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- 12.04.2007
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Wasted papers
Gegen Mittag wird die Mülltonne laut klappernd an ihren gewohnten Abstellplatz hinters Haus gebracht. Nachdem der Zweibeiner gegangen ist, klappert die Mülltonne immer noch, dass der Gelbe Sack, der schlapp an der Wand herunterhängt, sich in seiner Ruhe gestört fühlt und fragt, was denn solch’ Vergnügen bereite.
„He, Tonne, was amüsiert dich so?“, fragt der Sack und ergänzt: „Kriegst dich ja gar nicht mehr ein …“
Die alternde Mülltonne antwortet klappernd und gackernd wie ein junges Huhn: „Junger Freund, was ich von gestern Abend bis heute früh bei der Arbeit erlebt habe, ist unglaublich“, kräht einmal heftig und fährt fort: „Du wirst es mir wohl nicht glauben, wenn ich es dir erzähle. – Ich glaube schon fast, dass es niemand mir glauben wird. Es ist ja auch unglaublich!“
„Du machst es aber spannend und mich neugierig“, sagt der Gelbe Sack.
„Erzähl, Alte!“
Und die Mülltonne erzählt: „Du hast ja mitbekommen, dass ich gestern ziemlich spät erst in der Abenddämmerung vors Haus gebracht wurde. Dort richtete man mich ordnungsgemäß aus, wie es sich einfach gehört für die Arbeit: exakter Abstand zum Bordstein und die Schnauze nach vorn, der Straße zugewandt. –
Doch was ich dort im Halbdunkel erkannte, schockierte mich …“
Die Tonne lacht schon wieder, dass der Gelbe Sack ungehalten ruft: „Ja, was denn? Sag schon und krieg dich wieder ein!“, und noch heftiger schließt: „Hör auf zu gackern, du bist kein Huhn!“
Lachend stottert die Mülltonne vor sich hin: „Da steht doch - wahrhaftig - äußerst schlampig und direkt am Straßenrand eine Tonne - doppelt so groß wie ich und die redet wirres Zeug, als wir ins Gespräch kommen, denn sie war besoffen.“ Und plötzlich ist das Gegackere nackter Erregung gewichen: „Besoffen zum Dienst, wo gibt’s denn so was!“
„Gibt’s denn so was? - Woher weißt du denn, dass die Tonne betrunken war?“, versucht der Sack seine alte Freundin zu beruhigen. „Torkelte sie, - doch sicherlich nicht. - Lallte sie?“
Die Tonne beruhigt sich wieder: „Nein, junger Freund, nichts von alledem, aber du kannst meinem Urteil vertrauen. Denn sie behauptet, dass sie vielbelesen wäre und somit klug. –
Hat man so etwas schon mal von einer Abfalltonne gehört? Quasi, als wäre sie die Intellektuelle unter uns Tonnen!“
„Und – ist sie?“, fragt der Sack.
„Nun, sie behauptet, sie habe ganze Wälder zu fressen gekriegt, vor allem bedruckt mit den Stäben der Buche. Sie und ihre Verwandtschaft hätten in den letzten zwei Jahren zwei Millionen Exemplare von Feuchtgebeten und gerade eine halbe Million Stoßgebiete – oder so ähnlich – verpacken, entschuldige, verdauen müssen …“
„Unglaublich …“, meint der Sack. „Da hätt’s mir aber den Darm zerrissen. Wochenlang Dümmpfiffi und der Geruch nach faulen Eiern. – Mich ekelt! Als wenn nicht null Finanzierung reichen würde wie Miet me und hier werden Sie geholfen. Flachsinn ist eben unkaputtbar …“ und übergibt sich, dass der Plastikmüll sich vor der Tonne ergießt.
Liebes Publikum, es kann dauern, bis sich der Verdauungstrakt des Sackes wieder beruhigt hat – das kennen wir! Schon tausendmal erlebt - dass wir derweil getrost in einen andern Trakt – und zwar: des hiesigen Rathauses abschweifen können und geben einen kurzen Bericht zur Sachlage:
Unter der Anleitung des Gemeindepräsidenten Herrn Borries Munichousen werden von Hilfsbütteln zwo Tonnen geschoben, die sich allein durch die Farbgebung unterscheiden: in einer grauen Tonne mit einem blauen Deckel steht Herr Kolping, in einer grell-blauen Tonne steht der Parteifreund des Gemeindepräsidenten Karlfriedrich Hieranonymus. Beide reden auf das Parlament ein.
Will Kolping die Kinder- und Jugendarbeit mit dem Überschuss, den er sich aus dem Altpapierhandel verspricht, finanzieren, so will Hieranonymus allein nichtsnutzigen Kram wiederverwerten, kurz: Wohltäter der Menschheit werden.
Das Parlament schreit auf gegen Herrn Kolping: Welche Jugendarbeit, alles Lüge, denn Kolpings Jugend ist lange verflossen, die Jugend ausgestorben. Kinder stehen auf der Liste der bedrohten Arten, Kindergärten gehören abgeschafft, Kinder gibt's kaum noch und Kids gehören in Disney- oder Legoland. Und als Hieranonymus dem Parlament garantiert, dass die Entsorgung kostenlos erfolge, erhält er prompt den Zuschlag.
Derweil hat der Sack sich erholt. Nun ja, flau wird ihm noch einstweilen bleiben. Aber zum Beleg berichtet die Mülltonne von einer gerade versenkten Broschüre der bekannten Wochenzeitung Nr. 33 eines modernen Hensel und Grätel, dem Puppenspieler Sarkozy und seiner Sarkosin:
Liebe Carla, hast du das Gefühl, dass Sex ein großes Thema sei? –
Ich wünschte mir das, aber ich seh es nicht! Partnerschaften wär’s ein so wichtiges Thema, und dennoch wird’s nur heimlich besprochen. Schon unter Freunden wirds Reden über Sex schnell zum Tabu.
Sollten wir wieder mehr über Sex reden, ma chère? –
Ja doch, jeder Tabubruch wie’n offnes Gespräch über Sex, wär gut, hebt die Isolation auf, die wir alle empfinden. Wenn ich mit andern nicht über Sex reden kann, denk ich, ich wär mit meinen Problemen ganz allein auf der Welt. Während einer Beziehung spricht doch kaum einer über sexuelle Probleme. Die erzählt man sich erst, wenn alles kaputt ist. Dann sind die Leute wieder ehrlich.
Ehrlich? - Was bedeutet Sex für dich, liebe Carla? –
Sex hat was Magisches, beinah Tierisches. Man kann nicht kontrollieren, ob man gut ineinanderpasst. Entweder knallt’s zwischen zweien oder nicht. Guter Sex kommt direkt aus dem Neandertal, sieht scheiße aus, hört sich ekelhaft an und riecht etwas nach Fisch. Doch wenn man die Droge gefunden hat und andre sieht, die noch danach suchen, dann macht das sehr stolz. Michel Houellebecq …
Ich bewundere dich, liebe Carla, wen du so alles kennst … -
… Michel Houellebecq hat einmal gesagt, es gäb eine klare Trennung zwischen Menschen, die Sex hätten, und Menschen ohne Sex. Und Mama sagte immer: es gibt solche und solche, von den andern gar nicht erst zu reden. Mama hat recht und erst recht Michel Houellebecq!
Liebe Carla, siehst du Menschen an, wenn sie keinen Sex haben? –
Glaub schon. Flirten, Frauen ansprechen und Sex haben, sind Dinge, die man verlernen kann. Ich seh Menschen an, wenn sie schon längre Zeit nicht mehr mit jemand oder etwas geschlafen haben. Ich glaub auch, dass viele Frauen flüchten, wenn sie bemerken, dass ein Typ keinen Sex mehr hat. Jedem Single wär zu raten:
dann bleibst du in der Übung und entspannst …
Ich kenne sehr wenige Menschen, die über Sex sprechen ... –
...ich red mit ein paar Leuten darüber. Beim Joggen oder beim Zahnarzt. Aber ich glaub auch, dass sie mit mir sprechen, weil sie wissen, dass ich mich für dieses Thema interessier.
Nur für dieses Thema, liebe Carla, nur dafür, musst du zugeben -
Sie erzählen mir von der Einsamkeit. Einsamkeit ist doch etwas für alte Leute, die zur Massage gehen, damit sie mal von jemand berührt werden, oder sich freuen, wenn der Frisör ihnen durchs Haar fährt - da muss man nicht eigenhändig ans Eigengemächte - und die wuscheligen Augenbrauen stutzt, dass die nicht mehr die Suppe durchs Gesicht ziehn und aussehn wie Loriots Nudelmann. Einsam ist man noch lang genug in Sarg oder Urne. Wenn man jünger ist und öfter in Clubs geht, dann sind Berührungen etwas Normales. Beim Tanzen rücken die Körper eng aneinander. Aber mit 35 oder 40 ist die Gefahr, körperlich zu vereinsamen und sich nicht mehr zu spüren, sehr groß.
Verliert man sein Körpergefühl, meine Kleine? –
Nein, das Selbstbewusstsein.
In den Affären der letzten Monate ging es allerdings sehr viel um Sex: Kachelmann, Berlusconi, Strauss-Kahn und Roche ... Geht es da nicht um Gewalt? Ist Gewalt denn nicht die am stärksten entäußerte Form von Sexualität? –
Pathologischer Sex ist für mich ganz uninteressant. Da sollen sich Polizei und Justiz drum kümmern. All diese Fragen um Macht, Geld, Körper, unterdrückte Frauen, Kinderarbeit. Ich interessier mich allein für den freiwilligen Sex.
Aber kann man nicht sagen, dass durch die Skandale die Begierden des Körpers wieder in den Mittelpunkt getreten wären? Im täglichen Leben dagegen kann man seinen eigenen Körper ja durchaus vergessen, man braucht ihn eigentlich nicht mehr. –
Für mich ists anders: Wenn ich Körper bin, bin ich glücklich. Joggen, Schwimmen, Schwitzen, körperliche Arbeit, Sex, Yoga, alles schön. Den Körper nicht mehr zu nutzen, sondern nur noch zu denken, wär ein Albtraum.
Je weniger wir unsern Körper brauchen, desto stärker wird er Ziel von Projektionen. Du projizierst ja auch etwas in deinen Körper hinein, wenn du sagst, dass er dich glücklich mache, indem er dich zwinge, deinen Gedankenfluss zu unterbrechen. –
Ich hab aufgehört, Sport zu treiben, um meinen Körper zu optimieren. Ich verachte Frauen, die Yoga treiben, um keine schlaffen Oberarme zu bekommen. Gerad hab ich auf Eurosport Gewichtheberinnen gesehn. Ekelhaft! Sport ist für mich ein geistiger Zustand geworden.
Ist es nicht ein schönes Gefühl, in einem schönen Körper zu leben, meine kleine Prinzessin? –
Ja, aber ich will Yoga nicht länger als diese Beauty-Kacke missbrauchen. Ich geh nicht mehr joggen, um meinen Körper zu tunen, sondern ich stell mir vor, dass ich ein Afrikaner im Busch und meine Beine allein zum Laufen da wären.
Schönheit bedeutet doch auch Freiheit. –
Nach Schönheit zu hecheln hieße, sich selbst ein Gefängnis zu bauen. Ich seh viele Frauen, die stundenlang ins Fitnessstudio gehn, um minimale Veränderungen am Körper zu erreichen. Männer nehmen das oft gar nicht wahr. Ich will so sein, wie ich bin: Ich bin klein, wenn auch größer als du, mon petit Nicolas, meine Beine sind kurz, mein Arsch ist, wie so ein durchschnittlicher Arsch eben ist. Ich mach keine Übungen mehr für irgendeinen Arsch. Ich hab keine Lust mehr darauf.
Du hast einen ziemlich geilen Arsch, und das weißt du auch. Kannst du nicht gerade deshalb die Freiheit des Körpers fordern, weil du alle Schönheitskriterien erfüllst? Wir können erst von Zwängen reden, wenn wir Normen erfüllen. Wir können über Sex reden, weil wir nicht so aussehn, als hätten wir keinen. –
Der Arsch liefert uns das Stichwort, ins Rathaus abzuschweifen. Nun erleben wir authentisch und hautnah hinter den Kulissen, wo sich die Parteifreunde Hieranonymus und Borries zum Triumph treffen.
Munichousen sagt: „Bei deinem Auftritt gerade kam aber deine Vergangenheit stark durch, Alter.“
„Ja, Jungchen, das ist richtig. – In Wirklichkeit kostet alles. Die Investitionen vorweg zehren einen auf und wenn man dann keinen guten finanziellen Hintergrund hat, ist man schnell pleite. Aber glaubt denn einer im Ernst, dass die Entsorgung nix koste? Sie kostet so viel als die Herstellung des Mülls. Wenn wir aber erst einmal den heiligen Dämel niedergerungen und aus dem Konkurrenzlauf verdrängt haben, werden wir’s schon richten.“
Er hebt ein Glas Wein und stößt mit Borries an: „Und heißt nicht schon der alte Spruch: Was nix kostet ist auch nix wert? –
Das kann doch keiner wollen! -
Und, lieber Freund, meine unternehmerischen Freunde und ich wir arbeiten schon an einem nächsten Projekt: der sinnvollen Entsorgung von Menschengut. Denn siehe, warum sollen sie einfach nur ins Erdreich getan werden, wenn man sie doch dem Erdreich zumindest als preiswerten Dünger anheim geben könnte. Die Devise lautet dann: Fleisch statt Torf!
Und die jüngeren Leute könnten zu Fleischprodukten verwertet werden, wie doch schon unser alter Parteifreund Fritz Haarmann es uns vormachte. Denn du weißt: Menschen und Schweine schmecken gleich! Die Sache hätte ferner einen positiven Effekt: wir könnten die neue Produktpalette in die islamische Welt exportieren und den Exportmarkt erweitern… -
Wie sagt doch die Wissenschaft so schön: There’s no point of return!“
Borries hakt sich unter in seinen väterlichen Parteifreund und beide singen zur Melodie, dass ganz Paris von der Liebe träume:
bald kommt Haarmann auch zu dir,
macht er Hackefleisch aus dir.
Aus den Augen macht er Sülze,
aus dem Hintern macht er Speck,
aus den Därmen macht er Würste
und den Rest, den schmeißt er weg.“
Einer anderen Version wie „In Hannover an der Leine, Rote Reihe Nummer 8, wohnt der Massenmörder Haarmann, der schon manchen umgebracht,“ vermögen wir, liebes Publikum, hier nicht zu folgen, schließlich geben wir nichts als die nackte Wahrheit wieder, denn Haarmann wohnte zuletzt im Dachgeschoss in der Roten Reihe zwo, nicht acht, wie im Lied behauptet. Besonders stolz macht uns – natürlich – dass sein Schicksal mit dem hervorragenden Götz George in der Titelrolle verfilmt wurde. In diesem Film erkennt man, dass Haarmann eine einfache Seele war und niemals einer Münchhausen-Partei angehört haben kann – naja, vielleicht aber angestiftet wurde.
Aber es soll doch alles politisch korrekt zugehen!
Und schon sind wir wieder beim Spiel der Sarkozy und seiner Sarkosin:
Ich ertrag diese Frauen nicht mehr, die nie essen, worauf sie Lust haben, merk den Frauen ihr Leiden sofort an, ich seh, wenn ein Körper nicht das bekommt, was er fordert. Ich find Frauen, die langsam verfallen, viel schöner. Das ist eine Gelassenheit, von der ich glaub, dass sie auch Männer anziehe. Ein Frauenbauch, Stillbrüste, Hängebrüste - Frauen sollten das an sich akzeptieren, dann können sie sich auch im Bett gehen lassen.
Du warst magersüchtig? –
Ja. Aber wie so viele Süchte, die ich hatte, ging auch die dank der Therapie vorbei und wurde durch andere Süchte abgelöst: Alkohol, Shopping - you name it, I hate it! Ich glaube, dass Bilder uns Frauen krank machen. Wir sind ständig mit retuschierten Fotos von Frauenkörpern konfrontiert, irgendwann glauben wir, wir müssten so aussehn. Das kränkt mich. Erst wenn man sich von diesen Bildern fernhält, wird man wieder gesund! Jetzt ess ich, was ich will, wann ich will, und hab nicht mehr so eine magersüchtige angespannte Ausstrahlung.
Du bist eine schöne Frau, ma chère! –
Ich find mich nicht schön. Wenn es mir schlecht geht, find ich meine Brüste zu klein, und auch alles andere gefällt mir nicht. Es mag sein, dass ich schlanker bin als andre und dicke Frauen denken: Carla, halt die Fresse! Aber ich möchte über meine Komplexe reden und schreiben. Wenn ich etwas schreib, dann hab ich den Anspruch, dass es absolut neu ist. Ich will, dass es so etwas noch nicht gibt. Außerdem sollen meine Bücher mutig sein. Ich will darin fast bis zur Selbstaufgabe ehrlich bleiben. Eine tolle Erfahrung! Auch pornografische Sachen, also der Duschkopf in der Vagina, der Penis in der Saugdüse und so, das sind lustige Übertreibungen. Aber die ernsten Dinge, die mir wichtig sind, finden auch die Leser wichtig. Wenn ich dann vor jungen Frauen les, die alle an den richtigen Stellen lachen, und merke, dass man für die sprechen kann, ist das eine große Aufgabe. In solchen Momenten sag ich mir: Ich darf die nicht verraten! Und wenn das die Macht ist, von der du sprichst, lieber Nicolas, ja, dann hab ich welche. Macht im Sinne von Verantwortung.
Du selbst hast dir nie einen Duschkopf zwischen die Beine geschoben? -
Rein? Bist du bekloppt? Nein! Du hast doch auch nie mit dem Staubsauger gebumst!
Doch, ma petite, das war ein Höllentrip. Meine einzige Antwort auf Staubsauger und Tod heißt Sex. Das ist eine Erkenntnis aus der ambulanten Therapie: Nach so einem Unfall ist man vollkommen traumatisiert. Man hat unfassbar viel Ängste, die auch nicht mehr verschwinden. Angstzustände kommen und Panikattacken, gegen die man dann die ganze Zeit zu kämpfen versucht, um sie zu kontrollieren. Aber das funktioniert nicht, man rennt gegen Windmühlen an und bleibt diesen Ängsten ausgeliefert. Man kämpft dauernd gegen den Tod, obwohl der gar nicht da ist. Man steckt ja nur in der Düse. Es passiert mir immer wieder, ich sitz scheinbar gelassen irgendwo, trink einen Kaffee mit Angela – Du kennst Angela? - und hab innerlich Todesängste und versuch zu verhindern, dass die Grande Nation sterbe. Dauernd erleb ich Stromschläge, Überschwemmungen, ich stell mir vor, wie Versailles über uns einstürzt. Ich bin in Dauererregung, in ständiger und totaler Anspannung. Irgendwann hat meine Therapeutin gesagt, dass ich meine Ängste mit Sexualität überlagere. So kann man mein Werk verklären. Die andern denken, wenn sie das lesen: Wie krass! Aber für mich ist das gar nicht so, denn das, was in meinem Innern passiert, ist viel, viel krasser.
Also versteht man dich gar nicht, wenn man dich ohne den Unfall denkt, lieber Nicolas? -
Ich hass Politiker, die ernst genommen werden wollen. Wenn jemand mich falsch versteht, dann mach ich doppelt und dreifach mit. Wenn mich jemand auf Pornografie reduzieren will, dann sag ich: Gern, und steig voll drauf ein. Alles andere wäre total peinlich.
Aber da sich die aktuelle Politik wie ein Kommentar auf die alte liest, lieber Nicolas, gibt es offensichtlich das Bedürfnis, die Dinge richtigzustellen. -
Natürlich wollt ich klarstellen, dass alles einen tieferen Sinn hat! Gerade junge Autoren – Fängt mit einem „au“ an und hört als Tor auf!
- werden ja oft dem Verdacht ausgesetzt, sie wüssten nicht, was sie tun. Als wäre der Erfolg, den sie haben, Zufall. Bei mir ist alles, was ich tu, massiv geplant. Ich mach mir sehr viele Gedanken über alles, was ich tu. Das war schon damals so, als ich noch als Ententainer moderiert hab. Ich hatte jede Moderation vorher im Kopf und hab dann so getan, als wär’s spontan. Meine Lesungen sind der reinste Fake, ich spiel, dass ich authentisch wäre. Denn ungebrochene Authentizität ist das langweiligste, was es gibt. Das ist peinlich und oft nur platt. Der Zuschauer will die perfekte Simulation des Authentischen, nur beim Sex soll alles wirklich sein.
Warum ist Sex die Antwort auf den Tod? -
Ich bin schon immer sehr von Sex angezogen worden, vor allem von verbal sexuellen Leuten. Das war schon vor dem Unfall so. Sex ist so lebensbejahend, weil er ohne den Kopf auskommt, nur der Körper agiert. Wenn ich mit jemand schlafe, muss ich an nichts mehr denken, vergess all meine Ängste. Wenn ich keinen Sex hab, hab ich Angst.
Ist dies das heimliche Projekt unserer Generation: lebenslanger Sex mit ein und derselben Person? Auch als eine Antwort auf das Liebeschaos der 68er? -
Ich glaub, dass es keine Generation vor uns gab, die an ihren Beziehungen und ihrer Sexualität gearbeitet hat wie wir. Die Leute gehen massenhaft zum Paartherapeuten und viele sind hinterher glücklicher. Auch der Sex wird oft wieder besser, denn dafür müssen Blockaden gelöst werden. Man muss reden, reden, reden. Dann kommt auch der Flow wieder.
Woher aber stammt unser Bedürfnis nach lebenslangen Beziehungen? -
Aus der Angst vor Einsamkeit und auch davor, mit immer wieder neuen Partnern dieselben Fehler zu machen. Ich find es viel klüger, bei einem zu bleiben, mit dem man alt werden kann.
Das klingt einerseits sehr spießig und trägt andererseits die Illusion in sich, dass man sein Leben lang derselbe bleiben kann. Ändern wir uns nicht, sagen wir, alle zehn Jahre und werden zu einem anderen? -
Das ist total spießig. Ultraspießig. Klar. Aber vielleicht und hoffentlich darf man sich in einer langen Beziehung auch die ganze Zeit verändern. Dann kann man zusammenbleiben, obwohl man sich alle zehn Jahre verändert. Bei mir passiert das übrigens eher jedes Jahr!
Ich hab aber auch das Gefühl, dass viele Leute in unserem Alter kleinkarierte und überschaubare Beziehungen führen. Luftdicht und vakuumverpackt. -
Wir leben unfassbar domestiziert. Und sosehr ich es mir wünsch, dass unsere Beziehungen halten, so groß ist meine Angst, dass uns alles um die Ohren fliegt. Ich glaub auch, dass es wenig Menschen gibt, die wissen, dass Sex und Liebe nicht dasselbe sind. Sie glauben, dass sie mit dem Menschen, mit dem sie Sex hatten, auch zusammen sein müssten. Deshalb machen sich viele etwas vor, wenn sie eine Affaire beginnen - in Wahrheit suchen sie nach einem Ausstieg aus ihrer Beziehung. Ich hab noch nie jemand getroffen, der nur Sex wollte. -
Dabei glaub ich, dass es hilft, fremdzugehen, um bei der großen Liebe bleiben zu können. Dieser domestizierte Mann, der von sich behauptet, nur auf seine eigene Frau zu stehen, nie fremd- oder in den Puff zu gehen, ist auch ein Ergebnis eines falsch verstandenen Feminismus. Wir verachten den sexuell aktiven Mann so wie die sexuell aktive Frau.
Was bleibt am Ende? Sex als Rettung? -
Absolut. Zuerst verschwindet in den Beziehungen der Sex, und dann geht auch alles andere den Bach runter wie die Helene und der Silvio. Buchhalter, die sich nur um 55 Mrd. verrechnen, übernehmen sich. Europa ist ein unglaublich fragiles Gebilde. Eines Tages schaut man den Partner an und merkt, wie man langsam begonnen hat, ihn zu verachten. Dann will man sich auch nicht mehr öffnen. Die Körper begegnen sich nicht mehr, und plötzlich denken die beiden darüber nach, ob es nicht auch möglich ist, ohne Sex zusammenzubleiben. In solchen Stadien wird die Verachtung für den Partner offen zur Schau getragen, der andere vor Freunden gedemütigt. Wenn ich so Paare sehe, rufe ich innerlich wie beim Boxkampf: Sechs, sieben, acht, neun … neunzehn … siebenzwanzig ... „Das beweist aber nicht, dass jemand betrunken ist“, wendet der Sack scharfsinnig ein. „Man ist, was man isst. Also gibt die Tonne gerne an.“
„Nee, nee, das sicher nicht. Sie sammle Altpapier …“
Nun muss der Gelbe Sack selber lachen: „Hat man jemals davon gehört, dass es Jungpapier gäbe?“, dass die Tonne zugibt: „An sich hast du Recht. Aber damit meinte sie, all den Papierkram, den die Menschen loswerden wollen …“
„So wie bei uns die schöne neue Verpackungswelt, - ah ja, ich verstehe!“
„Aber, liebe Freundin, wie um alles in der Welt will sie vom hiesigen Werbemüll, den Kurieren und Reports, der Blödzeitung und der Tagespost klüger werden, als sie ohnehin schon ist? Gar gebildet?“
„Einbildung ist auch ’ne Bildung“, murmelt die Tonne, was den Sack nicht sonderlich beeindruckt: „Aber wie kommst du darauf, dass man bei solchen Behauptungen nicht mehr nüchtern sei?“
„Ja, mein lieber junger Freund, heute früh als die Sonne aufging sah ich es ganz deutlich: die Tonne ist blau, also eine dicke besoffene Tonne …“
Aber nicht diese Tonne ist besoffen, sondern jene, die darin ganze Wälder versenken. Aber wir wollen nicht jammern, sondern uns noch einmal dem Rathaus zuwenden, wo gerade nach mehr als dreijähriger Odyssee durch deutsche Lande folgendes Schreiben eintrudelt:
Brief unter Kollegen zum 13. Februar 2008
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
seien Sie mir aufs herzlichste gegrüßt mein lieber Freund und Kollege Herr Borries Freiherr von Munichousen!
Ihr letzter Brief erreichte uns letzten Mittwoch, da der Stadtrat hiesigen Orts das Aschenkreuz gerade empfangen und den traditionellen politischen Aschermittwoch mit einem gemeinsamen Katerfrühstück beging und die Fastenzeit mit Maßen Starkbieres und mit Karaffen roten und weißen Weines begrüßte, den Mund aber hernach mit Enzian, Korn, Slibowitz und anderem Gesöff spülte und desinfizierte. Nicht nur, dass die Ätzung köstlich war und das vorfrühlingshafte Wetter inmitten der kalten Jahreszeit unsere Herzen erwärmte, Ihr sehr verehrtes Schreiben entlockte uns Jubelrufe und manches begeisterte Händeklatschen: eine Wahl souverän gewonnen und eine Reform, was schreib ich, eine Reformation vollendet, gegen die jene von vor fast einem halben Jahrtausend als ein laues Lüftchen wirkt.
Wir gratulieren Ihrem Landesvater Wulfila und Ihnen als Stadtvater mitsamt Ihren Stadtältesten zu einem triumphalen Sieg übers linke Pack, das niemals sich mehr von dieser Niederlag’ erholen möge!
Aber uns hier in der Ferne freuts noch mehr, dass mit der Reform eines nicht unbedeutenden Teiles des Staatsdienstes der Fortschritt in Ihrer Region weiter fortgeschritten ist. Diesen Schritt sind wir bereits im vorletzten Jahrhundert gegangen und wir haben es bis heute nicht bereut. Wie schön, dass unsere Erkenntnisse Sie nun im hohen Norden erreicht haben. Und wir sind sicher: Sie werden es auch nicht bereuen!
Denn durch die Reform wird Ihre Polizei modernisiert, tat- und schlagkräftig. Sie hat eine präventive Wirkung, denn das Verbrechen wird von mancherlei übler Tat abgehalten werden. Die Statistiken werden es gar bald beweisen: Die Zahl der Verbrechen wird zurückgehen, die Aufklärungsrate bis zu tausend Prozent steigen. Nun wird man durch die anstehenden, aber notwendigen Investitionen einige Mehrausgaben haben, die sich aber parallel zur Entwicklung der günstigeren statistischen Zahlen durch entsprechende proportionale und angemessene Einsparungen beim Personal wieder ausgleichen lassen.
Um wie vieles eleganter sieht heute ein moderner Polizist in seiner neuen Uniform aus als in dem früheren grün, als wäre die Polizei jemals Teil der Forstverwaltung gewesen. Die neuen Polizeifahrzeuge sind auf modernstem Stand und farblich auf die Uniformen abgestimmt. Das erzeugt ein harmonisches Gesamtbild von funktionalem Werkzeug und dem modisch chicen Outfit dynamischer und kreativer Beamter. Letztlich erfreut das Bild das Auge des betrachtenden Bürgers. Kurz: Ich und der Stadtrat von Seldwyla beglückwünschen Sie und die politischen Entscheidungsträger zu dem grandiosen Sieg über die linken vaterlandslosen Gesellen und die Reformation des Polizeidienstes. Dabei erfüllt es die Stadtältesten von Seldwyla mit Stolz, dass der hiesige Beschluss von 1873, die durch unseren Stadtschreiber Gottfried Keller mit der Aktenbezeichnung „Kleider machen Leute“ novelliert wurde, vorbildlich von Ihnen und Ihrem sehr verehrten Landesvater Wulfila umgesetzt wurde.
Stolz macht es uns, dass durch diese Reformation durch den guten Geschmack und des ästhetischen Empfindens unserer gesetzten Novelle von 1873 spät, aber doch immerhin gefolgt wurde. Bald schon wird Ihre Reform großen Erfolg haben, dass wir Euch zurufen: Nur weiter so und jeder ist seines Glückes Schmied, erst recht, wenn er so tüchtig ist wie Eure Regierung.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Der Stadtpräsident zu Seldwyla