabatte.
Spüre den hämmernden Puls in meinen Schläfen und beginne zu lachen.
Ich habe gewonnen.
Yes, ich habe gewonnen.
Plavic tritt aus dem Dunkel und zündet sich eine Zigarette an. Inhaliert und beginnt zu lachen. Streckt die Hand aus, packt seinen geschundenen Chauffeur und zieht ihn nach oben.
„Nicht übel Igor, nicht schlecht für einen Fahrer“, wiehert er und greift in sein Jackett. Zieht einen Flachmann hervor, reicht ihm dem Bürstenhaarschnitt und zählt drei Hundert-Euro-Scheine ab. „Ich hätte dich warnen können, Igor. Kenne ja meine Tochter. Aber was hätten wir da verpasst!“
Bemüht fällt Bürste in das Gelächter ein und greift nach dem Geld.
Dann wendet sich Plavic an den Alten. „Kallscheidt“, sagt er und zählt zwei Scheine ab. „Sie wollten ja unbedingt dabei sein. Ich erwarte ihren Bericht in, sagen wir, zwei Wochen.“
„Kein Bericht“, flüstert Kallscheidt und seine Worte stehen wie Unheil im Raum. Etwas scheint sich zu lösen in dem Alten, er drückt den Buckel durch und wächst ein Stück, tritt vor den Serben und blickt ihm fest in die Augen. „Kein Bericht mehr und kein Geld. Es ist Schluss, Plavic, lassen sie mich in Frieden.“
„Heyheyhey. Ich bin beeindruckt, Kallscheidt. Sie haben Eier, die hätte ich ihnen gar nicht zugetraut. Und wissen sie was, rostiger Mann, das gefällt mir. Bin’s nicht gewohnt, weil alle meine Stiefel lecken. Aber gut. Kein Geld, kein Bericht, sie sind frei.“
Der Alte zuckt mit den Schultern und dreht sich um.
„Warten Sie!“, ruft ihm Plavic hinterher. Breitet seine Arme in einer hilflosen Geste aus. „Eins noch, rostiger Mann. Ich möchte sie um etwas bitten. Kein Bericht, aber ein letzter Anruf. Rufen sie mich noch einmal an und erzählen sie mir, ob wir erfolgreich waren.“
„Erfolgreich womit?“
„Mit unserem Weckruf. Ich will meine Tochter zurück, verstehen sie? Nicht zu mir nach Hause, Gottbewahre. Will, dass sie so wird wie früher, eine - wie sagt ihr? – Göre; will, dass sie kratzt und beißt und tritt und nach oben zur Spitze klettert, wo sie hingehört. Sie wollte mal Richterin werden, wissen sie? Mich für meine eher unbedeutenden Schachzüge während des Krieges drankriegen und nach Den Haag schleppen. Soll sie’s versuchen, Kallscheidt.“
Ich liege in einer Blumenrabatte und lache. Habe gewonnen.
Oder?
Habe ich nicht, weiß ich plötzlich und fange endlich zu denken an. Die Rekrutierung einer Spionin, wie in „Nikita“? Quatsch. Und zu viele Ungereimtheiten: Warum hat sich der zweite Typ nicht gerührt? Im Dunkel gestanden und zugesehen? Und wennschon Geheimdienst, wieso dann vor Kallscheidt, diese ganze Show? Eine Show. Genau das war es, und ich übernächtigter Zombie habe es nicht geschnallt. Der Zweite, wie hat er ausgesehen? Er war groß und breit. Hatte seine Hände wie Pistolen in den Taschen stecken, das kommt mir bekannt vor. Und durch den Nebel von acht Jahren sehe ich ihn plötzlich vor mir, den stattlichen Mann mit den Händen in den Taschen.
Plavic, meinen Vater.
Verdammte Scheiße, denke ich. Und kann es nicht verhindern, rutsche in meinem Blumenbeet zusammen und fange, argwöhnisch von den Passanten beäugt, zu heulen an. Die Tränen kullern wie im Kino und sind nicht mal schlecht, löschen die Hitze und lösen den Druck. Zwei Minuten, dann stehe ich auf und putz mir den Dreck von den Knien.
Muss plötzlich grinsen, denn ich habe einen Plan.
Oh yes, ich werde Plavic in den Arsch treten. Mit dem Saufen und dem Kiffen aufhören und wieder studieren, das Staatsexamen machen und Richter werden. Den Kriegstreiber nach Den Haag bringen.
Warts ab, Vater; ich bin zurück!