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Warum eigentlich nicht, Egon?

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31.08.2011
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Warum eigentlich nicht, Egon?

"Wenn alle Menschen ein glückliches Leben führen wollen, warum tun sie es dann nicht einfach?"

Meine 10-jährige Neffin schaut mich fragend und zugleich fordernd an. Der Himmel liegt in anonymen Weiß über der Stadt. Es ist nass. Wir besuchen den Weihnachtsmarkt. Und ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll. Eigentlich hat sie Recht: Es gibt keinen vernünftigen Grund, nicht das zu verwirklichen, wonach sich alle sehnen. Und dennoch erblicken wir so viele gebrochene und beleidigte Menschen, denen das Leben ihre Biographie mit furchtbaren Krallen ins Gesicht geritzt zu haben scheint.

"Das wirst du verstehen, wenn du älter bist, Marie."

Ich liebe Marie wie meine eigene Tochter, vielleicht deshalb, weil ich selbst keine Kinder haben kann. Meine Antwort ärgert sie und auch mich. Hatte ich denn etwas Wesentliches verstanden, als ich älter geworden war? Oder hatte ich nicht im Gegenteil verlernt, diese einfachen und darum subversiven Fragen zu stellen? Wie auch immer, Marie vergisst ihr Unverständnis schnell. Zwei große Büschel Zuckerwatte und sie strahlt wieder über beide Ohren.

Ich schlage ihr vor, mit ihr den Zoo zu besuchen, doch sie hat keine Lust, schon gar nicht bei dem miesen Wetter. Langsam lösen sich die Menschentrauben um uns auf, als wir den Marktplatz verlassen. Die Gesichtern verfinstern sich, je weiter wir uns vom rotnasigen Weihnachtstreiben entfernen, bilde ich mir zumindest ein. Wir stehen an der Bushaltestelle. Niemand redet miteinander, jeder steht für sich allein, obwohl sie sich unter dem Dach der Bushaltestelle zusammendrängen. Ich stehe im Regen, damit Marie und ihre Zuckerwatte nicht nass werden. Sie will, dass ich mich unterstelle, doch ich lehne ab. Last Christmas dröhnt vom Marktplatz her. Gereiztheit und Ungeduld, denn der Bus lässt auf sich warten. Einkaufstüten voller potentieller Geschenke rascheln und knistern durcheinander. Mit jeder Minute werden sie schwerer. Marie wird ungeduldig.

"Würdest du mich nach Hause tragen?", fragt sie.

Ich trage Marie auf meinen Schultern - sie ist ziemlich gewachsen -, während sie ihr rosa Regenschirmchen aufspannt, das den Regen allerdings nur äußerst grob selektiert. Doch ich bin froh, endlich Bewegung und Marie hat ihren Spaß.

"Mama nennt dich einen Philosophen. Ist das gut, wenn sie das sagt?"

Sicherlich nicht, denke ich, ein Philosoph ist jemand, der nur reden, aber nichts verändern kann, ein impotenter Mucker eben, zumindest in den Augen meiner Schwester. Sie ist eine selbstbewusste, für meinen Geschmack oft zu selbstbewusste Frau. Irgendetwas muss ich ihrer Meinungsmacht entgegensetzen. Marie soll nicht schon von Kindheit an mit schiefen Begriffen durch die Welt gehen, denke ich.

"Philosophen sind Menschen, die sich Fragen stellen, wie du sie vorhin gestellt hast: Wie kann es sein, dass etwas, das alle Menschen anstreben, wie zum Beispiel das Glück, nicht Wirklichkeit ist?"

"Und die stellen nur Fragen oder beantworten die auch 'mal Fragen?"

"Natürlich versuchen sie auch, diese Fragen zu beantworten. Zu ihren Stärken gehört diese Disziplin jedoch nicht."

Ich arbeite als Bibliothekar. In den Augen meiner Schwester bin ich damit ein Philosoph, ihr Etikett für all diejenigen, die unproduktive (andere würden sie als geistige bezeichnen ) Arbeit leisten. Von Philosophie verstehe ich im Grunde sehr wenig, doch sie hat mich zum Philosophen gemacht oder vielmehr gestempelt.

"Na ja, also mir zu sagen, dass ich noch warten soll, ist ja irgendwie eine blöde Antwort gewesen. Bist du also ein Philosoph, Egon?"

Lachen. Die Wolken verziehen sich, Marie betritt wieder sicheren Boden.

"Ich meine, Papa und Mama sagen mir immer, wie lieb sie mich haben. Und trotzdem sind sie manchmal so komisch. Das verstehe ich nicht. Was habe ich Mama getan, dass sie so streng ist? Ich meine, das könnte doch alles so schön sein, auch mit Papa. Aber der ist irgendwie nie für mich da."

"Das klingt jetzt vielleicht komisch, Marie, aber gerade weil deine Eltern dich lieben, können sie nicht immer für dich da sein. Sie müssen auch arbeiten, damit ihr weiter gut leben könnt, und hin und wieder brauchen sie auch 'mal Zeit für sich, um zu verschnaufen."

"Das verstehe ich schon. Nur warum sind sie so komisch? Du bist ganz anders, Egon. Am liebsten bin ich bei dir. Ist das normal, wenn das eine Nichte zu ihrem Onkel sagt?"

Nicht unbedingt. Und doch freue ich mich über diese Worte, die mir so wohl niemand sonst sagen würde, leider. Ach, am liebsten würde ich Marie zu mir nehmen. Ich wäre immer für sie da und würde sie zu einer wunderbaren jungen Frau erziehen. Und sagt sie nicht selbst, dass sie nicht verstehen könne, warum sich die Menschen gegenseitig das Leben zur Hölle machen? Sie hat Recht! Schluss mit diesen halben und damit ganz unbefriedigenden Antworten auf klar gestellte Fragen! Ich werde Marie zu mir nehmen!

Ach, Unsinn. Spätestens sobald die Bescherung anfängt, wird die Familie wieder zu sich kommen, wie jedes Jahr. Im ganzen Haus wird sich dieses weihnachtliche Wohlgefühl breitmachen, das mich vollständig zähmt und unfähig macht, an meinen Plan auch nur zu denken. Gegen Maries vor Freude glühenden Wangen bin ich wehrlos; gegen dergleichen lässt sich nichts sagen.

"Egon, worauf wartest du denn?"

"Ja, ich komme."

 

Hallo Rindersheim

Dein Erstling wirkt auf mich ein wenig wie der Versuch einer pädagogischen Deutung. Versuch deshalb, da mir die Aussagen zu den Eltern und der Gedanke des Prot. Marie zu sich zu nehmen, doch sehr illusorisch verträumt dünken.

Wie kann es sein, dass etwas, das alle Menschen anstreben, wie zum Beispiel das Glück, nicht Wirklichkeit ist?"

In dieser Formulierung ist dies für mein Verständnis keine philosophische Frage! Glück ist eine Gefühlsempfindung, welche sich sehr individuell ergibt. Glück kann darum nicht in Kontrast zu Wirklichkeit stehen. Die Fragestellung wäre darum korrekter: Wie kann es sein, dass etwas, das alle Menschen anstreben, wie zum Beispiel das Glück, nicht realisiert wird?

die unproduktive (andere würden sie als geistige bezeichnen ) Arbeit leisten.

Die Klammern finde ich in einem literarischen Text störend, besser dünkten mich Kommas.

Auch die Leerzeilen vor und nach direkter Rede geben dem Text ein verzerrendes Bild. Absätze sollten die Inhalte nur thematischen trennen. Also was zusammengehört, allenfalls nur durch eine einfache Zeilenschaltung abgrenzend. Eine neue Szene dann zusätzlich mit einer Leerzeile.

Vom Inhalt her eine etwas seichte Geschichte, doch habe ich sie, das kleine naseweise Mädchen mir vorstellend, ganz gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Danke für deine Hinweise, Anakreon.

Ein gewisse Seichtigkeit ist vielleicht gar nicht schlecht, zumindest in kleinen Dosen, als erfrischende Oberflächkeit in mitten einer Welt des Tief- und Tiefstsinns^^

Ob es sich hierbei um eine philosophische Frage handelt, weiß ich nicht, ganz im obigen Sinne.

Grüße

 

Hallo Rindersheim,

der Protagonist hätte Marie auch z.B. frei nach Rosa Luxemburg antworten können: »Weil das Glück des einen manchmal das Unglück des anderen ist.«

Okay, hat er nicht, wär wohl auch ne andere Geschichte, aber ab da wär der Dialog für mich bestimmt spannend geworden. Wohl hast du auch nicht darauf abgezielt, sondern auf die Romantisierung der Beziehung zwischen NeffinNichte und ihrem Onkel.

während sie ihr rosa Regenschirmchen aufspannt, das den Regen allerdings nur äußerst grob selektiert.
  • äußerst grob selektiert will vom Stil her nicht ganz passen, wie wäre es mit so etwas wie >> allerdings nicht sonderlich beeindruckt.

Egons Entführungs-/Adoptionsphantasien sind nicht sehr glaubwürdig, in Anbetracht dessen du ihn recht bodenständig gezeichnet hast. Das Kind leidet ja keine Not und außerdem hat er ihr ja versucht begreiflich zu machen, dass die Liebe von Eltern sich nicht notwendig nur darin zeigt, dass sie immer für es da sind oder einen lockeren Erziehungsstil pflegen.


Soweit,
-- floritiv

 

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