Wasser
Es war einer jener Sommer, in denen man sich nicht auf das Wetter verlassen konnte. Frühmorgens war es hell und klar, mittags zogen dunkle Wolken vor die Sonne und die Schatten der Bäume, eben noch noch scharf umrissen und mit hohen Kontrast wie Schablonen auf die Wege gezeichnet, wurden diffus und waren bald nur noch ein grauer Schleier, der sich mit der Farbe des Asphalts vermischte, um sich dann aufzulösen.
Es wurde bald schwül, der Geruch von Regen, der kilometerweit entfernt niederging, mischte sich mit dem von Autoabgasen und frisch gemähten Gras. Die Mücken begannen lästig zu werden, sie stachen gemein und hinterlistig ins Gesicht, auf Handrücken, flogen mir in Augen und Nase, ließen sich auch nicht mit hektischem Hin- und Herwedeln meiner Zeitung vertreiben. Ich zog mich so schnell wie möglich an, packte Decke und Wasserflasche in meinen Leinenrucksack und klemmte das ganze Paket mit einem Expander auf den Gepäckträger meines Fahrrads fest. Nur weg aus der Mückenfalle.
Der Himmel war nun etwas heller, die drohenden Regenwolken waren einem wattigen, schmutzigen Hellgrau gewichen. Es blieb warm und ich hatte noch einen Sommernachmittag vor mir, mit dem ich eigentlich nicht viel anzufangen wusste. Mehr aus Langeweile fuhr ich zum öffentlichen Freibad, erwartete eine endlose Reihe Fahrräder davor: Neue, mit dicken Schlössern gesichert, die fast mehr wogen, als das Fahrrad selbst, sportliche Rennräder, nur bestehend aus dem Nötigsten, also Rahmen, Reifen und Bremsen, Fahrräder aus dem Baumarkt, mit großen grobstolligen Reifen, einer nie funktionierenden Beleuchtung, Schrott auf billigen Felgen.
Früher hatte es in jedem Sommer so auf den Fahrradabstellplätzen vor dem Freibad ausgesehen. Aber heute lehnten nur ein paar Damenfahrräder mit Kindersitzen auf den Gepäckträgern mangels Ständer an den Kastanienbäumen, vom letzten Herbst waren drei Fahrradleichen über, die achtlos an den Zaun gestellt worden waren, rosteten vor sich hin, bei einem fehlte der Sattel samt Stütze.
Ich sperrte mein Fahrrad an einen der verbogenen Ständer. Damit wollte ich der Gefahr entgehen, dass es mitsamt den Schrotträdern versehentlich entsorgt wird.
Es standen keine Kinder mit aufgeblasenen Schwimmreifen um den Bauch an der Kasse an, keine Mütter mit Picknickkörben und Badetaschen, gestresst von der heißen Sonne und ihren quengelnden Kindern, keine Schulklassen, niemand wollte sich vordrängeln oder barfuß, nur mit Badehose und einem Handtuch über der Schulter bekleidet, dem Kassenwart den alten Trick unterjubeln, er wäre nur kurz zum Telefonieren draußen gewesen und ja, er hätte schon bezahlt, seine Freunde wären ja auch im Bad und könnten das beweisen, ob der Kassenwart die mal eben ausrufen lassen könnte?
Ich ging also einfach an die Kasse, legte drei Euro auf den Drehteller, der noch der gleiche war wie vor zwanzig Jahren. Damals hatte der Kassenwart immer blitzschnell mit nur einem fast unsichtbaren Griff in die Kasse das Wechselgeld samt Eintrittskarte auf den Drehteller zurück gelegt, mit Schwung und zu dem unausgesprochen verabredeten Spielchen bereit, ob ich, genauso schnell wie er, mein Geld und die Eintrittskarte schon beim ersten Dreh mit der Hand stoppen würde, oder ob der Drehteller noch eine Runde machen würde.
Meine drei Euro bleiben unangetastet liegen. Ich sah dem Kassenwart erwartungsvoll in die Augen. Er behielt seine großen, fleischigen Hände auf dem Tresen, stützte sich damit ab, dann beugte er sich nach vorne, sah durch die vielen kleinen Löcher im geöffneten Halbrund des Sprechbereichs in der Glasscheibe und zog seine graumelierten Augenbrauen hoch. Kurz nickte er mir zu. Ich interpretierte das falsch, zerrte und schob am Eingangsdrehkreuz und als es sich mangels Freigabe durch den Kassenwart nicht bewegte, erbarmte er sich und rief mir zu: „Fehlt noch eineurozwanzich!“
Ein Euro zwanzig Cent fehlen noch? Unglaublich, vier Euro zwanzig Cent sollte der Eintritt kosten? Wann war ich das letzte Mal hier gewesen? Noch länger am Drehkreuz zu hantieren hieße, Buster Keaton Konkurrenz zu machen, deshalb wiederholte ich einfach: “Eineurozwanzich?“ Der Kassenwart nickte schweigend. Ich hatte nicht vor gehabt heute irgendetwas einzukaufen oder essen zu gehen, deshalb hatte ich nur die wenigen Münzen dabei, die ich letztens beim Kaffee trinken als Wechselgeld bekommen hatte.
Still stand neben mir plötzlich eine ältere Dame. Während ich in Hosen- und Hemdtaschen nach den noch fehlenden „eineurozwanzich“ suchte, betrachtete sie mich interessiert, hielt dabei ihre Badetasche mit beiden Händen vor dem Bauch und wippte auf ihren Füßen auf und ab. Mir war das peinlich, jemanden „eineurozwanzich“ zu schulden und sei es auch nur das Eintrittsgeld fürs Freibad. Einen Euro fand ich noch in der kleinen rechten vorderen Einstecktasche meiner Jeans, die, die aus den Jeans die „Five-pocket-jeans“ macht.
Mit fragendem Blick legte ich den einen Euro ganz vorsichtig auf den Drehteller, der Kassenwart hob dabei nur seine Augenbrauen und wartete ab.
Reicht nicht, die zwanzig Cent wollte er also auch noch. Wollte, musste er natürlich haben, ganz legitim. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder Badegast nur vier Euro zahlen würde. Ich war jetzt kurz davor, einfach umzudrehen, meine vier Euro wollte ich auf dem Drehteller liegen lassen, großmäulig und als Trinkgeld für den Kassenwart, als mich die ältere Dame an meinem T-Shirt zupfte: „Wie viel fehlt denn noch? Zwanzig Cent, da schauen Sie her junger Mann....“ Mit diesen Worten zog sie aus ihrer Badetasche ein altes, abgegriffenes Portmonee, wehren zwecklos, legte dem Kassenwart zwanzig Cent auf den Tresen, der Teller drehte sich und meine Eintrittskarte flog mir vor die Füße. Dabei wiegte der Kassier den Kopf hin- und her, machte „Ts, ts, ts...“ und war schon der älteren Dame zugewandt.
Warum sollte ich mich bedanken? Ich taumelte fast vor Scham auf den heißen Asphalt, wollte nur weg vom Ort der Schmach. Ein erwachsener Mann lässt sich seinen Eintritt ins Freibad von einer älteren Dame bezahlen, wie ein Schuljunge, dem das Taschengeld ausgegangen ist. Was war nur los mit mir?
Gedankenverloren ging ich instinktiv zu meinem Stammplatz im Bad: Unter dem großen Kastanienbaum, etwas abseits des Hauptwegs, mit Blick auf den schmalen Wasserkanal, der sich durch das gesamte Freibad schlängelte, mit dunkelgrünen Wasser aus dem Fluss der Stadt. Als Jungen und Mädchen hatten wir viel Spaß dabei, vorne, direkt bei der Einmündung des Kanals hinein zu springen in das meist eiskalte Wasser, das auch im Sommer nie über 14 Grad erreichte. Man konnte gut stehen im Kanal, besonderes Vergnügen bereitete es mir damals immer, mich nur durch den Wasserdruck über den vermoosten, glitschigen Boden schieben zu lassen, das Wasser roch dabei nach Fisch und Algen. Ab und zu machte ich „Mondmännchensprünge“, wie wir das damals nannten. Ich sprang im Wasser, zog die Beine an und berührte erst viele Meter weiter wieder den Grund. Später traute ich mich nicht mehr, den Boden des Kanals mit den Füßen zu berühren, mein Freund hatte sich damals beide Füße arg aufgeschnitten mit einer scharfen, kaputten Glasflasche, die wohl durch den enormen Wasserdruck in den Kanal gespült worden war. Zur Sicherheit für die Schwimmer schützten nun Stahlgitterstäbe Zu- und Ablauf des Kanals vor groben Schmutz, Glasscherben, großen Ästen, toten Tieren und was sonst noch alles vom Wasser in den Kanal geschwemmt werden könnte. Auf der Zulaufseite war deshalb auf einem Betonfundament ein kleiner Kran verankert worden, mit dem das Schwemmgut entfernt werden konnte.
Die Schwüle war einer fast kühlen Brise gewichen, ich legte mich unter den Kastanienbaum, vollständig angezogen, war müde, ja, erschöpft von meinem Kampf an der Kasse, schloss die Augen und hörte dem Bad zu: Ein Baby schrie, erst lautstark und gleichmäßig, dann änderte es seine Taktik und begann in Abständen zu schreien, presste dabei mit Kraft die kleinen Lungen zusammen, um sie sofort wieder bereit für den nächsten Schrei zu machen, ein Schrei, ein Sauggeräusch, ein Schrei – Wo war die Mutter?
Ein Hubschrauber näherte sich mit einem dumpfen, lauten Hämmern seiner Rotorblätter, das sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm steigerte in dem Augenblick, in dem er genau über das Bad flog. Ein schwerer Mensch oder ein Jugendlicher, der eine „Arschbombe“ probierte, klatschte ins Wasser, gleich darauf noch zwei, drei, die folgten.
Menschen gingen auf dem Hauptweg, der gekiest war, schlurften mit ihren Sandalen, der Kies knirschte, ich konnte Gesprächsfetzen hören: „...und da hat er tatsächlich auf Facebook diesen Scheiß gepostet .... stell dir vor und für alle sichtbar.....! Ich roch Kokossonnenöl, wieder und wieder, seit Generationen wird wohl im Sommer Kokossonnenöl auf die Haut geschmiert, sog den Duft ein und hielt kurz meinen Atem an. Eine Blechdose wurde über den Kies gekickt, eine Chipstüte wurde mit lautem Knall, bei dem ich die Augen kurz öffnete, von einem Jugendlichen beidhändig „gesprengt“, Chips flogen durch die Gegend, begleitet von lautem, jungen Lachen. Ich drehte mich zur Seite, hielt meine Augen fest geschlossen, bereit, ein Nickerchen zu machen.
Ich schlief tatsächlich ein, träumte gleich wirr von riesengroßen Ein-Euro-Münzen, die auf die Sitze von 60er Jahre Kindertretautos gesteckt worden waren, nein, bunte Autos auf einem Kinderkarussell waren das: Feuerwehrautos, Polizeiautos, kleine Rennautos zwischen Baggern und Opel Olympia – Cabrios. Die riesigen Ein-Euro-Münzen glitzerten in der Sonne, fuhren auf dem lustigen Karussell unter Gebimmel im Kreis, es roch nach türkischem Honig und Zuckerwatte, nach gebrannten Mandeln..... und..... nach Kokossonnenöl....hier auf dem Festplatz? Ich blinzelte, öffnete die Augen, kurz nur war mir nicht klar, warum ich nur grünes Gras aus der Nähe betrachtete, dann hob ich den Kopf leicht an: Ach ja, Freibad, Sommer – jetzt wieder – Sonne, warm, fast heiß und: Menschen cremen sich mit Kokossonnenöl ein, direkt neben mir. Ich war wieder ganz wach. Weiterschlafen war keine Option mit all dem Geräuschpegel um mich herum.
Schnell zog ich T-Shirt und Hose aus, legte mich in Badehose auf mein Handtuch – auf dem Rücken lag ich dann da, spürte die Sonne auf der Haut, angenehm warm nach dem viel zu langen, kalten Winter.
Später las ich auf dem Bauch liegend meine Zeitung, wurde immer abgelenkt vom lauten Hineinplatschen der Jugendlichen ins Wasser, das alte Spiel, wer dabei die höchste Wasserfontäne erzeugte, wurde wohl nie langweilig. Um meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen stand ich auf, lief barfuß über den, wie es mir schien, messerscharfen Kies, hinüber zum Kanal. Ich setzte mich dann in einiger Entfernung zum Ablauf auf den Rasen, dort, wo feiner Wasserstaub links und rechts des Kanals zerstob, weil sich der Wasserlauf hier verengte und das dunkelgrüne Wasser mit großem Druck auf die schmalen roten Plastikabdeckungen, die zur Sicherheit für die Schwimmer dort angebracht waren, gepresst wurde. Dabei wirkte die flügelartige Form der Abdeckungen wie eine kleine Sprinkleranlage, die das Wasser aufnahm und dann in alle Richtungen fein verteilte. Hier war es jetzt am späten Nachmittag angenehm frisch.
Eine Gruppe Jugendlicher, drei Jungen und zwei Mädchen im Alter von vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahren, schwamm lachend und um sich platschend und spritzend direkt an das Auffanggitter. Die Mädchen hielten sich an den Plastikabdeckungen am Rand fest, die Jungs ließen sich mit dem Rücken zum Gitter vom Wasser anpressen, machten Grimassen, schrien lauthals und bewegten ihr Arme in Richtung der Mädchen, ganz langsam, verdrehten dabei die Augen und erweckten damit den Eindruck, als könnten sie sich ohne Hilfe nicht mehr vom Gitter wegbewegen. Ihre „Hilfe, Hilfe...“ Schreie wurden dann von den Mädchen erhört und mit gemeinsamen Kräften packten die Mädchen einen nach dem anderen Jungen an den Armen, am Kopf und wo sie sonst noch überall anpacken konnten und „retteten“ sie an die Seite hin zu den Plastikabdeckungen.
Einer der Jungen zog sich dann am steinernen Rand des Kanals hoch, geschmeidig sprang er auf den Rasenstreifen, dann lief er parallel zum Kanal in die entgegengesetzte Richtung, um dann, vielleicht in fünfzig Metern Entfernung, mit einem gekonnten Hechtsprung wieder in den Kanal einzutauchen. Das schmutzig grüne Wasser verschlang ihn, ich hob meinen Kopf unmerklich, um den Jungen zu verfolgen, konnte ihn aber nicht sehen. Wo war er nur geblieben? Hatte er sich den Kopf am Grund gestoßen und war jetzt bewusstlos? Wie war das mit der stabilen Seitenlage und der Mund-zu-Mund Beatmung gleich wieder? Wo war der Bademeister und vor allem der Rettungsring?
Bevor ich mir noch weitere Gedanken zur Rettung des Jungen machen konnte, war er außer Gefahr. Er tauchte wieder auf, zumindest war das dem Gejohle und Gelächter, dem Pfeifen und Hallo-Rufen am Ablaufgitter zu entnehmen.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht war er auf der anderen Seite des Absperrgitters aufgetaucht und hielt sich dort mit einer Hand fest. Dann tauchte er wieder, schnell und fast ohne Atem zu holen, um gleich darauf vor dem Gitter wie ein Delfin mit dem Oberkörper aus dem Wasser zu schießen.
Respekt.
Ich hatte tatsächlich Respekt vor diesem sechzehnjährigen Jungen. Wie hatte er es nur geschafft, sich durch das Absperrgitter zu quetschen, unter Wasser, das bereits ab einer Tiefe von einem halben Meter fast kein Tageslicht mehr durchscheinen lies? Das Gitter ging bis auf den Boden, soviel war sicher, sonst hätte es auch keinen Sinn gehabt. Aber wie war hier ein Durchkommen möglich?
Bestimmt gab es dabei irgendeinen Trick, den eben nur 16jährige Jungs kannten. Früher hätte ich gewartet, bis die Jugendlichen weg waren. Ich hätte mich unauffällig an das kleine, moosbegrünte Treppchen geschlichen, um mich Stufe für Stufe und mit Gänsehaut an den Waden und Schenkeln, langsam in den Kanal hinein zu tasten. Schnell wäre ich mit angehaltenem Atem untergetaucht, um den Kälteschock wenigstens nur kurz ertragen zu müssen, mit ruckartigen Kraulbewegungen hätte ich mich dann direkt zum Absperrgitter vorgekämpft, mich mittig daran geklammert und dann vorsichtig mit den Zehen nach links und rechts tastend untersucht, ob es irgendwo doch einen Durchlass geben würden.
Aber heute...
Später sah ich den Leuten zu, wie sie langsam das Bad verließen. Die Sonne stand jetzt satt und golden im Westen, die angenehmste Zeit des Sommertags eigentlich. Ich streckte mich noch einmal richtig auf meinem Handtuch aus, die Sonnenstrahlen waren fast zärtlich, der Himmel war wolkenfrei und von einem dunklen Blau, das für morgen einen noch schöneren Tag ankündigte. Irgendwo auf dem Gelände wurde der kleine Traktor gestartet, dessen Fahrer alle Mülleimer im Bad auf seinen Anhänger ausleeren würde. Einen ohrenbetäubenden Lärm machte die kleine Maschine, die tatsächlich ab und zu schwarze Rauchwolken aus dem Auspuff stieß.
Und da fasste ich einen Entschluss: Ohne mir darüber allzuviele Gedanken zu machen, sprang ich auf, spurtete über den Kiesweg, spürte keine Steinchen, nahm Anlauf und hechtete mit einem Kopfsprung hinein in den kalten Kanal.
Stille, nein, Rauschen in den Ohren, schweben, getragen werden vom Wasser, Augen geschlossen, prickelnde Kälte, tausende Nadeln und: Auftauchen.
Ich war schlagartig hellwach, als ich meinen Kopf wieder über Wasser brachte, ich schüttelte mir das Wasser aus den Haaren, kraulte kräftig, atmete gleichmäßiger.
Auf der Wasseroberfläche schwamm Blütenstaub, es roch nach Blumen, frisch und auch nach Erde, zwischendurch wehte Dieselabgas herüber. Ich ließ mich direkt auf das Absperrgitter zutreiben, prallte dabei leicht auf die Eisenstäbe, spürte den Wasserdruck, hielt mich dann mit der rechten Hand an einem Stab fest, drehte die linke Schulter in die Fließrichtung des Wassers um den Druck etwas zu verringern. Vorsichtig tastete ich mit meinen Zehen dann am Gitter entlang, da musste doch irgendwo eine Klappe sein!
Und tatsächlich erspürte ich das Scharnier, an dem die Klappe befestigt war, wurde dann übermütig, quetschte den großen Zeh zwischen Klappe und Absperrgitter, überprüfte, ob die Klappe beweglich war und bekam die Quittung dafür: So leicht wie sich die Klappe öffnen ließ, schloss sie sich auch wieder, ein harter Schmerzstrahl traf mich, instinktiv zog ich den Zeh zurück, war zu feige nachzusehen, ob er blutete: - Indianerschmerz -
Jetzt also untertauchen, die Klappe öffnen, durchswitchen und gleich wieder zurück? Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, warum ich tatsächlich untergetaucht bin, die Augen im grünlich trüben Kanalwasser geöffnet, die Gitterklappe aufgedrückt und mich dann durch den fast zu engen Durchlass gequetscht habe. War mir der Traktor zu laut gewesen, wollte ich mir etwas beweisen, traf mich der Übermut oder wollte ich einfach nur immer noch so toll wie ein 16jähriger sein?
Da war ich nun unter der kleinen Fußgängerbrücke, von der halbrund geformten schwarzen Betondecke hingen kleine gelbliche Ministalagmiten aus Kalk, großflächige Spinnennetze verbanden sie zu einem grauen Netz, in dem Generationen von Insekten ihren letzten Atemzug gemacht hatten. Mittig eingelassen in die Decke war das Regenablaufgitter der Fußgängerbrücke, das spärliche Licht drang in dem dunklen Schacht gerade bis zur Wasseroberfläche vor. Kurz nur bekam ich leichte Panik, weil mich das Wasser weiter in den Schacht drückte, weg vom Absperrgitter. Erst wollte ich umdrehen, mich gegen das Wasser stemmen und zu Fuß über den glitschigen Kanalboden hin zum Absperrgitter stampfen, durch die Klappe zurück tauchen, wieder ans Sonnenlicht. Dann stieß ich mich vom Boden ab, wurde sofort wieder vom Wasser abgedrängt, kraulte mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand hin zum Gitter, erreichte es viel später, als ich gedacht hatte und klammerte mich fest.
Geschafft – eigentlich. Nur noch kurz ausruhen, einmal fest eingeatmet und dann wieder zurück – ganz einfach – Kein Problem – Haben schon viele vor mir auch so gemacht. Jeden Tag, Jungs und sicher auch Mädchen jeden Alters, als Mutprobe, oder einfach so, oder weil man das Wissen um ein kleines Geheimnis zeigen wollte, oder weil irgendein Idiot bei der letzten Instandhaltung vergessen hatte, die Klappe wieder ordentlich mit zwei Schrauben zu verschließen. So what!
Mich fröstelte leicht.
Das Kanalwasser war wesentlich kälter als das Chlorwasser in den Schwimmbecken, tagsüber angereichert von vielen Litern Urin, ohne Fließbewegung, dümpelnd und nur durch das Geplantsche von Kindern aufgewühlt. Was mich veranlasste, gerade Schwimmbecken zu meiden wäre mir jetzt, in dieser Situation, doch sehr willkommen: Warmes, durchpinkeltes Chlorwasser!
Mit der linken Hand hielt ich mich am Gitter fest, die rechte Hand tastete nach der Klappe irgendwo da unten. Die Stäbe waren teils rau und angerostet, teils mit einer Schicht aus glitschigen grünlichen Algen bewachsen. Der Wasserdruck war stetig, drückte mich jedoch mit unterschiedlicher Kraft nach hinten, Richtung Tunnel, je nachdem, wie ich meinen Oberkörper im Wasser drehte.
- Keine Klappe -
Zweimal hangele ich mich am Gitter hin- und her, ertaste keine Klappe, keine Schraube, kein Scharnier, an einer scharfen Stelle schneide ich mir in den Zeh, schreie kurz auf vor Schmerz, fluche laut, noch lauter – echoartig hörte sich das in dem Tunnel an.
Ich friere – und habe keine Lust mehr – Idiot – Vollidiot – alter Vollidiot -
Mal eben das nachmachen, was einem ein 16Jähriger vorgemacht hat – Geht schon – Bist ja auch kaum älter, bist wahrscheinlich auch noch schlauer als der 16Jährige – ja, wahrscheinlich findest du selbst noch einen ganz anderen, tolleren Weg wieder hinaus – ins Freie – in die Sonne – zurück zu deinem Handtuch -
Ich schrie jetzt, laut, um Hilfe, hielt mich mit meinen klammen Fingern fest am Gitter, schrie um Hilfe, ich bin hier, Hilfe, das ist kein Scherz, bitte holt mich hier raus, mir ist kalt, Hilfe – und werde übertönt vom Traktor, der gefahren wird von einem jungen Mann, der Kopfhörer aufhat, so wie alle jungen Männer, der Musik hört, die ich nicht kenne. Die Müllkörbe scheppern, wenn er sie hart und verkehrt herum auf seinen Anhänger ausschüttet, der Traktor tuckert dazu im Leerlauf, laut und stinkt und übertönt mich.
Es wird dunkler im Wassertunnel, das spärliche Licht, das durch die perforierten Wasserabläufe oben an der Tunneldecke einfällt, dringt nun in einem schrägeren Winkel zu mir herunter – wie lange sitze ich hier schon fest?
Plötzlich hole ich tief Luft, es überrascht mich selbst, tauche unter, ziehe mich mit offenen Augen so weit an den Gitterstäben nach unten, bis ich fast auf dem betonierten Grund aufkomme. Das dunkle Wasser drückt meine Augen tief in ihre Höhlen, ich sehe fast nichts und zwinge mich, sie geöffnet zu lassen.
Nichts, dunkelgrünes Nichts, ich ziehe mich mit einem Ruck an die Gitterstäbe heran, schlage mir die Stirn an, wird wohl keine Beule geben, das Wasser kühlt ja.
Und finde die verdammte Klappe, schlage fast auf sie ein, kann mich gerade noch festhalten, drücke, biege, drücke fester, die Luft wird knapp, die Klappe bewegt sich nicht. Kurz nur, beim Auftauchen, bin ich mir unsicher, auf welcher Seite der Klappe ich eigentlich bin, aber aufgetaucht weiß ich, dass es die schlechteste ist, die mir heute angeboten werden kann.
Panik – oder nicht – Panik – Schreie – Hall und – keine Menschen – Warum eigentlich keine Menschen, die mich befreien, mit einem Grinsen im Gesicht, aber auch – Badegäste.
- „Ich hab` mir gedacht, da wär` eine Katze oder ein Hund hier unter mir, da beim Wasserablauf, ..beim Hinausgehen hab` ich was gehört und bin dann gleich zum Bademeister, hätt` ich mich nicht gedacht, dass hier ein Erwachsener so nen Blödsinn macht.“
Und kein Sanitäter und keiner von der Feuerwehr, dem technischen Hilfswerk oder einem ähnlichen Verein.
Nicht mal das.
Niemand hört mich hier.
Niemand sieht mich hier.
Einzelne Wörter bilden zwei Sätze in meinem Gehirn, irgendwo zwischen den Augen, grinsen mich an und verschwinden wieder, werden nach hinten gespült, wie das Wasser, kaltes Wasser, das riecht, nach Fisch und Algen und stinkt, bloß nicht den Mund aufmachen, keinen Schluck, zum Erfrieren noch kotzen und Dünnschiss?
Nein, das würde später kommen, das Kotzen und der Dünnschiss – Scheiße ist das kalt.
Ich habe losgelassen, die Gitterstäbe losgelassen, bin weiter in den Tunnel getrieben, rutsche über den glitschigen Boden. Das ist kein Spaß mehr, ich möchte nichts mehr ausprobieren, ich möchte hier raus, jetzt – und ich schlage auf das Wasser mit den Fäusten ein und schreie dazu und brülle, treffe mich selbst, verschlucke das Wasser – also doch – und es ist mir scheißegal, ich spucke und schreie um mich und weine wahrscheinlich – Wasser zu Wasser.
Stille.
Ruhig jetzt – ruhig atmen und kein Wasser mehr verschlucken, halt dich am Rand fest. Ich versuche mich irgendwo an der Seite des Kanals festzuhalten, ist der Wasserdruck stärker geworden? Ich kralle mich fest, drehe mich seitlich, breche mir zwei Fingernägel ab und zittere vor Kälte. Ruhig jetzt, Kräfte sparen. Soll ich wieder ans Gitter schwimmen oder gehen oder mich an der Seite langsam vorziehen?
Mein Gehirn zittert mit, meine Gedanken holpern vor sich hin, stolpern ins Leere, auf und ab und das Wasser schiebt mich hinein in den Tunnel – Festhalten -
Mehr geht nicht – nur festhalten – Meine Kraft verlässt mich irgendwie, zittert aus mir heraus.
– Festhalten -
Dreck schwimmt auf einmal um mich herum, Stanniolpapier, kleine Plastikflaschen, leere Chipstüten, vollgesogene Papiertaschentücher drehen sich in Wasserwirbeln, bleiben mir an der Brust hängen, angeekelt reiße ich mir den Glitsch mit einer übertriebenen Handbewegung weg, kratze mich selbst und ich schüttele mich – vor Kälte und Angst und Wut und Panik und einfach so, weil ich nicht anders kann, selbst wenn ich will.
War`s das? War`s das mit mir?
Plötzlich stelle ich mir diese Frage – die Frage stellt sich selbst – wirbelt um mich herum und lächelt mich an. Hey, war`s das? Für mich?
Die grinst nicht, nein, sie lächelt, lächelt mich an, schmeichelt sich ein. Und wenn`s so wäre? Schnell geht das, so schnell.
Denk nach.
Halt dich fest und denk nach. Wie weiter – wie weiter machen? Dunkler wird`s im Tunnel, der Gestank bleibt derselbe, nein, er wird intensiver und ich finde dieses Fische und Algengemisch ganz okay, ist ganz okay, ist o.k.
Scheiß drauf.
Schüttelfreie Zone – mein Gehirn meldet mir gerade schüttelfreie Zone – also nachdenken: Wasser von vorne – drückt, ist kalt und riecht o.k., ich bin schon fast fünfzig Meter im Wassertunnel abgetrieben, mir ist schweinekalt, ich kann mich gerade noch an der Seite festhalten, keine Chance mehr Richtung Ausgang – Gitterstäbe zu schwimmen oder zu gehen, bald ist es hier vollkommen dunkel, was tun du Arsch? Was tun du Arsch – was tun du Arsch – was tun du Arsch?
Ist das Echo draußen oder drinnen? Also: Was tun? Wie lange dauert das? Antwort ist wo? Vorbei geschwommen, vorbei getrieben, ha, ja, genau, auf einem Miniaturschlauchboot ist die Antwort gerade vorbei getrieben und ich habe nicht aufgepasst, es ist zu spät, die bekommst du nicht mehr, ist ja vorbei getrieben, die Antwort. Ist weiter hinten, im Tunnel, dunklen Tunnel, ist der dunkel.
- Die Antwort ist weiter hinten im Tunnel -
Die sieben Wörter blinken vor mir im Schüttelrhytmus meiner Muskeln rot und grün und blau.
Blinkt schön – hier im Dunkeln. Blinkt schön.
Ich schließe die Augen – kurz nur – schlafen will ich nicht – nur kurz die Augen schließen – Blinkt schön, auch wenn die Augen zu sind.
Schlafen ist verboten, aber die Augen kurz zumachen. Träumen kann ich auch, wenn ich will, von einer grünen Sommerwiese, mit Sonne, viel Sonne und blauen Himmel und weißen, freundlichen Wolken. Ich kann da liegen auf der Sommerwiese, liegen, ja, mich ausstrecken und da liegen, muss erlaubt sein, hier, auf der Wiese. Und ich kann mich auch auf den Bauch legen, meinen Kopf auf den angewinkelten Arm legen, weil mir das Kissen fehlt, weil mir das niemand gibt.
Und jetzt wird es aber dunkel, die Wolken verdecken die Sonne und es regnet, ganz fest. Es prasselt auf mich der kalte Regen, warum eigentlich? Die kleinen Regentropfen schieben mich und sind kalt und viel zu viele. Ich öffne meine Augen und halte mich am Rand des Kanals fest. Ich bin ein Idiot, klein bin ich, wie ein Kind, ein kleines Kind, hilflos, habe Hunger und friere. Ich habe ein Problem, das mich durchaus nicht viel angeht, wer möchte mein Problem haben, ich brauche es nicht mehr. Wird verschenkt, das Problem und ist meins – Dennoch – Und jetzt reiß dich zusammen.
Was hat geblinkt? Rot, grün und blau?
Die Antwort, hinten im Tunnel.
Vor den Umkleidekabinen, den altmodischen, die fast niemand mehr benutzte, war in den Boden ein Gitter eingelassen worden. Ganz mutig haben wir uns als kleine Jungs darauf gestellt, durch die Ritzen auf das darunter durch fließende Wasser gespuckt, uns dabei ein bisschen gegruselt, denn nicht wir selbst waren dann auf der Reise durch den unterirdischen Wassertunnel, sondern nur unsere Spucke.
Das Gitter musste noch da sein, bestimmt. Und um in meinem Kopf wieder klar zu werden, tauche ich einmal kurz unter, reiße den Kopf aber nicht nach hinten, lasse die nassen Haare ins Gesicht hängen und streiche sie mir nur langsam links und rechts zur Seite.
Das Gitter, hinten im Kanal, so geht`s. Brauchst dich nur treiben zu lassen, einfach wär das, einfach bis zum Gitter. Du drückst es von unten hoch, stößt es hoch, haust es mit einem Schlag mit dem Handballen nach oben, drehst dich dann schnell zur Seite, damit es dich nicht treffen kann, wenn es vielleicht herunter fällt, ziehst dich hoch und bist wieder draußen, oder – gerettet – hast deine Ruhe, legst dich auf den warmen Asphaltboden, bleibst nur kurz liegen, bis dir wieder warm ist, läufst dann zu deinem Platz und ziehst dich an und gehst nachhause.
Zum Gitter.
Wenn das Gitter wirklich noch da wäre, müsste ich es eigentlich sehen, das Licht sehen, das Sonnenlicht sehen, wie es durch das Gitter scheinen würde, aufgeteilt in kleine Lichtkaros müsste das Licht auf`s Wasser scheinen.
Wenn die Sonne noch da wäre.
Wenn die Sonne noch scheinen würde.
Die Zeit, meine Zeit, ist mir abhanden gekommen. Gleichmäßig läuft das Wasser durch den Tunnel, wird immer dunkler, auch kälter, ist mir egal.
Jetzt loslassen – Option – Loslassen, treiben lassen, das Wasser arbeitet für mich und trägt mich weiter, nach oben oder draußen, bestimmt wohin.
Dann stoße ich mich vom Rand ab, ziehe die Beine an, mache Kraulbewegungen, bin im Tunnel, auf der Reise, lege mich auf den Rücken und lasse mich treiben. Die gewölbte Decke ist kaum noch zu erkennen, wird es jetzt niedriger? Mit beiden Beinen will ich bremsen, rutsche über den glitschigen bemoosten Boden, ich stemme mich gegen die Seitenwände, morscher Putz bröckelt dabei ab, gräbt sich unter meine Fingernägel, rieselt mir in die Augen und das Wasser fließt schneller, weil der Tunnel enger wird.
Nicht weit, nicht weit, nicht mehr weit muss das Gitter sein, 100 Meter oder 200 Meter oder 300?
Ich friere erbärmlich, jetzt. Die Kälte zieht sich über meinen Rücken, über die Schulter, in die Brust und in mich, in meine Körpermitte, dreht mir den Magen um, ich erbreche ins Wasser, einmal, zweimal, Erbrochenes schwimmt um mich herum, aber mir ist leichter.
Egal jetzt, scheißegal, alles scheißegal, die Decke wird immer niedriger, kommt auf mich zu und grinst mich an, gleich stoße ich an das uralte Mauerwerk mit dem Kopf und ducken ist ohne Chance weil da Wasser ist, gleichmäßig und ruhig und soviel Wasser, wo kommt das her, das scheiß viele Wasser, kotzt mich an, ich kotze es an und es ist ihm vollkommen egal.
Es verlässt mich die Panik – plötzlich – überraschend. Drei Zentimeter unter meinem Kinn ist Wasser, drei Zentimeter über mir ist die Decke des Tunnels. Schemenhaft nur ist sie erkennbar, immer wieder streift irgendetwas meinen Kopf, bleibt in meinen nassen Haaren hängen. Beide Hände stemme ich dagegen, drehe mich seitlich in den Wasserstrom und muss lachen: Was für ein Vollidiot bin ich doch, wie blöde muss man sein, du hättest vorne bleiben sollen, einfach warten, bis der Traktor keinen Lärm mehr macht und dann schreien und brüllen, irgendjemand hätte es schon gehört und vielleicht wäre die Klappe ja doch noch aufgegangen, wer weiß? In jedem Fall vorne bleiben, du Idiot.
Ein Messerstich trifft die Finger meiner linken Hand, es hält mich etwas fest. Ich möchte die Hand zurück ziehen, zwei Finger bekomme ich frei und erwarte, dass ich mich mit Blut bespritze und schaue nach oben, Dreck brennt in meinen Augen, ich blinzle und sehe:
Metall.
Verrostetes Metall mit Löchern, nein, Vierecken, die mit Dreck zugesetzt sind. Was rieselt mir da entgegen – Insektenleichen, vermodertes Laub und Spinnweben und stinkendes, schmieriges Etwas und meine Finger stecken im Gitter fest, das mich retten kann, weil ich jetzt da bin, weil ich gelacht habe und weil ich die Kälte nicht mehr spüre. Ich möchte laut schreien, vor Freude und hoch springen, gurgle aber nur mit Dreckwasser, das mir in den Mund dringt und ich huste und spucke – Jetzt nicht kurz vorher noch absaufen, halt dich fest.
Meine Finger knacken, laut, zweimal, es ist, als ob sie mir nicht gehören, ich kann sie ganz einfach aus den Metallvierecken ziehen. Der linke Zeigefinger und der linke Mittelfinger stehen in einem komischen Winkel ab, sieht lustig aus und tut nicht weh.
Aber wie in Zeitlupe meldet sich der Schmerz verspätet in meinem Gehirn an. Ich kann sehen, wie er von den Fingern über die Hand, den Unterarm entlang kriecht, im Oberarm kurz stecken bleibt und dann, wie eine Stahlkugel durch ein Loch, direkt in meinen Kopf schießt und explodiert und mit einem Riesenhammer durch alle Windungen klopft, meine Schädeldecke wird von innen aufgemeißelt und angehoben und dann schleicht sich der Schmerz in Wellen davon, ein hartes Pochen bleibt mir.
Finger gebrochen, aber gerettet. War ja jetzt dramatisch, du Held. Was sagst du nachher dem Arzt, wie, nein, wo du dir die Finger gebrochen hast? „Ich habe mir die beiden Finger gebrochen, als ich im dunklen Wassertunnel fast um`s Leben gekommen bin, in Panik, halb aufgegeben hatte ich schon, aber dann kam die Rettung doch noch und ja, zugegeben, war nicht sehr klug von mir, aber schließlich hat`s ja doch geklappt und jetzt bin ich hier und hole mir mein Andenken ab: Zwei krumme Finger, kann ich später immer erzählen, warum die krumm sind.“
Was für ein Blödsinn.
Spar die die Kraft. Die Finger tun furchtbar weh, der Zeigefinger wird schnell dick und pocht schrecklich.
Jetzt noch kurz ruhig sein, nochmal Kräfte sammeln, mit der rechten Hand wird`s gehen. Wird schon gehen.
Wut steigt in mir hoch, auf mich, auf das Wasser, den Idioten, der mir den tollen Trick vorgemacht hat, auf den Traktorfahrer, auf den Kassenwart, alles Arschlöcher und Vollidioten, ja, Arschlöcher und ich selbst gehöre auch zu den Arschlöchern und ich schlage jetzt mit der rechten Faust von unten mit voller Kraft auf das Gitter.
Der zweite schlimme Schmerz kommt gleich, ohne jede Verzögerung, ich ziehe die Faust zurück, sehr schnell, stecke mir die Hand zwischen die Beine und unter die linke Achselhöhle und muss schreien, weil es grausam weh tut und weine bestimmt, aber alles ist Wasser und zu Wasser wird alles, warum reden alle immer vom Staub?
Mir wird schwindelig, ich kann mich fast nicht mehr auf der Stelle halten, abtreiben wäre aber Horror, ich weiß nicht, ob es da noch ein zweites Gitter gibt und ob die Decke noch niedriger wird und muss hierbleiben, hier stehen bleiben im Wasser, im Wasserdruck, muss dagegen drücken, genau ein bisschen mehr wie sich das Wasser gegen mich stemmt.
Es wird eng.
Ich zittere wieder, oder immer noch, am ganzen Körper, selbst die Halsmuskulatur verkrampft sich und schüttelt meinen Kopf, der Tremor trifft auf mich, wie lange noch?
Draußen muss es dunkel sein, kein Lichtstrahl fällt durch das verdreckte Gitter. Ich kann die Umrisse des Gitters nur sehen, weil sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben. Ich bekomme Kopfweh – denkt da jemand an mich?
Und ruhig sein, ruhig werden.
Zieh` die Badehose aus – Zieh` die Badehose aus!
Warum?
Es wird dich nicht mehr frieren, als mit der Badehose am Körper!
Und wenn doch?
Es wird dich nicht mehr frieren!
Es wird mich nicht mehr frieren.
Ich mach`s einfach, es ist schwierig, meine Finger schmerzen, die Badehose klebt an mir, ich versuche sie abzustreifen, muss strampeln, muss sie behalten, festhalten, mit der rechten Hand, hab`s geschafft.
Wickel dir die Badehose um die rechte Hand, fest um den Handballen!
Ich wickele mir die Badehose so gut es geht um die rechte Hand, die schmerzt und leicht blutet und schon blau anläuft.
Stoße jetzt mit dem Handballen so fest du kannst an die rechte, schmale Seite des Gitters, zweimal kurz, Pause, zweimal kurz, Pause.
Und ich stoße zweimal kurz, so fest ich kann an die schmale, rechte Seite des Gitters, zweimal kurz, wieder fällt mir Dreck ins Gesicht, auf die Haare, auf den Kopf, wen interessiert`s? Und mache Pause – zweimal kurz und mache Pause, zweimal kurz.
Das Gitter wird plötzlich hochgeschleudert, dreht sich und fällt mit der schmalen Seite ins Wasser, trifft mich vorher am Kopf, es wird warm, endlich, aber zu welchem Preis? Und ist weg, taucht ein ins dunkle, schwarze Wasser, ist weg, ist weg.
Es funkeln mich Sterne an, dunkler Sommernachtshimmel und Gras riecht, ich liebe es und ich kann das Chlorwasser riechen und eine Mischung aus Abwasser und Urin, der Geruch muss von den alten Umkleidekabinen herziehen und ich liebe ihn.
Jetzt raus hier. Ich versuche, meine Arme durch die Öffnung zu zwängen, es ist eng, die Schultern werden nur seitlich durch passen.
Und so stelle ich mich auf die Zehenspitzen, strecke meinen Kopf soweit dies möglich ist, als Erstes durch das offene Viereck, erst einen Arm durchziehen und es schmerzt und aus meiner Platzwunde über der rechten Augenbraue läuft mir das Blut warm ins Gesicht. Fast verlässt mich meine restliche Kraft – dann den anderen Arm –
Kurz bin ich zwischen den Welten, mir ist, als ob mich das Wasser noch einmal herunterziehen möchte. Ich strample und trete das Wasser, stoße mich ab und schlage mir beide Knie an der harten Einfassung des offenen Vierecks an, eine letzte Kraftanstrengung und da liege ich jetzt – nackt – auf dem Bauch auf dem schwarzen, warmen Asphalt.
Ich blute irgendwie überall, aber ist ja nicht schlimm, ist nicht schlimm.
Da liegen, auf dem warmen Boden, alles fliest noch um mich herum, bewegt sich, drückt mich, berührt mich.
Wasser ist weg, ist unter mir,
ist dunkel, ist grün,
weg fliest es, dahin,
unterirdisch und leise,
gleichmäßig und kühl
und hat mich losgelassen und lässt mich ziehen
und lässt mich liegen,
hier,
auf dem warmen Asphalt.