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Was bleibt
“Das sind sie ja!”
Ein taubenblauer Transporter machte auf der anderen Straßenseite Halt. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und hob den Zeigefinger zum Gruß. Günther erwiderte die Geste und bedeutete ihm, auf den Bürgersteig zu fahren und dort zu parken. Dann ging er am Tresen unsere Kaffee bezahlen. Ich folgte ihm und zog mein Portemonnaie heraus.
Er winkte ab. “Lass stecken!”
Ich war das allererste Mal dabei und wusste noch nicht, wie die Dinge laufen.
“Morgen!”, rief Günther, während er mit rollendem Gang die Straße überquerte.
“Moargön, Güntöar!”, erwiderte der Mann mit breitem Akzent. Er war klein und kompakt gebaut. Seine graumelierten Haare trug er nach hinten gegelt. Er gab erst Günther die Hand, dann mir. Ich spürte, dass er das hier nicht erst seit gestern machte.
“Hallo, ich bin Henry”, sagte ich.
“Meda, freut misch!”
Ein zweiter Mann kam um die Fahrerkabine getrottet. Er war genauso breitschultrig wie Meda, aber zwei Köpfe größer. Meda stellte ihn vor, doch Günther verstand seinen Namen nicht.
“Wie war das, Toni?
“Doni!”, riefen Meda und der Mann gleichzeitig. “Doni!”
“Doni? Mit D?”
“Ja, genau. Doni! Alle Deutschen denken ja immer Toni”, sagte Meda. “Aber kommt von Liridon.”
“Doni also”, sagte Günther und Doni nickte lächelnd. “Doni!”
“Das ist so eine niedliche Form, verstehst du?”, sagte Meda. “So wie Günni für Güntöar.”
“Oder Toni für Anton”, sagte ich.
Doni schaute mich fragend an und Meda sagte, “Nischt Toni, Doni!”
Ich bereute, mich eingemischt zu haben.
“Ja, hab ich verstanden. Doni! Hat das eine Bedeutung?”
“Freiheit”, sagte Meda und Doni nickte.
“Schön!”
Günther wurde unruhig. “Also, wollen wir mal?”
“Natürlisch”, sagte Meda. “Dafür sind wir ja hier!”
Wir gingen zum Hauseingang. Günther drückte eine Klingel und als kein Summer ertönte, zog er einen Schlüsselbund aus der Tasche.
“Eigentlich wollte Herr Jammerzen schon hier sein. Naja, wir gehen mal hoch.”
Er schloss auf und wir schoben uns einer nach dem anderen ins Treppenhaus, das genau so aussah, wie ich es von diesen Häusern kannte. Auf dem schwarz-weiß-gesprenkelten Terrazzoboden vor dem Metallbriefkasten lagen Werbeprospekte und das aus dünnen, weißen Stangen zusammengesetzte Treppengeländer hatte einen grauen Handlauf aus PVC.
“Hier müsst ihr ein bisschen aufpassen”, sagte Günther, während wir die Treppe hochstiegen. Er deutete auf die Wände, die etwa bis auf Schulterhöhe grasgrün und darüber beige gestrichen waren. “Ist frisch renoviert.”
“Ist gar keine Problem, ist ja breit genug”, sagte Meda.
“Einfach bisschen aufpassen”, wiederholte Günther und ich nahm mir vor, daran zu denken.
Im zweiten Stock machten wir halt. Günther drückte auch hier auf die Klingel und eine laute Schelle drang durch die braune Wohnungstür.
“Sitzt er vielleicht aufm Pott?”
Wieder verhallte das Klingeln unbeantwortet. Günther schloss auf und wir betraten die Wohnung. Der Flur war schlauchförmig und dunkel. Er knipste das Licht an. Linker Hand, zwischen zwei Türen stand eine Holzgarderobe mit Unterschrank und Spiegel, an den Haken hingen Jacken und Mäntel, auf der Ablage darüber lagen Strickwaren und ein kugelförmiger, schwarzer Hut. Es roch nach Schuhputzmittel, Altfrauenparfüm und Frittierfett. Auf dem Linoleumboden lag ausgestreckt ein weinroter Läufer mit dunklem Orientmuster. Es sah alles noch so aus, als würde gleich jemand in den Flur treten und uns in die Stube bitten. Günther machte mit der Hand eine streichende Geste in der Luft. “Das Linoleum hier und in der Küche muss auch raus. Sollte aber kein Problem sein, ist nicht verklebt.”
Meda drückte die Türen der vom Flur abgehenden Zimmer auf und warf einen Blick hinein, während wir weiter durch ins Wohnzimmer gingen. Dafür, dass es in einer Etagenwohnung lag, war es groß. An der Wand stand ein ausladendes Stoffsofa mit tiefen Kissen, auf dessen Rückenlehne ein kleiner Klabautermann thronte und uns beobachtete. Gegenüber nahm eine dackelbraune Holzwand mit verschiedenen Türchen und Fächern fast die gesamte Wandfläche ein. Ich warf einen Blick ins Fach mit den Büchern. “Meyers Konversations-Lexikon” stand auf dem Rücken einer Reihe mit Ledereinband, daneben, in einem ebenso antiquierten Look, “Die schönsten Sagen des klassischen Altertums” und drei Bücher von einem Johannes Mario Simmel. “Es muss nicht immer Kavier sein”. Der Titel kam mir bekannt vor. In der Mitte des Holzungetüms saß wie eingemauert ein wuchtiger Röhrenfernseher, der im Fach darunter von einer altmodischen Stereoanlage mit mehreren Decks ergänzt wurde.
“Gelsenkirchner Barock”, sagte Günther und zwinkerte mir zu.
“Ja, genau”, sagte Meda und machte prüfend eine der Türen auf.
“Interesse?”
“Danke, Güntöar, aber das will ja keiner mehr haben.”
“Will keiner mehr haben, oder?”
“Ist ja schade, normalerweise ist das eine schöne Regal. Gut gearbeitet! Massiv!”
“Der ist massiv!”
“Aber kauft ja keiner mehr so was.”
“Also weg!”
“Aber das ist eine schöne Stück.”
Meda machte einen Schritt auf ein Sideboard zu, das einen moderneren Look hatte. Ich konnte es mir gut in einem Berliner Café vorstellen oder in einer Juppiwohnung.
“Das ist sehr schön”, bestätigte Günther. “Sechziger Jahre.”
“Diese nehme ich, wenn ich darf.”
“Ja, klar, nimm mit!”
Meda sagte etwas auf Albanisch zu Doni, dann zu mir, “Diese bitte lassen.”
Ich nickte. “Alles klar.”
Im Schlafzimmer wurde über einen alten Bauernschrank und über eine Kommode dasselbe Urteil gefällt wie über die Schrankwand im Wohnzimmer.
“Weg!”
Bei einer Holztruhe zögerte Meda, bevor er sich entschied, sie mitzunehmen.
“Bleibt!”
Ein höhenverstellbares Einzelbettgestell, so teilte uns Günther mit, würde später abgeholt werden.
“Bleibt auch!”
“Und die Matratze?”
“Weg!”
Im Bad wurde alles zum Abschuss freigegeben, bis auf die Waschmaschine. Als Meda sie entdeckte, sagte er nur, “Miele!”, woraufhin Doni anerkennend nickte. Es schien sofort klar zu sein:
"Bleibt!”
Mich wunderte das, denn sie war so alt, dass sie noch eine Chromverkleidung an der Tür hatte und diesen einen orangenen Knopf, den ich noch von unserer alten Miele kannte. Scheinbar handelte es sich hier um echte deutsche Wertarbeit für die Ewigkeit. Wir gingen weiter in die Küche, von der noch einmal eine kleine Abstellkammer abging.
“Hier kann alles weg”, sagte Günther.
“Gibt es eine Keller?”, fragte Meda, als wir nach unserem Rundgang wieder im Flur standen.
“Ja. Und auf dem Balkon ist auch noch Krempel.”
“Ist viel im Keller?”
“Nicht viel. Ein Abteil!”
“Gut, aber gucken wir das ja gleich lieber noch einmal an.” Meda lachte. “Ich weiß ja, wenn du sagst, nicht viel.”
Günther lachte auch. “Ja, ja.”
Es klingelte. Günther öffnete mit einem Ruck die Wohnungstür. “Herr Jammerzen!”
“Guten Morgen!” Ein kleiner Mann in grauem Anorak und Blue Jeans schaute schüchtern in die Runde. Seine dünnen, schwarzen Haare trug er gescheitelt, am Hals hatte er bei der Rasur nicht sauber gearbeitet. “Sind Sie schon fleißig?”
“Wir haben uns gerade ein Bild gemacht, ja”, sagte Günther mit betonter Ruhe. “Aber es ist ja im Grunde alles besprochen. Das Linoleum kommt raus, das Bettgestell wird später abgeholt …”
“Das Bettgestell wird später abgeholt”, wiederholte Herr Jammerzen. “Und hier habe ich noch ein paar Sachen aussortiert für mich.”
Er machte einen Schritt ins Schlafzimmer und zeigte auf den Boden hinter der Wand. Meda sagte etwas auf Albanisch und Doni antwortete breit lächelnd, “Bleibt!”
Meda und ich lachten und Herr Jammerzen warf uns einen irritierten Blick zu. “Genau, die Kartons bitte da lassen.”
“Verstanden”, sagte Meda wieder mit ernster Miene und ich nickte auch, damit er sich keine Sorgen um seine Sachen machte.
“Gut, dann gehen wir doch vielleicht gerade noch einmal kurz in den Keller”, sagte Günther. “Meda, kommst du mit?”
“Güntöar deine Vater?”, fragte Doni, als wir alleine im Flur standen. Ich wusste nicht, wie ich ihm die Verhältnisse erklären sollte, also sagte ich nur, “Nein, ein Freund!”
“Ohhh, Freund!”
Ich fühlte mich verpflichtet, nun auch etwas zu fragen.
“Und Meda?”
“Cousin!”
“Aha! Woher in Albanien kommt ihr denn?”
Er zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf.
“Woher?”, sagte ich akzentuiert und setzte meinen Zeigefinger auf einen Punkt in der Luft. “In Albanien?”
“Nicht Albanien, Kosovo!”
“Mhm! Aber Sprache Albanisch?”
“Ja.”
“Verstehe. Und Deutschland gut?”
Er nickte und hob einen Daumen. “Sehr gut!”
“Schön!”
Wir schwiegen.
“Ich geh mich noch einmal umgucken”, sagte ich nach einer Weile, weil mich die Situation beklommen machte. Im Wohnzimmer sah ich mir die Dinge in der Schrankwand genauer an. Die Anlage war von Loewe und ich überlegte, ob ich nach den Lautsprechern fragen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Eigentlich brauchte ich sie nicht und sie waren wirklich sperrig. Ich öffnete ein Fach mit einer Klappe und fand die Hausbar samt einer Auswahl an Gläsern. In einem Fach weiter oben waren Fotos aufgestellt. Eines zeigte ein mittelaltes Paar, das vor den Pyramiden in Ägypten posierte und in die Kamera strahlte. Der Mann trug ein enges Hemd mit breitem Kragen, um seinen Hals hing eine silberne Kamera, die Frau hatte eine große Sonnenbrille mit weißem Gestell auf der Nase und eine aufgebauschte Frisur. Das Foto hatte einen starken Gelbstich, wahrscheinlich war es irgendwann in den Siebzigern oder frühen Achtziger aufgenommen worden. Ich stellte es zurück und nahm das Porträt eines Mannes im Rentenalter in die Hand. Er saß in Anzug und Krawatte vor einem hellblauen Hintergrund und lächelte ein wenig gezwungen in die Kamera. Über eine der oberen Ecken war ein schwarzes Band geklebt worden. Ich verglich das Gesicht mit dem des Mannes auf dem Ägyptenbild. Es war dieselbe Person, vermutlich der Ehemann der Frau, die in der Wohnung gelebt hatte. Dem Stil des Fotos nach zu urteilen, war er schon vor längerer Zeit gestorben. Fotos von Kindern oder anderen Personen gab es keine. Scheinbar war Herr Jammerzen nicht der Sohn der Frau. Vielleicht war er ein Neffe. Ich hörte, dass Günther und Meda zurück waren.
“Na, was gefunden?”, fragte Günther.
“Nee.”
“Bin ich schon alles durch.”
“Nichts dabei, oder?”, fragte Meda.
“Doch, eine Silberbrosche und eine schöne Damenglashütte. Sieht echt aus, muss aber gemacht werden. Ansonsten nur Mist.”
Meda nickte.
“Was ist eigentlich, wenn ich noch was von Wert finde?”, fragte ich.
Günther machte eine zu sich winkende Handbewegung und ich meinte, dass er und Meda kurz einen Blick tauschten, den ich nicht recht deuten konnte. Ich fragte mich, ob Herr Jammerzen von der Brosche und der Uhr gewusst hatte, hielt aber lieber den Mund.
“So, Männers!”, sagte Günther, “Dann mal frohes Schaffen, ich bin weg!”
Meda und Doni redeten Albanisch.
“Henwie”, sagte Meda dann, “wir fangen mit die Sofa an. Danach die ganze Holz.”
“Wo tue ich denn die Sachen aus dem Regal und so rein?”
“Wartest du kurz, isch bringe gleich Säcke.”
Sie wuchteten das Sofa durch die Türe und dann das Treppenhaus hinunter. Als sie wieder oben waren, reichte mir Meda eine Rolle schwarze Müllsäcke.
“Und wie trennen wir?”, fragte ich. Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. “Nischt trennen!”
“Alles in dieselben Säcke? Glas, Metall, Lebensmittel?”
“Ja. Nur Chemikalien kommen extra. Fängst du bitte mit Schlafzimmer an?”
Ich riss einen Sack ab und begann mit der Arbeit. Aus dem Kleiderschrank schlug mir der leicht modrige Geruch eines Second-Hand-Ladens entgegen. Ich nahm so viele Blusen und Jacken von der Kleiderstange, wie ich greifen konnte, faltete sie über meinem Arm zusammen und stopfte sie mitsamt der Bügel in den Sack. Es waren schlichte, aber hochwertige Stücke, wie ich sie von meiner Oma kannte. Ganz am Rand hing ein Pelzmantel. Ich hielt ihn eine Weile hoch, dann schlüpfte ich hinein und trat damit zu Meda und Doni ins Zimmer. “So, ich werde jetzt Zuhälter!”
Die beiden lachten und ich freute mich über den Treffer, den ich gelandet hatte.
“Kann man den nicht noch verkaufen?”
Meda warf kopfschüttelnd einen Blick aufs Innenfutter. “Motten! Siehst du hier?”
Er zeigte mir die Löcher.
“Und da kann man nichts machen? Neu füttern oder so?”
“Lohnt ja nischt so was.”
Es tat mir ein wenig leid um den Mantel, der bestimmt einmal der ganze Stolz der Frau gewesen war. Andererseits trug man so etwas ja eh nicht mehr.
Nach dem Schrank nahm ich mir die Kommode vor. Es war im ersten Moment seltsam, die Unterwäsche einer fremden Frau in die Hand zu nehmen, aber ich schob das Gefühl zur Seite und in zwei Minuten war die Kommode leer. Ich stemmte die Hände in die Seiten und betrachtete die Möbel. Meda kam in den Raum.
“Wie sieht’s aus hier?”
“Säcke sind gepackt. Hast du einen Hammer?”
“Wofür?”
Ich nickte in Richtung des Schranks. “Brauchst du keine Hammer!”
Er öffnete die Türen und nahm das Ablagebrett und die Kleiderstange heraus.
“Hilfst du kurz?”
Wir rückten den Schrank einen Meter nach vorne, dann trat er mit Wucht ein paar Mal gegen die Rückwand, bis sie heraussprang und gegen die Wand hinter dem Schrank kippte. Anschließend lehnte er sich mit der Schulter gegen die Seitenwand des Schranks und er fiel krachend in sich zusammen. Er lachte. “Siehst du? Brauchst du keine Hammer!”
Ich freute mich, denn anscheinend war es meine Aufgabe, eine Wohnungseinrichtung kurz und klein zu schlagen wie ein besoffener Rockstar. Ich zog die Schubladen aus der Kommode und zerschmetterte sie auf dem Boden. Dann nahm ich das Brett, das im Schrank gelegen hatte, und drosch damit auf den Korpus ein, bis auch er nur noch ein Holzhaufen war. Ich hörte, dass sie auch im Wohnzimmer mit dem Zusammenschlagen begannen und ging hinüber, um mitzumachen.
“Jetzt alle Bretter einladen?”, fragte ich Meda, als es in dem Raum nichts mehr kleinzumachen gab.
“Ja, machen wir Kette, ist besser.”
Mir kam eine Idee.
“Warum schmeißen wir das Zeug nicht einfach aus dem Fenster? Dann müssen wir gar nicht Treppe laufen.”
Meda lachte. “Sollten wir ja eigentlich machen, nä?”
Er sagte etwas zu Doni und der lachte auch.
“Nee, ich mein’s ernst. Vor dem Haus ist doch genug Platz. Muss nur einer aufpassen, dass keiner kommt.”
Meda schaute wieder zu Doni, dann zu mir. Er runzelte die Stirn. “Is vielleicht ja gar nischt so eine schlechte Idee. Isch meine, was soll ja passieren? Hast du recht eigentlich.”
Er stellte das Brett, das er in der Hand hielt, ab und ging durch den Raum auf den Balkon, wo er sich über die Brüstung beugte.
“Is ja wirklisch nur die Einfahrt da unten.”
“Wir müssen nur im ersten Stock und im Erdgeschoß Bescheid sagen. Nicht, dass sich jemand rausbeugt und dann… ”
Ich schlug mir mit der flachen Hand auf den Kopf. Hell kichernd lachte Meda das erste Mal an diesem Tag richtig. “Das wär ja schlecht, nä?”
Er sagte etwas zu Doni und der zuckte mit den Schultern.
“Also gut versuchen wir’s. Aber warte, gehe isch kurz Bescheid sagen unten.”
Er verschwand.
“Besser!”, sagte ich und Doni nickte. “Ja, besser!”
Doni stellte sich vor das Haus, Meda kletterte in den Transporter, um dort das Holz so zu verteilen, wie er sich das vorstellte. Ich schmiss die ersten Bretter. Damit sie nicht von dem asphaltierten Boden wegsprangen, ließ ich sie mit der langen Seite aufschlagen. Sie trafen mit einem lauten Knall auf und ich befürchtete, dass gleich jemand gucken käme, was da los war. Ich trug die Matratze auf den Balkon. Zur Sicherheit schrie ich dieses Mal, “Achtung!”, denn während ich sie über die Brüstung schob, sah ich nicht hinunter. Jetzt hatten wir einen Dämpfer und es machte nicht mehr so einen Heidenlärm. Bei einem der letzten Bretter, es war eine der Rückwände von der Wohnzimmerwand, fiel mir ein Aufkleber auf. “7950,–” stand darauf, mit Bleistift geschrieben und stark verblichen. Das musste der Preis des Möbels gewesen sein. Fast achttausend Mark! Ich konnte es kaum glauben.
Als ich das ganze Holz nach unten befördert hatte, sah ich mich nach anderen Gegenständen um, die ich werfen konnte. Ich fand einen aufklappbaren Nähkasten aus Holz und mit Eisenfüßen. Beim Tragen wurde mir gewahr, wie schwer er war, und ich dachte, ich sollte ihn besser nicht im Ganzen herunterschmeißen. Aber die Lust am Zerstören war zu groß geworden. Ich hob ihn auf die Brüstung und suchte Blickkontakt zu Doni. Er nickte und mit einem sanften Stupser überließ ich den Kasten der Schwerkraft. Er traf die Matratze genau in der Mitte und zersprang. Doni beobachtete den Stunt mit ausdrucksloser Mine und sammelte dann mit einer Kippe im Mundwinkel die Bretter auf. Ich überlegte, ob ich auch den Röhrenfernseher schmeißen konnte, verwarf die Idee aber schnell wieder. Ich ging stattdessen ins Schlafzimmer und griff mir die Bettdecke und das Kopfkissen. Das Bettzeug war noch bezogen und ich wandte den Kopf ab, um nicht daran riechen zu müssen. Als ich den Packen fallen ließ, spannte sich die Decke auf und segelte ein Stück zur Seite, sodass sie im Gras neben der Einfahrt landete. Ein älterer Herr, der mit seinem angeleinten Hund vorbeispaziert kam, blieb stehen und betrachtet die Szenerie kopfschüttelnd. Plötzlich war es mir sehr unangenehm, dass wir die persönlichen Sachen einer Toten so achtlos vors Haus schmissen.
“Das war's. Mehr hab ich nicht”, rief ich Doni zu und kreuzte dabei mehrmals die Arme. Er gab mir einen Daumen hoch. Ich lief die Treppe herunter und sah in den Transporter, den die beiden immer “Bus” nannten. Meda stand gebückt darin und schichtete Bretter übereinander. Der Stapel reichte ihm schon bis ans Kinn.
“Noch paar Säcke, dann ist genug. Wird zu schwer sonst!”
“Also fahren wir gleich zur Kippe?”
“Ist ja besser, wenn isch mit Doni alleine fahre. Dann kannst du hier schon weitermachen.”
“Aso, ja, das ist wahrscheinlich sinnvoller.”
Kurz fühlte ich mich, als sei ich von der Belohnung ausgeschlossen worden.
Als sie weg waren, ließ ich es langsamer angehen. Mein T-Shirt war schweißgetränkt und als ich mich vor dem Spiegel im Flur umdrehte, sah ich, dass auch mein Hosenboden ganz dunkel war. Ich fragte mich, wie es mit Mittagessen aussähe; Meda hatte dazu nichts gesagt. Die beiden hatten auch keine Brote dabei und somit nichts gegessen, seit wir uns vor Stunden getroffen hatten. Doni hatte seine Kippen liegenlassen und ich steckte mir eine an. Rauchend schritt ich die Wohnung ab. Bis auf das Bettgestell, die beiden Kartons und einige fertig gepackte Säcke war das Schlafzimmer leer, im Wohnzimmer standen noch ein paar Kleinigkeiten. Die Küche hingegen war ein Schlachtfeld. Alle Schränke waren offen, auf dem Tisch und auf der Arbeitsplatte lag allerlei Krimskrams herum, auf dem Boden standen halbvolle Säcke und eine große, schwarze Wanne voller Scherben. Im Bad war außer der Waschmaschine kaum etwas drin, nur ein Medizinschrank aus Kunststoff über dem Waschbecken und ein einfacher Unterschrank aus Holz darunter. Ich machte den Medizinschrank auf. Marcumar, das kannte ich, beim Rest klingelte nichts. Ich drückte die Kippe im Waschbecken aus und ging in die Küche. Fast alle Utensilien waren noch in Ordnung. Ich ging sie durch und stellte zur Seite, was ich gebrauchen konnte: eine Glaskaffeekanne mit Plastikgriff und einen Porzellanfilter von Melitta, der genau auf die Öffnung passte, einen Kräuterhobel mit Holzgriffen, eine Glasschale mit reliefierten Salatblättern und ein Stövchen. In der Abstellkammer fand ich einen neuwertigen Aufnehmer samt Eimer und diverse Haushaltsreiniger, die entweder noch nicht angebrochen oder kaum verbraucht waren. Außerdem gab es darin allerlei Konserven, von denen ich mir ein paar herausnahm. Ich tat die Reiniger in den Putzeimer, die Küchensachen und die Konserven verstaute ich in einer Pappschachtel, nachdem ich sie in einen der Säcke geleert hatte. Dann stellte ich alles im Schlafzimmer neben die Heizung, damit es niemand wegwarf. Mein Magen knurrte jetzt förmlich. Ich ging zurück in die Küche und öffnete den Eisschrank, in dem zu meiner Freude zwei Packungen mit Minipizzen lagen. Sie waren schon abgelaufen, aber sahen noch tadellos aus, also räumte ich den Ofen aus und stellte den Regler auf 220. Ich war noch am Essen, als Meda und Doni zurückkamen. Sie lachten mich erst einmal aus, weil ich mir die Pizzen gemacht hatte, doch dann sagten sie, dass das eigentlich eine gute Idee gewesen wäre. Essen wäre ja zu schade zum Wegwerfen. Meda guckte selbst auch noch einmal in den Eisschrank, fand aber nichts Brauchbares mehr. Also gingen die beiden an einer Frittenbude was essen, ich machte mit dem Packen weiter.
Wie angekündigt brachte Meda Kaffee mit. Jetzt kam mein Moment. Ich öffnete einen der Küchenschränke und holte eine Schachtel heraus, die ich dort bereitgelegt hatte.
“Jemand Kekse?”
Die beiden lachten und griffen zu. Aber ich hatte noch ein Ass im Ärmel. Ich griff erneut in den Küchenschrank und holte eine Flasche Cognac heraus.
“Und ich hab noch was ganz Feines gefunden!”
“Ohhh!”
“Gibt sogar passende Gläser.”
Ich verteilte drei Schwenker. Da fiel mir etwas ein.
“Trinkt ihr überhaupt Alkohol?”
“Natürlisch, ist ja ganz normal bei uns”, sagte Meda.
“Dann ist ja gut.”
Ich goss ein.
“Auf die alte Frau, die hier gewohnt hat!”
Meda übersetzte und wir stießen an.
Nach der Pause trugen Meda und Doni als erstes Waschmaschine, Sideboard und Truhe nach unten, um sie ganz hinten in den Transporter zu stellen, wo Meda die Teile sorgfältig mit Decken umwickelte. Danach ging es mit dem restlichen Kram weiter. Es dauerte bestimmt zwei Stunden, bis wir die Küche und die Abstellkammer geleert hatten. Zwischenzeitlich kam eine Speditionsfirma das Bettgestell abholen. Ich warf jetzt nichts mehr von Balkon, obwohl wir uns damit viele Wege gespart hätten. Den beiden sagte ich, ohne die Matratze als Puffer wäre das doch zu laut.
Als die Wohnung soweit leer war, gingen wir in den Keller. Meda hatte Recht gehabt; er machte noch einmal mehr Arbeit, als Günther geschätzt hatte. In zwei morschen Holzregalen standen unzählige leere Einmachgläser und es dauerte ewig, sie alle in irgendwelchen Eimern und Wannen zu zertrümmern, damit sie weniger Raum einnahmen. Danach fand sich dauernd irgendwo noch etwas, das in den Transporter gebracht werden musste, der dieses Mal bis unters Dach gefüllt wurde. Zuletzt schoben wir den Kühlschrank und den Herd hinein, denn die “weiße Ware”, wie Meda es nannte, musste als erstes wieder ausgeladen werden. Ich freute mich schon, dass wir endlich fertig waren, aber in der Wohnung mussten noch alle Gardinenstangen, Lampen und Haken abgeschraubt werden, was eine weitere halbe Stunde verschlang. Dann war wirklich alles erledigt. Der Wagen war jetzt so voll, dass ich meine Sachen hinter die Tür drücken musste, während Meda sie schloss.
Ich ging noch ein letztes Mal durch die Wohnung und schaute, ob nicht doch noch etwas liegengeblieben war. Bis auf die beiden Umzugskartons von Herr Jammerzen war sie leer. Dort, wo Bilder gehangen und Möbel gestanden hatten, war die Tapete heller. Ansonsten erinnerte nichts mehr an die Person, die hier bis vor ein paar Wochen ihr Leben verbracht hatte. Innerhalb von einem Arbeitstag hatten wir Frau Jammerzen ausradiert. In ein paar Tagen würde die Wohnungsgesellschaft die Handwerker schicken, schätzte ich. Sie würden auch den übrigen Boden entfernen und die vergilbten Tapeten von den Wänden schaben wie Fleisch von einem Knochen. Sie würden die Fliesen von den Badezimmerwänden kloppen, das Waschbecken abschrauben und die Badewanne herausreißen. Dann würden sie neue Becken und Armaturen einsetzen, neue Böden verlegen und die frisch tapezierten Wände weiß streichen. Ein neutraler Raum würde entstehen, in dem sich über Jahre das nächste Menschenleben abzeichnen würde, bis auch seine Spuren irgendwann innerhalb von Stunden wieder weggewischt würden.
Vor der Auffahrt zur Kippe war eine Schlange. Zwei Typen mit dunklen Bartschatten saßen am Straßenrand auf Bierkisten. Sie trugen Wollmützen und bunte Skijacken wie aus den Achtzigern.
“Zigeuner”, sagte Meda spöttisch und Doni grinste. Einer der Männer deutete auf unsere Ladung und Meda nickte. Der Mann stand auf und kam an die Fahrertür.
“Hast du was, meine Freund?”
“Kühlschrank”, raunte Meda und der Mann winkte seinem Kompagnon. Meda machte sich nicht die Mühe auszusteigen. Ich hörte, wie die Tür zum Laderaum aufgemacht wurde. Es kratzte und schepperte kurz, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Die Männer stellten den Kühlschrank neben den Bierkisten ab und setzten sich wieder hin.
“Ist der doch noch was wert?”, fragte ich.
“Die bauen ja nur den Motor aus.”
“Verstehe”, sagte ich, obwohl mir nicht klar war, wozu sie den Motor brauchten.
Oben bei der Einfahrt mussten wir halten, bis uns jemand einen Platz zuwies. Sie hatten dort alten Plunder aufgestellt wie ein Skelett mit blonder Perücke, das ein Schild hielt: “Im nächsten Leben mach’ ich was ohne Idioten!” Ein Arbeiter in einem orangefarbenen Overall kam mit breitem Gang zum Auto geschlendert. Er hatte einen Pferdeschwanz und trug eine fluoreszierende Sportsonnenbrille. Um seinen Hals hing eine dicke Silberkette, auf dem Unterarm entdeckte ich ein grob gestochenes Tattoo. Meda kurbelte das Fenster runter und reichte ihm die Hand. Ich sah einen zusammengefalteten Zwanziger.
“Hallo, wie geht’s denn heute?”
Der Mann griff kurz zu und ging nicht auf die Floskel ein. “Was haste?”
“Eine Herd, ansonsten nur Sperrmüll.”
“Herd in den Container, Sperrmüll in die zwölf.”
Doni und ich hoben den Herd aus dem Wagen und brachten ihn in einen Schiffscontainer voller Elektrogeräte. Dann fuhr Meda zur Laderampe vor. Ich öffnete die Türen und stellte meine Sachen zur Seite. Meda setzte den Transporter bis zu einem Eisengeländer zurück, das genau auf der Kante montiert war. Doni und ich kletterten hoch und stellten uns mit einem Fuß auf das Geländer, mit dem anderen auf die Ladefläche. Wir warfen alles, was wir in die Finger bekamen, nach unten. Nach ein, zwei Minuten wurde die Arbeit mechanisch. Hatte ich in der Wohnung noch hier und da über die Gegenstände nachgedacht, so waren sie jetzt nur noch Müll, den es richtig zu fassen und zu werfen galt. Als wir die Teile nicht mehr mit einem Schritt erreichen konnten, kam Meda dazu und warf sie uns hin. Wir brauchten keine Viertelstunde, um den Transporter zu leeren. Nur das Sideboard, die Truhe und die Waschmaschine blieben drin.
Auf dem Rückweg von der Kippe zog ich Bilanz. Was war geblieben? Eine Brosche, eine Uhr, ein Bettgestell, eine Miele-Waschmaschine, ein Kühlschrankmotor, ein Sideboard, eine Truhe, ein paar Haushaltsgegenstände und die Kleinigkeiten, die Herr Jammerzen mitgenommen hat – ein Leben, neun Posten.