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Wartebereich
Der Zug sollte um 23:28 auf Gleis zwei einfahren. Jetzt war es Viertel vor elf, und Karl wurde immer betrunkener. Er hatte eine Flasche Wein gekauft, um sich die Zeit zu vertreiben. Außerdem brauchte er Mut für das, was kommen würde.
Doch die Zeit stockte. Karl beobachtete das genau: Auf der großen Bahnhofsuhr, die auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig hell erleuchtet prangte, schob sich der lange, dünne Zeiger Sekunde um Sekunde weiter, bis er, beinahe ganz oben angelangt, stockte. Dort schien er auf irgendetwas zu warten – Karl konnte sich nicht erklären, auf was – und schob sich dann mühsam bis zur Zwölf vor, um eine neue Runde zu beginnen.
Jedesmal verharrte der Zeiger einen Augenblick länger vor seinem Rundenziel, als würde er Karls wachsende Nervosität mit provozierender Langsamkeit verspotten. Die Zeit verhöhnt mich, dachte Karl und erhob sich von seiner Bank, um dem gnadenlosen Sekundenzeiger zu entfliehen.
Doch sie hat Recht, wenn sie mich verhöhnt. Einem ewig Wartenden wird die Zeit zum Feind, wenn das Erwartete über dem Warten vergessen wird. Karl nahm auf einer anderen Bank Platz und trank einen großen Schluck aus seiner Flasche. Er setzte eine gleichgültige Miene auf und beobachtete aus dem Augenwinkel heimlich die Uhr.
Ein entferntes Geräusch holte ihn aus seinen Gedanken. Am anderen Bahnsteig wackelte eine aufgetakelte, spargeldürre Blondine in ihren Stöckelschuhen haarscharf an der Kante zu den Gleisen entlang. Klack, klack – klock – klack, klock, klack. Sie war wohl ziemlich betrunken, so schloss Karl aus ihrem unsicheren Gang und ihren ziellosen Kopfbewegungen, die sie wie ein Huhn auf der Suche nach Nahrung aussehen ließen. Als sie auf der Höhe von Karl war, konnte er erkennen, dass sie geweint hatte. Dann verschwand sie in dem von hohen, stählernen Wänden ummauerten Wartebereich.
Ob sie auch weinen würde?, fragte sich Karl, den die Erscheinung der Blondine verunsichert hatte. Weinende Frauen lösten in Karl immer eine zärtlich tastende Traurigkeit aus, die die Welt weich und warm machte. Doch die Welt war nicht weich und warm, nicht jetzt, dachte Karl, die Welt muss kalt und hart sein. Die Welt muss ein kalter, stählerner Wartebereich auf einem Bahnhof sein.
Er ging die Sätze nochmal durch, die er sich zurechtgelegt hatte. Diese Sätze duldeten keine Antwort; die kleinste Erschütterung, die sein Vortrag erfahren würde, würde alles zerstören. Deshalb musste er in einem Rutsch sprechen, durfte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Er würde ihr keine Gelegenheit geben, seinen Entschluss anzuzweifeln. Er würde sich nicht noch einmal überreden lassen, alles zu überdenken und lieber noch einmal abzuwarten – er konnte nicht mehr warten. Die Zeit des Wartens war vorbei.
Dreiundzwanzig Uhr Sechzehn und vierundfünfzig Sekunden. Aus dem Wartebereich drang ein kurzes Schluchzen, dann verharrte der Sekundenzeiger wieder vor der Zwölf. Karl prostete der Uhr zu und trank die Flasche aus.
Eine Lautsprecherdurchsage verkündete, dass der Zug auf Gleis eins eine halbe Stunde später eintreffen würde. Karl sah, wie die Blondine den Bahnsteig zurückwackelte und in der Dunkelheit verschwand. Ihr ist das Warten wohl zu lang geworden, dachte Karl und warf einen bösen Blick zur Uhr. Der Sekundenzeiger näherte sich wieder der Zwölf. Dann blieb er stehen. Karl zählte: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Nichts geschah. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Der Zeiger zitterte ein bisschen, blieb aber an seinem Platz. Zögernd blickte Karl sich um. Aus der Dunkelheit am Bahnhofsende drang ein leises Schluchzen. Die Uhr zeigte Dreiundzwanzig Uhr fünfundzwanzig. Karl erhob sich und ging dem Schluchzen nach.
Drei Minuten später, um 23:28, fuhr der Zug im Bahnhof ein.