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Warum, Miss Marple? (C) by TP
Miss Marple in ihrem bordeauxfarbenen Einteiler fixierte mich eindringlich. Instinktiv ließ ich mich tiefer in die Polster der schwarzen Ledercouch sinken. Die Tatsache, dass sie mitten im Zentrum des Raumes stand, bescherte mir das Gefühl ungewollt im Mittelpunkt des Geschehens arrangiert worden zu sein. Und ich konnte nicht behaupten, dass mir das sonderlich gefiel. Mein Glück, dass ich es beherrschte keine Miene zu verziehen, obwohl mich ihr Röntgenblick durchaus beunruhigte.
Nach einer Weile konnte ich ihrem Blick nicht mehr standhalten - ich wandte mich ab. In der Art und Weise wie sie mich ansah, fühlte ich mich auf frischer Tat ertappt. Ich empfand ihre Blicke als einengend. Und weil ich mich immer, wenn dieses Gefühl irgendwer oder irgendwas in mir auslöste, demonstrativ anderen Dingen widmete, tat ich dies nun auch wieder.
Zum wiederholten Male in der vergangenen Stunde nahm ich das lichtdurchschienene Zimmer in Augenschein. Es war immer noch derselbe kahlwirkende Raum, der außer dem Schreibtisch, dessen Arbeitsplatte aus Glas gefertigt war und dem pompösen Bürosessel wenig zu bieten hatte. Abgesehen von der Ledercouch, auf der mich Miss Marple zu Beginn der Sitzung platziert hatte. Sie passte an sich durchaus gut ins Gesamtbild, war mittlerweile aber schon beachtlich durchgesessen. Die beiden verloren wirkenden Eichenholzstühle, die man lieblos vor den Schreibtisch postiert hatte, waren schon nicht mehr der Rede wert.
Ich seufzte.
Miss Marple, die sich indes den Bürostuhl herangezogen hatte und nicht länger vor mir auf dem Boden hockte, wurde prompt aufmerksam und kniff die schmalen Äugelein zusammen, während sie sich aufrecht hinsetzte und den Rücken durchstreckte.
„Möchtest du etwas loswerden, Kristin?"
Ich überlegte einen kurzen Augenblick fieberhaft, ob das tatsächlich mein Vorhaben war. Schließlich entschied ich mich dagegen und schüttelte stumm den Kopf. Ich wollte nicht reden. Worüber denn auch, wenn ich nicht mal annähernd wusste, was ich hier überhaupt wollte.
Meine Gedanken schweiften ab. Ich fand mich unverhofft in meinem Zimmer auf meinem Bett wieder, das mit einem hellgrünen mit Blumenmuster bestickten Bettbezug bezogen war. Mein Notebook vor mir platziert, lag ich ausgestreckt auf der weichen Matratze, trug meine Kopfhörer und summte munter meinen Lieblingssong. Ich nahm kaum wahr, wie meine Zimmertüre geöffnet wurde und sie Augenblicke später geräuschlos ins Schloss fiel. In dem Moment aber, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, drehte ich mich um…
Ich zitterte. Meine Glieder fühlten sich steif an. Alles in mir verkrampfte sich. Das Letzte, an was ich zurückdachte, war die Hand, die sich auf meinen Mund presste. Dann landete ich wieder zurück in der Gegenwart. Ich zwang mich die Erinnerung aus meinem Kopf zu verbannen. Zu meinem Kummer spürte ich die besorgten Blicke auf mir ruhen, die mir mein Gegenüber zuwarf. Ob mich mein bebender Körper verriet?
Hilflos suchte ich Halt an der Sofalehne, und fand keinen. Weswegen war ich hier? Ich hatte doch niemandem etwas erzählt. Ich wollte nicht, dass irgendwer wegen mir in Schwierigkeiten geriet. Schließlich war doch die ganze Misere meine Schuld. Mir ging allmählich die Geduld aus. Ich wollte hier raus, hatte Sterbensangst mich womöglich zu verraten. Was dann?
„Kristin", richtete Miss Marple das Wort an mich und bemühte sich um den Tonfall einer fürsorglichen Mutter. Ich bekam nur schwer Luft.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich möchte dir nur helfen."
Mein Puls raste. Sie konnte mir nicht helfen. Niemand konnte das. Warum auch? Ich hatte kein Problem, bei dem man mir unter die Arme greifen musste. Es war alles bestens.
„Ich brauche keine Hilfe. Von niemandem."
Mit einem Mal war ich aufgesprungen. Ich konnte mich kaum aufrecht halten, weil meine Knie zitterten wie Espenlaub. Das bemerkte auch Miss Marple und drückte mich sanft aber bestimmend zurück auf die Couch, während sie sich wieder auf ihren Sessel niederließ. Die stickige Luft in dem Raum schnürte mir die Kehle zu.
„Könnten Sie vielleicht eines der Fenster öffnen?"
Ich wandte mich ihr widerwillig zu und fügte ein „Bitte" an meine Frage, dem ich zusätzlich Nachdruck verlieh, indem ich sie beinahe flehentlich ansah. Sie nickte daraufhin leicht und schenkte mir ein verständnisvolles Lächeln, ehe sie aufstand, um meiner Bitte nachzugehen. Währenddessen zog ich in Erwägung die Gunst des Moments zu nutzen und zu verschwinden. Der Gedanke war verlockend, aber ich blieb, wo ich war. Ich ließ die Tatsache nicht außer Acht, dass sich ihre Annahme, ich hätte ein Problem, aber Angst darüber zu reden, dadurch bestätigen würde, wenn ich die Flucht ergriff. Das wollte ich unter allen Umständen vermeiden, denn ich hatte kein Problem.
Sobald das Fenster offenstand und ein sanfter Windzug durch den Raum ging, nahm ich einen tiefen Atemzug und sog frische Luft in meine ausgetrocknete Kehle. Es war eine Wohltat und ich merkte unaufhörlich, wie ich mich entspannte. Ich fühlte mich der Situation wieder gewachsen. Mir ging es bestens.
Miss Marple ließ sich wieder vor mir auf ihren Bürosessel sinken. Sie legte den Kopf leicht schief und sah, während sie mich eingehend betrachtete, aus, als suche sie nach einem Anhaltspunkt, wo sie ansetzen sollte, damit ich mich ihr endlich öffnete. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, weil ich nicht vorhatte, ihr diesen Gefallen zu tun. Ich hoffte, sie würde alsbald einsehen, dass mit mir alles in Ordnung war und ich weder ein Problem hatte, noch ihre Hilfe benötigte. Doch genauso wenig, wie ich nachgab, ließ sie das Ganze auf sich beruhen. Ich sollte zu spüren bekommen, dass es sich auszahlt hartnäckig zu sein, und dass mir das nicht gefiel, verstand sich wohl von selbst.
Sie richtete sich jäh auf und trat mit energischen Schritten auf mich zu. Ich blinzelte und hielt den Atem an. Mir passte die Ungewissheit nicht, mit der ich mich augenblicklich konfrontiert sah. Ich wusste weder wie ich reagieren sollte, noch was mir blühte. Mir wurde leicht schwindelig, als sie mir ihre Hand hinhielt und ich sie ohne zu Zögern ergriff. Ihr Lächeln ließ meines zu Eis gefrieren. Ich fühlte mich ohnmächtig. Warum ich widerstandslos einwilligte ihr zu folgen, lag über meiner Vorstellungskraft.
Als sie mich zu dem Spiegel im Nebenzimmer führte, schaute ich sie fragend an. Ich verstand nicht, was sie von mir wollte. Als sie einen Schritt zur Seite trat, hatte ich freie Sicht auf mein Spiegelbild und da wurde mir schlagartig bewusst, wo drauf sie hinaus wollte. Ich sah die blauen Flecken auf meinem Hals zum ersten Mal. Das Veilchen, das sich über mein rechtes Auge zog, war mir heute Morgen im Badezimmerspiegel harmloser erschienen, hingegen dem Monstrum, das mich jetzt anlachte. Ich erschrak vor meinem Anblick. Was war mit mir geschehen? Die Frage bohrte sich in meinen Kopf.
Ich ließ die Erinnerung zu, die ich verzweifelt versuchte zu verdrängen. Unbewusst ballte ich die Hände zu Fäusten, als ich mich in Gedanken wieder in meinem Zimmer befand. Die Hand hatte sich zwischenzeitlich von meinem Mund gelöst. Ich fühlte die erneute Angst in mir aufsteigen, die ich in dem Moment empfand. Meine Hände wurden grob in die Matratze gepresst, während ich unter dem Gewicht von Muskelmasse kaum noch Luft bekam. Ich sah meinem Peiniger nicht ins Gesicht, weil ich nicht wissen wollte, wer mir das antat mich an mein eigenes Bett zu fesseln. Doch es war nicht schwer zu erraten, wer es nur sein könnte. Ich schämte mich in dem Augenblick in Grund und Boden, als ich mir widerstandslos die Kleider vom Leiben reißen ließ und unbeteiligt die Augen schloss, als mein eigener Vater etwas tat, wozu ein Vater normalerweise selbst im schlimmsten Albtraum nicht in der Lage gewesen wäre.
Von irgendwoher drang eine Stimme zu mir durch. Ich sah auf und blickte in das Gesicht von Miss Marple, die sie in Wahrheit gar nicht war. Sie war weder eine Detektivin noch eine Komissarin, die in einem Mordfall ermittelte. Sie war meine Psychologin und ich wusste genau, was ich hier suchte. Das war nicht meine erste Sitzung und mit mir war überhaupt nichts in Ordnung. Ich litt unter einem Trauma oder etwas in der Art, während mein Vater im Knast saß und hoffentlich darüber brütete, was er seiner Tochter angetan hat.
Ich wandte mich wieder meinem Spiegelbild zu. Die dutzend blauen Flecken stachen mir wie neongelbe Reflektoren in die Augen. Ich fühlte mich schuldig. Aber das war kein Problem mit dem ich nicht zurechtkam. Ich brauchte mich bloß für meine Fehler zu bestrafen, dann war alles gut. Miss Marple, meine Psychologin sah mich mitfühlend an.
„Es wird alles gut, Kristin.", versprach sie mir mit fester Stimme.
Ich wusste es besser: Irrtum.