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Warum läuft Herr X Amok?
Von einem Meeting zum nächsten. Für Frühstück bleibt kaum Zeit.
Hastig verschlinge ich ein belegtes Brötchen aus der Kantine. In fünf Minuten kommen die Koreaner. Mögliche Neukunden.
In meinem Magen rumort es schon, seit ich heute Morgen aufgestanden bin. Stress und Nervosität vermischen sich zu einem übelriechenden Gas, das entschlossen ist, aus meinem Körper auszubrechen. Notfalls auch mit Gewalt.
Vorbeiziehende Schemen von Kollegen. Wie Schattenbilder, die nicht wirklich existieren. Es sind nur Geister, die der nächsthöheren Gehaltsstufe hinterherspuken; genau wie ich. Mein Herz schlägt schnell. Habe ich alle Vorbereitungen getroffen? Ist die Präsentation vollständig?
Verdammt viel los hier drin, und das schon zu so früher Stunde.
Ich muss auf die Toilette. Keine Zeit. Wie ein dämonisches Feuerwerk explodiert das unverdaute Brötchen in meinem Inneren.
Draußen halten ein paar BMWs. Ich sehe sie durch die Glastüren hindurch. Die Koreaner. Mein Magen.
Hochgewachsene, hagere Managertypen, die sich dem schnellen Vorlauf des uns abspielenden Videorekorders anpassen. Zurückspulen ist nicht drin, das Band rast mit irrwitziger Geschwindigkeit voran und an seinem Ende steht der Tod durch Herzversagen. Vielleicht steigt Gott bald auf DVD um und die Menschen brauchen nicht länger herumzueilen. Sie springen einfach von einem Kapitel zum anderen. Solange, bis der Abspann die Namen der drittklassigen Darsteller zeigt.
"Good morning. I hope you had a nice trip. My name is Sebastian Lührer."
Kurze Verbeugung. Händeschütteln. Freundlichstes Lächeln aufgesetzt.
Ich schwitze selbst am Rücken. Das sind die schlimmsten Blähungen, die ich jemals hatte. Es geht nicht länger. No way!
"Would you be so kind and excuse me for a moment? Please take a seat, I´ll be back in a second."
Meine Gedanken schicken ein ganzes Heer Stoßgebete gen Himmel. Hoffentlich ist niemand sonst auf der Toilette. Ich kann einfach nicht, wenn außer mir noch jemand im Raum ist.
Er ist leer. Wenigstens diesesmal scheine ich Glück zu haben. Ich lasse die Kabinentür zuschlagen und schaffe es mit Mühe und Not so gerade eben noch, die Hose runter-, sowie den Deckel hochzubekommen.
Plötzlich spielt Zeit keine Rolle mehr. Es mag dämlich klingen, aber die Brille einer Kloschüssel ist der letzte Ort, an (auf?) dem man noch für sich sein kann. Kaum zu glauben, wieviel da runterfällt. Begleitet von abstoßenden Fanfaren seile ich keinen einzelnen Neger, sondern halb Afrika ab. Direkt in die Kanalisation der dritten Welt zurück.
Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Ein Grinsen, das abrupt wieder verschwindet, als die Tür quietscht und Schritte erklingen.
Noch einer, der eine Auszeit benötigt, denke ich, während ich entnervt feststelle, dass der Verursacher der Schritte die Kabine neben mir in Anspruch nimmt. Mein Hoffen, er würde vor einem der Pinkelbecken innehalten, ist enttäuscht worden. Wie ich so oft enttäuscht werde.
Ich warte ab. An Abwischen ist nicht zu denken. Er verrichtet sein Geschäft höchst kultiviert. Nichtmals ein Furz entweicht ihm. Bei mir ist währenddessen alles verschmiert und eklig. Wenn ich jetzt aufstehe, ist er möglicherweise fast gleichzeitig mit mir fertig und wirft mir beim Hände waschen einen verstohlenen Blick zu. Dann weiss er, wer für den üblen Geruch hier drinnen zuständig ist. Die Firma ist mittelständig. Da wird eine Menge geklatscht. So etwas kann ich mir nicht leisten. Keine Lacher, kein hinter dem Rücken verborgenes Tuscheln.
Also vergehen die Sekunden, solange, bis sie zu Minuten werden. Dann höre ich es plötzlich. Ganz deutlich. Erst leise, schließlich lauter. Immer wieder der selbe Satz.
"Töten. Du wirst sie alle umbringen. Alle...alle! Da kommt keiner mehr lebend raus." - Ein Kichern unterbricht die düstere Wiederholungsschleife.
Mir wird ganz komisch. Heiss und kalt zugleich. Erneut läuft Schweiss meinen Rücken herab; viel intensiver noch als vorhin. Weiss der Kerl denn nicht, dass ich hier bin? Erst jetzt bemerke ich, dass ich im Eifer des Gefechtes vergessen habe, die Kabinentür zu verriegeln.
Großer Gott, der Kerl denkt, dass er allein ist!
Diese Stimme...sie kommt mir so bekannt vor, aber ich kann sie nicht einordnen.
Bloß leise sein, keine Geräusche machen.
Er fängt wieder von vorne an.
"Töten. Du wirst sie alle umbringen. Alle...alle! Da kommt keiner mehr lebend raus."
Soll ich etwas sagen, oder nicht? Nein, dass ist Unsinn. Möglicherweise gar die Unterschrift auf dem eigenen Todesurteil. Was sollte ich auch intelligentes von mir geben?
Hey Mann, wen willst du killen, mich vielleicht als erstes?
Bleib ganz cool und überstehe diesen Albtraum, sage ich mir.
Ehe ich weitere Überlegungen anstellen kann, betätigt mein Nachbar die Spülung und verlässt den Raum. Ohne sich die Hände zu waschen.
Die Gruppe der Koreaner hat sich in zwei Lager gespalten. Die eine Hälfte döst auf den Sesseln, die inmitten des Eingangsbreiches stehen und die andere Hälfte begutachtet die ausgestellten Messetafeln des Unternehmens.
Es ist zwischenzeitlich wieder leerer geworden. Keine Geister mehr, bis auf den, der sich gerade eben in meiner Seele festgebrannt hat. Ob ich jemanden darauf ansprechen soll? Die Toilette liegt in einer Ecke neben dem Treppenhaus. Von hier aus lässt sich nicht beobachten, wer ein- und ausgeht, also werden die beiden Frauen am Empfang auch nichts gesehen haben. Das ist irgendwie zu bizarr, um wahr zu sein und doch weiss ich, was ich gehört habe. Die Stimme kam mir so vertraut vor. Wenn ich bloß wüsste...
Den Rest des Tages erlebe ich wie im Traum. Die Koreaner schweben mal hier, mal dort hin. Nie sind sie mehr als Gespenster. Ich glaube, wir bekommen den Auftrag. Die Präsentation verlief tadellos.
Tadellos, obwohl meine Gedanken ununterbrochen bei der mysteriösen Stimme sind. Draußen geht die Sonne unter. Sie verschwindet inmitten des abschließenden Gesprächs und hinterlässt einen rot gefärbten, weiten Horizont.
Ich müsste nocheinmal pinkeln gehen. Selbstverständlich drücke ich das meinen Besuchern gegenüber höflicher aus.
Die Toilette ist wieder leer.
Während sich meine Blase entleert, versuche ich den Kerl von vorhin zu verstehen. Die ganze Woche war ein regelrechtes Fiasko. Er hat mit Sicherheit kurz durchgedreht. Nichts besonders tragisches. Ich würde am liebsten auch manchmal Amok laufen; das geht jedem so, der eine Position innehält, die solche Verantwortung mit sich bringt.
Weshalb sollte ich ihn deshalb anschwärzen, selbst, wenn ich seine Stimme im Nachhinein wiedererkenne?
Ich lasse seinen Satz Revue passieren.
Töten. Du wirst sie alle umbringen. Alle...alle! Da kommt keiner mehr lebend raus
Rauchig, arrogant und nervös...wie meine eigene Stimme, jetzt, wo ich sie wieder höre.
Habe ich gerade laut gedacht?