Warten auf den Zug
Ich bin ganz alleine auf dem Bahnhof. Niemand ist zu sehen, keiner ist zu hören; Leere. Nicht einmal ein Tier wagt einen Blick oder Ton.
Auf den Schienen reflektiert sich das schwache Licht der Laterne über mir. Die Kälte der eisernen Bank kriecht durch meine Kleidung. Der Wind bläst eisig. Bin ich der einzige, der mit dem Zug von hier wegfahren will? Ist denn sonst niemand hier?
Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke ganz zu. Hätte ich mir doch nur eine Mütze mitgenommen.
Weit entfernt fährt ein Auto vorbei. Zu weit weg, um es sehen zu können. Die Bäume die mir gegenüber stehen fuchteln wild mit ihren kahlen Ästen herum. Warum machen sie keine Geräusche?
Von links nähert sich ein Schleifen. Ich drehe mich um. Kommt da Wer?
Eine Zeitung, halb zerrissen, wird vom Wind vor sich her getrieben. Direkt vor meinen Füßen bleibt sie liegen. Die Seiten zugeschlagen. Eine weitere Böe kommt. Seite für Seite blättert sich die Zeitung vor mir auf. Dann wird sie weitergetragen.
Hinter mir höre ich ein Geräusch. Kommt da doch jemand? Ich drehe mich um. Das Bahnhofsgebäude verlassen. Die Fahrpläne kaum beleuchtet. Der Fahrscheinautomat blinkt; unbenutzt. Ein Mensch ist nicht zu sehen.
Die große Bahnhofsuhr zeigt kurz vor Mitternacht. Vom Zug noch nichts zu sehen.
Plötzlich ein metallenes Scheppern. Wo kam es her? Jetzt ein Rollen. Auf dem anderen Bahnsteig rollte eine leere Coladose. Sie fällt auf die Gleise hinab. Langsam wird mir mulmig. Wo bleibt bloß der Zug?
Ich taste meine Taschen nach der Fahrkarte ab, entdecke sie. Ich halte sie in das schwache Licht der Laterne und entziffere die Schrift. Aber ich kenne mein Ziel doch.
Ich schrecke hoch. Kläffen! Bellen! Ein Hund!
Der Wind flaut ab. Der Hund war wohl doch weiter weg. Das Bellen entfernt sich, dann erstirbt es. Ruhe! Der Wind kehrt zurück.
Irgendwo klappert ein Schild. Ich mache mir aber nicht die Mühe es ausfindig zu machen. Ich stehe auf und gehe bis an den Bahnsteig. Meine Schritte hallen einsam über das Pflaster. Kein Zug zu sehen. Wo mag der bloß stecken? Ich drehe mich um und betrachte das Bahnhofsgebäude. Gelb gestrichen. Und kein Licht brennt, außer vor dem Fahrscheinautomat. Und bei den Fahrplänen. War links nicht ein Fahrradstand? Zwei drei Schritte gehe ich näher heran. Dort stehen drei Fahrräder, aber wo sind ihre Besitzer? Vielleicht kommen sie ja mit dem Zug.
Ich setze mich wieder auf die Bank. Das Metallgitter ist unbequem. Meine Armbanduhr zeigt Mitternacht.
Plötzlich durchdringt ein seltsames, helles Rauschen die Luft. Sofort stehe ich wieder. Der Zug kommt, ich kann ihn sehen. Ich bücke mich und hebe meinen Rucksack auf. Er zieht meine Schultern hinunter. Ein letztes Mal drehe ich mich um. Noch immer ist kein Mensch zu sehen, nur der Fahrscheinautomat und die beleuchteten Fahrpläne. Mit laut quietschenden Bremsen fährt der Zug ein. Es steigt niemand aus. Und nur einer ein.