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Wartebereich

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23.06.2003
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Wartebereich

Der Zug sollte um 23:28 auf Gleis zwei einfahren. Jetzt war es Viertel vor elf, und Karl wurde immer betrunkener. Er hatte eine Flasche Wein gekauft, um sich die Zeit zu vertreiben. Außerdem brauchte er Mut für das, was kommen würde.
Doch die Zeit stockte. Karl beobachtete das genau: Auf der großen Bahnhofsuhr, die auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig hell erleuchtet prangte, schob sich der lange, dünne Zeiger Sekunde um Sekunde weiter, bis er, beinahe ganz oben angelangt, stockte. Dort schien er auf irgendetwas zu warten – Karl konnte sich nicht erklären, auf was – und schob sich dann mühsam bis zur Zwölf vor, um eine neue Runde zu beginnen.
Jedesmal verharrte der Zeiger einen Augenblick länger vor seinem Rundenziel, als würde er Karls wachsende Nervosität mit provozierender Langsamkeit verspotten. Die Zeit verhöhnt mich, dachte Karl und erhob sich von seiner Bank, um dem gnadenlosen Sekundenzeiger zu entfliehen.
Doch sie hat Recht, wenn sie mich verhöhnt. Einem ewig Wartenden wird die Zeit zum Feind, wenn das Erwartete über dem Warten vergessen wird. Karl nahm auf einer anderen Bank Platz und trank einen großen Schluck aus seiner Flasche. Er setzte eine gleichgültige Miene auf und beobachtete aus dem Augenwinkel heimlich die Uhr.
Ein entferntes Geräusch holte ihn aus seinen Gedanken. Am anderen Bahnsteig wackelte eine aufgetakelte, spargeldürre Blondine in ihren Stöckelschuhen haarscharf an der Kante zu den Gleisen entlang. Klack, klack – klock – klack, klock, klack. Sie war wohl ziemlich betrunken, so schloss Karl aus ihrem unsicheren Gang und ihren ziellosen Kopfbewegungen, die sie wie ein Huhn auf der Suche nach Nahrung aussehen ließen. Als sie auf der Höhe von Karl war, konnte er erkennen, dass sie geweint hatte. Dann verschwand sie in dem von hohen, stählernen Wänden ummauerten Wartebereich.
Ob sie auch weinen würde?, fragte sich Karl, den die Erscheinung der Blondine verunsichert hatte. Weinende Frauen lösten in Karl immer eine zärtlich tastende Traurigkeit aus, die die Welt weich und warm machte. Doch die Welt war nicht weich und warm, nicht jetzt, dachte Karl, die Welt muss kalt und hart sein. Die Welt muss ein kalter, stählerner Wartebereich auf einem Bahnhof sein.
Er ging die Sätze nochmal durch, die er sich zurechtgelegt hatte. Diese Sätze duldeten keine Antwort; die kleinste Erschütterung, die sein Vortrag erfahren würde, würde alles zerstören. Deshalb musste er in einem Rutsch sprechen, durfte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Er würde ihr keine Gelegenheit geben, seinen Entschluss anzuzweifeln. Er würde sich nicht noch einmal überreden lassen, alles zu überdenken und lieber noch einmal abzuwarten – er konnte nicht mehr warten. Die Zeit des Wartens war vorbei.
Dreiundzwanzig Uhr Sechzehn und vierundfünfzig Sekunden. Aus dem Wartebereich drang ein kurzes Schluchzen, dann verharrte der Sekundenzeiger wieder vor der Zwölf. Karl prostete der Uhr zu und trank die Flasche aus.
Eine Lautsprecherdurchsage verkündete, dass der Zug auf Gleis eins eine halbe Stunde später eintreffen würde. Karl sah, wie die Blondine den Bahnsteig zurückwackelte und in der Dunkelheit verschwand. Ihr ist das Warten wohl zu lang geworden, dachte Karl und warf einen bösen Blick zur Uhr. Der Sekundenzeiger näherte sich wieder der Zwölf. Dann blieb er stehen. Karl zählte: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Nichts geschah. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Der Zeiger zitterte ein bisschen, blieb aber an seinem Platz. Zögernd blickte Karl sich um. Aus der Dunkelheit am Bahnhofsende drang ein leises Schluchzen. Die Uhr zeigte Dreiundzwanzig Uhr fünfundzwanzig. Karl erhob sich und ging dem Schluchzen nach.
Drei Minuten später, um 23:28, fuhr der Zug im Bahnhof ein.

 
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Hallo Parabel,

wie die Blondine den Bahnsteig zurück wackelte und
zurückwackelte

ich fand deine Geschichte angenehm zu lesen.
Allerdings kriege ich das irgendwie nicht zusammen. Da ist einmal das Thema Warten; der Prot wartet trinkend auf eine Frau, ich schätze, er will mit ihr Schluss machen oder so. Der Zeiger der Uhr stockt.
Und dann ist da diese Blondine, die weint, und der er schließlich nachgeht.
Der Zug, auf den er wartet trifft pünktlich ein.
Hä? Hab ich nicht verstanden.

Oder ist das hier:

Einem ewig Wartenden wird die Zeit zum Feind, wenn das Erwartete über dem Warten vergessen wird.
der Schlüssel?

Viele Grüße,
Maeuser

 

Hallo Parabel

Angenehm fand ich, die kleine Episode aus dem Leben von Karl zu lesen. Um was es bei seiner Entscheidung ihm geht, bleibt Vage, der Fantasie des Lesers überlassen. Spürbar wird, dass sein Entscheid nicht unbeugsam gefestigt ist, sein Charakter Wankelmut zulässt, wenn am Entschluss gerüttelt wird. Der Wein wird zum Betäubungsmittel gegen die eigene Infragestellung, doch schon die Tränenspur einer ihm Unbekannten, durchbricht diesen imaginären Wall. Er lässt seinen Termin für die Umsetzung seiner Entscheidung fahren.

An sich, ein kleines psychologisches Spielchen, ohne Anspruch auf Tiefe. Doch sympathisch, eine menschliche Schwäche zeichnend, das Warten als zersetzenden Faktor einbeziehend.

Als Geschichte ist es ohne Nachhall, dafür ist sie zu kurz, die Ereignisse zu blass, dennoch eine kleine Unterhaltung für zwischendurch.

Gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Maeuser,

tatsächlich hatte ich die Absicht, das "Warten" zum zentralen Thema dieser Geschichte zu machen. Der Protagonist sitzt am Bahnhof und wartet auf den Zug, der ihn sozusagen in veränderte Lebensvoraussetzungen fahren soll, da er keine Kraft mehr hat,

alles zu überdenken und lieber noch einmal abzuwarten.
Karl befindet sich offenbar in einer schwierigen Beziehung, die er beenden will, um nicht mehr der ewig Wartende zu sein, und um endlich sein Leben in den Griff zu bekommen.
Doch hier wird er wieder in eine Situation geworfen, in der er warten muss, und das zermürbt ihn nach und nach. Es trennt sich die subjektiv empfundene Zeit von der objektiven Bahnhofsuhr-Zeit.
In dieser zermürbenden Situation tritt dann die Blondine auf, die vielleicht das Scheitern von Karls Beziehung widerspiegelt. Sie löst in ihm ein Gefühl aus, das er nicht zulassen will: Er wünscht sich lieber, dass die Welt
kalt und hart
ist; eine warme und weiche Welt würde seinem rationalen Plan, sich aus seiner Beziehung zu lösen, im Weg stehen.
Auf dem Höhepunkt der Zermürbung, der vom Stillstand der Zeit gekennzeichnet ist und somit ein unendliches Warten bedeuten würde, gibt der Protagonist seinen Plan auf und läuft der Blondine hinterher, um sich der warmen und weichen Welt hinzugeben, die ihn allerdings wieder zum ziellos Wartenden macht. Der Zug fährt kurz darauf pünktlich ein, was das Scheitern Karls noch unterstreichen sollte.

Ich weiß nicht, ob diese Interpretation jetzt plausibel ist. Mir fällt jedenfalls auf, dass ich in der Geschichte vielleicht etwas mehr auf die Beziehungskonstellation und Karls Empfindung der Handlungsunfähigkeit hätte eingehen können...?

Viele Grüße,
Parabel
:-)

 

Moin, Parabel.
War an und für sich schon flüssig zu lesen. Wenn Du es aber schaffst, das, was Du nun als Erklärung gepostet hast, dran zu hängen, bzw. einzubauen, ja dann wärs ne RICHTIG gute Kg.
In diesem Sinne, viel Spaß beim ändern...
Gruß Lord

 

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