- Beitritt
- 02.01.2011
- Beiträge
- 969
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 31
Warm und nass
Samstag
Die Räder meines Fahrrads quietschten, als würden sie vor Schmerzen schreien – ich raste die Hauptstraße runter, fuhr mitten auf der Straße, mit einer irren Geschwindigkeit – Leuchtreklamen von Dönerbuden flogen an mir vorbei, rote Ampeln, Straßenlaternen. Ich traute mich nicht, zurückzublicken, das würde bloß Zeit kosten; Zeit, in der die Bullen mich einholen könnten.
Ich glaube, ich war bloß acht, neun Minuten dort auf der Hauptstraße unterwegs, aber es kam mir vor wie Stunden – irgendwann, als ich schon ziemlich nahe am Stadtrand und vor dem kleinen Waldstück war, fingen meine Beine das Krampfen an, ich bekam kaum mehr Luft.
Dann wurde die Straße plötzlich erdig und immer durchfressener von Baumwurzeln – ich taumelte, keuchte, verlor schließlich das Gleichgewicht und zack! lag ich irgendwo mitten in der Dunkelheit des Waldes.
Ich drehte mich zur Seite und schaute in die Richtung, aus der ich gekommen war: nichts. Kein Blaulicht. Keine Polizei.
Ein paar Minuten vergingen, in denen ich wie betäubt dalag, schnaufte und hoch auf die Decke aus Ästen und Blättern blickte; alles wackelte und winkte mir zu.
Als ich wieder zu mir kam, war mir kotzübel. Ich stand auf, holte eine der Flaschen aus Seppis alten Army-Rucksack heraus und nahme in paar scharfe Züge. Klar, es fühlte sich falsch an, zu trinken, aber das war mir egal; alles war mir egal. Nichts würde mehr so sein, wie es einmal war – da lastete etwas auf meinen Schultern, das mich erdrückte, wie ein Sack voller Steine oder sowas.
Ich nahm noch einen Schluck, aber es half nicht gegen dieses absolut beschissene Gefühl in mir drin.
Ich fragte mich, wie es so weit kommen konnte – ich hatte früher immer gedacht, dass man merkt, wenn man irgendwo falsch abbiegt, wenn ein großer Haufen Scheiße auf einen zurollt. Aber so war das nicht.
Ich dachte an Ben und an Seppi und an Jessi, und es brach mir das Herz. Irgendwie wusste ich, dass es mit uns nie wieder so werden wird, wie es noch Freitag gewesen war – die Welt kam mir plötzlich ziemlich groß vor, und ich war verdammt klein. Da begann ich zu heulen – einfach so, ich konnte nicht anders. Ich zog mein Handy aus meiner Hosentasche und starrte bestimmt fünf Minuten lang ihren Namen an: wie sie mir gestern in die Augen gesehen hatte, so tief wie noch niemand zuvor, alles hatte gekribbelt; ja, sie war wohl die einzige, mit der ich mich jetzt besser fühlen würde, die einzige, die mich von dieser Last befreien könnte. Es läutete.
Freitag
„Eins fünfzig“, sagte er, und ich stand da, kramte in meinem Geldbeutel herum und schob ihm Centstück für Centstück unter die Nase. Er war nervös, ich spürte es; er blinzelte immer wieder an mir vorbei, nach hinten, dort wo Ben und Seppi sich gerade herumdrückten.
„Hastes bald?“
„Ja, ja, gleich ...“
Shit, was machen die so lange, dachte ich; langsam wurde mir heiß, mein Herz hämmerte und brachte alles zum Beben. Der Tankwart war neu, den konnte ich nicht einschätzen – das machte die ganze Sache noch schweißtreibender. Ich hörte Ben und Seppi hinter mir tuscheln, und das war schlecht, verdammt schlecht, der Opa starrte sie nun direkt an, mit einem Blick, als wäre er ein scheiß Löwe, der gerade eine Gazelle gesichtet hat.
„Kann ich auch mit Karte zahlen?“, fragte ich.
„Mit Karte?“
Jetzt hörte ich, wie die Tür aufgerissen wurde und Schuhe nach draußen schlurften; der Alte folgte ihnen mit seinen Augen und kniff die Lippen zusammen.
„Nee, mit Karte erst ab zehn Euro.“
„Gut, dann halt so ...“
Ich zählte die restlichen Centstücke ab, nahm meine Kaugummis und ging raus. Die anderen waren schon vorgelaufen. Das war auch gut so, der Opa durfte nicht sehen, dass wir zusammengehörten.
„Ach du Scheiße!“, rief ich, als ich an der Brücke ankam und den kleinen Hügel zum Bach hinunterrannte. „Was zum Teufel habt ihr da so ewig gemacht?“
Ben und Seppi hatten beide eine Kippe im Mundwinkel hängen, lagen auf dem Gras und grinsten wie bescheuert.
„Voilà“, sagte Seppi, öffnete den Rucksack und zog eine Flasche heraus. „Zwei Bier und 'nen Whiskey. Das is' neuer Rekord!“
Mir fiel die Kinnlade herunter; ich nahm den Schnaps in die Hand, hob ihn hoch und betrachtete ihn, als sei er ein Pokal oder sowas.
„Fuck it“, sagte ich, „nicht schlecht. Der alte Sack hat's gemerkt, ich sag's euch, wie der geguckt hat ...“
Ich riss das Cellophan ab, drehte am Deckel und steckte meine Nase hinein.
„Riecht geil“, sagte ich und nickte dabei mit dem Kopf.
„Erst mal das Bier?“, fragte Ben, und wir waren alle einverstanden. Jetzt begann auch ich zu grinsen wie ein Bescheuerter.
„Franzi kommt nachher auch in den Park“, sagte Ben und blies Rauch aus seiner Nase, als sei er ein wütender Drache oder so. Er nippte an der Flasche und gab sie an Seppi weiter.
„Oh-oh, F-F-Alarm“, sagte ich und erst begannen Seppi und ich leise zu kichern, dann schrien wir vor Lachen, Tränen liefen über unsere Wangen: „F-F-Alaaarm!“
„Ha, ha“, sagte Ben mit genervtem Unterton, versuchte sich ein Grinsen aufzusetzen, schaffte es aber nicht. „Ganz schön witzig, ihr Penner.“
Ben schaute aus wie ein verpickelter Buddha und seine Ische war nicht weniger korpulent als er, wir nannten sie F-F, fette Franzi. Sie lief uns in der Schule andauernd über den Weg, und irgendwann haben wir angefangen, „F-F-Alarm!“ zu schreien, wenn wir sie sahen; haben uns immer richtig bepisst vor Lachen, auch Ben. Dann kam er auf einmal händchenhaltend mit ihr angeschlurft, ich und Seppi blickten uns an und meinten so: „Hääää, Alter, was geht'n jetzt ab?!“
Naja, seitdem hatte Buddha sein Zölibat gebrochen und spielte ständig Zungenkungfu mit seiner
F-F.
Seppi reichte mir das Bier rüber. Ich setzte an, nippte, und es schmeckte scheußlich; es war so bitter wie dieser scheiß Rucola, den mir meine Mutter ständig in den Salat unterjubelte, weil sie meinte, es sei gesund. Ich fand es behindert, jetzt an meine Mutter zu denken, also nahm ich noch einen Schluck und gab die Flasche an Ben weiter.
„Ich hab's mit ihr gemacht“, sagte der plötzlich.
„Wie?“, fragte Seppi, „was hast du gemacht?“
Das Gelächter von gerade eben war wie weggeweht.
„Naja, ihr wisst schon ...“ Ben gluckste, lutschte am Bier, blickte uns an und formte dann mit Daumen und Finger einen Kreis, durch den er seinen Zeigefinger schob. „Sex.“
„Was?“, sagte ich, und schluckte; ich sah zu Seppi, aber der konnte mir auch nicht helfen; er machte ein Gesicht, als ob er gerade die schlimmste Verstopfung seines Lebens hätte.
„Du hast die F-F gebumst?“, sagte Seppi mit großen Augen.
„Jo.“ Ben lachte, nuckelte an der Flasche und irgendwie konnte ich mir vorstellen, wie er aussehen musste, wenn er an F-Fs Fetttitten herumsabberte. Ich legte mich zurück ins Gras und merkte, dass ich Ben irgendwie bewunderte – ich meine, wir ließen echt keine Gelegenheit aus, uns gegenseitig Scheiße ins Gesicht zu werfen, und seitdem er mit seiner Seekuhkönigin durch die Gegend robbte, flog das Meiste in seine Richtung – aber er nahm sein Mädchen immer an die Hand, lief mit ihr herum und küsste sie. Wenn ihn dabei einer von uns schief anschaute, sagte er bloß sowas wie: „Is' irgendwas?“ oder: „gibt's 'n Problem?“
Ich atmete tief ein.
„Und wann habt ihr's gemacht?“, fragte ich.
„Vorgestern“, sagte Ben. „Da hatte sie Geburtstag. Durfte bei ihr pennen.“
Ich fühlte mich scheiße; ich hatte noch nicht mal eine geküsst und dieser fette Buddha stocherte schon mit seinem Pimmel in den Girls herum.
„Und ... und wie isses so?“, fragte Seppi nach einiger Zeit.
„Mhm“, sagte Ben, und wir starrten alle vor uns hin, auf den Bach, der dahinplätscherte und eine Fantadose davontrug. „Warm.“
„Warm?“
„Ja. Warm und nass.“
Die Dose verschwand hinter einem Busch und ich sah Ben an. „Warm und nass?“
Er nickte und grinste so beschissen wie er es immer tat, seine Augen wurden zu glänzenden Schlitzen: „Warm und nass.“
Wir würgten noch einen Schluck Rucolasaft hinunter und gingen dann in den Park, der gleich hinter der Brücke lag.
Die Sonne hing hoch oben am Himmel und schüttete ihre gelbe Magie über alles; über die Wiese, den Spielplatz, das Klettergerüst, über uns. Wir kicherten doof herum, während wir über die Kieselsteine zu der Bank schlenderten, an der wir ständig abhingen. Ben und Seppi schrien und lachten, als sie versuchten, sich gegenseitig vom Weg zu schubsen. Ich zündete mir eine Zigarette an; irgendwie war ich verdammt gut drauf.
Schon von weitem sah ich sie auf dem Klettergerüst liegen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt; das tat sie immer so, wenn sie da oben war. Mit jedem Schritt erkannte ich mehr von ihrem dürren Körper und den halblangen dunklen Haare, die sie zum Zopf gebunden trug. Jessi war Seppis Halbschwester und die anderen fanden sie scheiße, die meinten, sie sei total gaga-plemm-plemm drauf, weil sie ständig alleine auf dem Klettergerüst rumhing; wenn sie da oben nicht irgendwas auf ihrem Handy zockte oder Kippen in Kette paffte, starrte sie einfach nur in den Himmel; aber nicht melancholisch oder so, sondern einfach, weil es genau das war, worauf sie gerade Bock zu haben schien. Sie hatte immer ein Päckchen Zigaretten bei sich, die gab ihr ihr Stiefvater mit; Seppi war ziemlich neidisch darauf, glaube ich. Wenn er von seinem Alten redete, sagte er immer bloß: „Mein Alter, nee nee“, schüttelte den Kopf, blickte auf den Boden und nuschelte dann noch mal sowas wie: „Weiß auch nicht, ey.“
Aber auf gratis Kippen wollten wir auf keinen Fall verzichten, und so hing Jessi manchmal mit uns ab, Seppi kümmerte das irgendwie nicht.
Wir kamen an der Bank an und setzten uns. Allzu groß war der Park nicht, man hatte von hier aus alles gut im Blick. Das war wichtig, weil wir irgendwie ziemlich paranoid waren und überall Zivilpolizisten oder unsere Eltern vermuteten, die uns erwischen könnten; das machte uns verdammt große Sorgen. Wir waren fast alleine im Park, also riss Seppi seinen Rucksack auf und wir ließen die Flasche hin- und herwandern; es war schlimmer als Bier, es schmeckte nach Kloreiniger und brannte mir bis in den Magen. Aber wir nahmen es hin, weil wir wussten, wenn wir das Zeug erst mal drin hatten, würden wir auf Watte laufen. Ich nahm noch einen Hit, war nicht zu bremsen. Wir fühlten uns großartig; da hing etwas in der Luft, als ob alles möglich wäre.
Ich trippelte währenddessen herum, und musste immer wieder zum Klettergerüst schielen; ich erwischte mich ständig dabei, dass ich an sie dachte; an ihren verträumten Blick und an das Grinsen, das sich bei jeder Gelegenheit in ihrem Gesicht ausbreitete; an die Art, wie sie in den Himmel schaute und wie weich sich ihre Haut anfühlte, wenn wir uns manchmal zufällig berührten. Ich dachte irgendwie echt oft an sie, sogar am Abend zuvor, als ich mir ein bisschen in der Hose herumspielte, und es hatte sich gar nicht schlecht angefühlt. Ich schloss die Augen und sah, wie die beiden vor mir stehen würden: Seppi würde sein blasses Rattengesicht verziehen, sich seine Fettsträhnen hinter die Ohren streifen, zu Ben blinzeln und dann schreien: „Waaas, die? Der kleine Freak?! Ha ha ha!“
Die Vorstellung machte mir schwitzige Hände. Ich schaute wieder zum Gerüst und sah, wie Jessi sich zu uns umdrehte, lächelte und winkte. Ich hob reflexartig den Arm und beobachtete, wie sie in den Sand sprang und zu uns herüberschlenderte.
„Ach herrje“, sagte Ben, „der kleine Freak is' ja auch da.“
„Wenigstens gratis Kippen“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.
„Hi“, sagte sie und grinste.
„Hi“, sagten wir im Chor.
„Was steht an, Jungs?“
„Unsere Kippen sind fast alle“, sagte ich, und als ich mich das sagen hörte, fand ich meine Antwort irgendwie ziemlich bescheuert.
„Mhm. Sowas ist scheiße“, sagte sie, schob die Unterlippe nach vorne und nickte mich an.
„Wir feiern heute 'ne Party, Schwesterchen“, sagte Seppi und machte den Reißverschluss seines Rucksacks auf. Jessi lugte hinein.
„Eins-A Stoff“, sagte Seppi, spuckte auf den Boden und streifte sich durch die Haare. „Willste auch?“
„Mhm, nee“, sagte sie und quetschte sich neben mich auf die Bank. Wir saßen da und ich hätte gerne etwas gesagt, sie was gefragt, aber mir fiel einfach nichts ein; ich hatte keine Ahnung, über was man mit einem Mädchen sprechen könnte, über was ich mit Jessi sprechen könnte. Ich verteilte meine letzten Kippen und wir pafften und spuckten vor uns hin. Auch Jessi züchtete ihre eigene Pfütze, und das gefiel mir irgendwie. Ich dachte kurz darüber nach, ob ich ihr erzählen sollte, dass Ben jetzt fickt, fand das dann aber doch eine scheiß Idee.
F-F watschelte von der anderen Seite des Parks wie ein aufgeblasener Pinguin zu uns herüber, mit diesem dümmlichen Lächeln im Gesicht; und hinter dem halben Liter Schminke verbarg sich auch nicht mehr: Dieses Lächeln war alles, was sie zu bieten hatte. Sie stand immer neben Ben herum, sagte kein Wort, und wenn man ihr in die Augen sah, kam es einem so vor, als würde man in zwei leere Becher blicken. Ich beobachtete F-Fs Gang und versuchte mir vorzustellen, wie Jessi wohl nackt aussehen würde; ich fragte mich, ob ihre kleinen Titten dann noch kleiner wären, so ganz ohne T-Shirt und BH außenrum; und was würde eigentlich passieren, wenn ich Jessi jetzt sofort, ohne Vorwarnung, meinen Finger in ihre Fotze stecken würde, fragte ich mich; ist das dann auch warm und nass oder braucht das da unten eine Aufwärmphase, so wie ein Zigarettenanzünder im Auto? Die Welt war voller Geheimnisse, Mysterien, Brüste und Ärsche und Muschis, von denen ich zwar keine Ahnung hatte, die mir aber dafür das Blut zum Denken aus dem Schädel zogen und engsitzende Hosen zu einem fürchterlichen Folterinstrument machten. Ich schielte etwas nach links und versuchte meine Titten-Theorie durch einen kleinen Spitzer in Jessis Ausschnitt zu überprüfen; sie drehte sich zu mir um und lächelte. Ich schreckte auf und riss meinen Blick wieder hoch, in ihr Gesicht.
„Was feiert ihr denn heute Schönes?“, fragte Jessi, und die Sonne, die in ihren dunklen Augen glitzerte, lenkte mich ab, verknotete mein Hirn.
„Och ... äh ...“, sagte ich. „Nix. Sommerferien halt.“
Ich begann stark zu schwitzen, kratzte mich am Hals und versuchte woanders hinzublicken. Ich sah auf die Wiese, wo sich Ben und F-F umschlangen und Körperflüssigkeiten austauschten. Das machte die Sache nicht besser. Die Beule in meinem Schritt schwoll zu einer ungesunden Größe an und drückte gegen die Hose wie ein Küken gegen die Eierschale.
„Los, den kriegen wir!“, schrie Seppi, grinste, zog eine Erbsenpistole aus seinem Rucksack, rannte los und beschoss den gigantischen Arsch vom knutschenden Buddha.
„Angriff! Nimm dir auch 'ne Knarre!“, schrie mir Seppi zu. Ich rutschte hin und her, sah auf den pulsierenden Kopf meiner Hosenschlange, den man schon im Sitzen viel zu offensichtlich erkannte.
„Passt schon, Mann! Ich chill' hier!“
Seppi blickte mich an, blinzelte rüber zu Jessi, verdrehte die Augen und wurde dann von Ben über die Wiese gejagt. Ich schaute den beiden bei ihrem Kampf zu, zog ein paar gute Schleimklumpen hoch und fütterte meinen Spuckesee mit frischer Rotze.
„Magst du mich nicht mehr oder so?“, fragte Jessi plötzlich.
Ich drehte mich zu ihr um und war irgendwie total schockiert.
„Hä, wie kommste jetzt da drauf?“
„Weiß nicht. Du redest heute gar nix mit mir.“
„Sorry, wir haben schon was getrunken, das macht mich immer 'n bisschen kirre in der Rübe.“ Ich blinzelte ihr zu und grinste blöd dabei, weil ich mir vorstellte, dass das cool aussehen würde. Jessi lachte.
„Du bist irgendwie anders als Ben oder mein Bruder“, sagte sie.
„Klar“, sagte ich, „sonst wären wir ja Drillinge.“
Jetzt grinste ich noch blöder; ich fand mich ziemlich witzig. Jessi lachte wieder, mit so einem dreckigen Unterton: „Ha ha ha ha ha! Schau“, sagte sie, „die anderen beiden sind nicht so lustig wie du.“
Ich fühlte mich gut, ich konnte Jessi neben mir riechen; ihre Haut roch nach Deo und Sonnencreme, ihr Atem wie ein Pfefferminzkaugummi in einem Aschenbecher. Ben kriegte Seppi nicht, dafür hatte er zu viel zu schleppen; aber er gab nicht auf, er rannte mit rotem Kopf über den Rasen und schrie Seppi allerhand zu, was er mit ihm machen würde, wenn er ihn fangen würde. Seppi lachte und ballerte weiter auf Angry-Buddha.
„Warum hängst du eigentlich immer ganz alleine rum?“, fragte ich Jessi schließlich. Sie sah mich einige Sekunden lang an; dann schaute sie auf den Boden und zuckte mit den Schultern. „Ich kann die anderen Mädchen halt nicht so leiden.“
Ich musterte sie und irgendwie tat sie mir auf einmal leid, sie strahlte da so eine Traurigkeit aus, die ich bei ihr noch nie gesehen hatte.
„Die ganzen Weiber ... ich meine, die können mich mal. Echt. Immer nur bla bla bla, Schminke, Jungs, keine Ahnung, ey, und wenn ich was sage, sind die immer so ...“
Ihr Kinn begann zu zittern und ich fragte mich, auf was für einen Knopf ich da gerade gedrückt hatte.
„Hey, ist ja schon gut, ich meine –“
„Ja, ja, ist schon wieder gut.“ Jessi wischte sich über die Augen, kramte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Hosentasche und hielt mir eine hin. Ich griff zu und gab uns Feuer. Jessi nahm einen tiefen, hungrigen Zug.
„Weißt du“, sagte sie, lächelte schwach und sah mich mit gläsernem Blick an, „wenn's draußen dunkel ist, sieht eine Kippe irgendwie fast wie ein Glühwürmchen aus. Ist dir das schon mal aufgefallen?“
Sie hielt mir die Glut vors Gesicht und wackelte damit herum. „Stell dir vor, es wäre dunkel ... wie 'n Glühwürmchen. Voll lustig oder?“
„Ja“, sagte ich, ohne verstanden zu haben, was gerade passiert war. „Voll lustig.“
Die anderen kamen zur Bank zurück, Ben gab Seppi ein paar Fäuste auf die Schulter, und damit schien ihr Schmerzen-zugefügt-Konto wieder ausgeglichen zu sein.
„Ooh-oh, sind die nicht putzig, die zwei“, sagte Seppi, und lächelte hämisch, „die Turteltäubchen: unser Nico und die kleine Miss Freak!“
Ben gluckste und F-F lächelte mich an.
„Ach, halt die Fresse“, sagte ich, und spürte meine Hände nass werden; Jessis Blick sank nach unten.
„Ohje, wieso wird da denn jemand so schnell gereizt?“, sagte Seppi, mit diesem Teufelsgrinsen im Gesicht; plötzlich hatte ich überhaupt keinen Bock mehr, neben Jessi zu sitzen, ich wollte gar nicht mehr wissen, wie ihr Loch da unten funktioniert oder wie ihre Titten ausschauen.
„Halt's Maul, Alter“, sagte ich, „gib mal lieber 'nen Drink rüber.“
Wir checkten den Park nach potentiellen Zivilbullen ab und ließen dann die Flasche kreisen; auch Jessi nippte. Ich spürte, wie ich mich immer leichter, leerer, tauber fühlte; es gefiel mir. Eine aufgebrezelte Oma mit Dackel und zu viel Lippenstift kam den Weg entlanggeschlichen. Ihr Blick blieb an uns kleben, sie musterte uns ausgiebig. Ich nahm noch einen Hit, extra für sie, um ihr recht zu geben. Der Schluck tat kaum mehr weh, da war bloß noch ein Kratzen, das mir in die Nase stieg. Als die Oma an uns vorbeiging, schüttelte sie den Kopf und versuchte uns nicht anzusehen; aber ihr scheiß Köter kläffte uns an, fletschte richtig die Zähne; sie schaffte es kaum, ihn von uns wegzuzerren.
„Na Oma“, sagte ich überlaut, „auch 'n Schluck?“
Sie schleifte das Drecksviech an uns vorbei.
„Komm schon, oder soll ich Ihrer Hoheit erst mal den Stock aus'm Arsch zieh'n?!“
Jetzt bekam die Alte Panik, und wollte Tempo aufnehmen; das sah so aus, als ob sie mit Fußfesseln davontrippeln würde.
„Ha ha ha“, grölte Seppi; und auf einmal platzte es aus uns allen heraus, wir lachten bestimmt eine Stunde lang, kein Scheiß, wir schaukelten uns hoch, in Ekstase; irgendwann kugelte sich Seppi auf der Wiese, F-F stand herum, lachte so ganz piepsig: „Hi hi hi hi hi!“, und auch Jessi lachte mit, und es war schön, sie lachen zu sehen.
Kurz bevor die Sonne die grauen Plattenbauten küsste und die Älteren aus der Mukkiebude kamen, von denen man immer nur slawische Wortfetzen und das Klimpern von Flaschen hörte, lagen wir auf der Tischtennisplatte, starrten in den Himmel und alles fühlte sich gut und warm und richtig an.
„Ich geh' dann mal“, sagte Jessi, und mir fiel auf, dass wir verdammt lange stumm dagelegen waren. Ich sprang von der Platte und hatte so beschissen weiche Beine, dass ich mich festhalten musste, als ich murmelte: „Jo, ich muss dann auch mal ...“
„So so“, sagte Ben, und zwinkerte Seppi zu, „muss er wohl mit dem kleinen Freak verschwinden!“
„Fick dich“, sagte ich, „fick dich einfach.“
Ben schaute mich komisch an und plötzlich spürte ich mein Herz klopfen.
„Fick dich, nimm deine fette Hure und spiel Trampolin, du Spast!“
Jetzt stand Ben auf und stierte mich an. „Sag das noch mal!“
„Leck mich“, sagte ich. Hätte ich geahnt, dass das unser letzter echter gemeinsamer Abend gewesen war, hätte ich ihn wohl nicht so enden lassen; aber ich war blind und sah das Gewitter nicht kommen, obwohl es bereits nieselte. Ich nahm Jessi und zog sie mit. Wir gingen aus dem Park, liefen über die Brücke und sagten kein Wort. Erst als wir auf der Hauptstraße waren, merkte ich, dass ich noch immer ihre Hand hielt. Ich hatte das gar nicht realisiert; ich torkelte und hatte genug mit mir selbst zu tun. Ich ließ sie los.
„Sorry, wollte dich nicht zerren oder so ...“
„Schon gut“, sagte sie.
„Wirklich, wollte dir nicht weh tun.“
„Ich glaub's dir ja.“
Wir standen da und sahen uns an. Schwiegen.
„Ich will dir nicht weh tun. Echt jetzt. Nie.“ Ich schluckte. „Ich will dir nie weh tun.“
Jessi sagte nichts, sie blickte mir bloß weiter in die Augen, ohne sich zu bewegen; es war so, als ob sie durch meine Pupillen direkt in meinen Kopf hineinschauen könnte, in mein Gehirn, in meine Gedanken. Irgendwie glaubte ich in diesem Augenblick alles an ihr zu verstehen, und ich war mir sicher, dass auch sie alles an mir verstehen würde. Eine Laterne auf der anderen Straßenseite fing zu blinken an und warf einen schwachen Lichtkegel auf den Gehsteig. Alles fühlte sich unecht und verschwommen an, wie im Traum.
Irgendwas brach in mir, ich konnte es fast knacken hören; dann sah ich, wie ich sie an mich heranzog und meine Lippen auf ihre presste; ich hatte mich immer gefragt, wie das wohl mit den Nasen funktionieren würde, woher man wissen sollte, ob man sie nach links oder rechts drehen muss, um nicht aus Versehen einen auf Eskimo zu machen; zu meinem Erstaunen klappte es, ohne dass ich darüber nachdenken musste. Zuerst zog sie ihren Kopf zurück, drückte mich leicht weg, aber dann gab sie nach; ich steckte ihr meine Zunge rein, schleckte im Pfefferminzaschenbecher herum. Es war weich und feucht, fühlte sich verdammt gut an. Sofort wachte mein Schwanz auf, fing an zu kribbeln und zu zucken, so, als wolle er mir von da unten zuwinken und schreien: „Heeey, Großer, lass mich raus, ich will auch!“
Ich umschlang sie noch fester, ließ meine Hände runter zu ihrem Arsch gleiten und begann zu kneten. Das Ding in meiner Hose drehte vollkommen durch. Da nahm sie meinen Kopf, riss ihn von sich weg und stieß mich um. Ich hörte sie heulen, als sie wegrannte. Noch einige Zeit saß ich auf dem Gehsteig und starrte auf die Straßenecke, hinter der sie verschwunden war.
Als ich zu meinem Fahrrad kam, hatte ich Schwierigkeiten, das Schloss zu öffnen; alles drehte sich, und nichts ergab mehr Sinn. Ich musste weit fahren, um nach Hause zu kommen. Der Park lag auf der Seite der Stadt, wo alles grau war; wo man die Männer aus den Fenstern ihrer Betonsärge Zigaretten paffen sah, wo es nichts als Pinten und Casinos und Dönerbuden zu geben schien, und wo immer irgendeine Gruppe Halbstarker herumlungerte, die dich unter ihren Kapuzen beobachteten. Das Viertel, aus dem ich kam, war anders: Jede Familie hatte dort ihr eigenes Haus, und sie schauten alle gleich aus; sie waren weiß und sauber und ohne Risse, sie strotzten vor Kraft und Gesundheit. Oft kam es mir so vor, als ob es auf der Straße vor unserem Haus nie nach etwas riechen würde; nicht nach Gebüsch und nicht nach Erde; nicht nach Autos oder Scheiße oder Blumen oder Menschen; ich war froh, wenn ich dort wegkam.
Ich hatte noch Schlagseite, als ich daheim ankam; jetzt folgte der nervigste Part. Meine Eltern hockten immer zwischen der Tür und meinem Zimmer, glotzten Fernsehen, und ich stank nach Sprit und Rauch und musste da vorbei. Ich hatte prophylaktisch ein Deo und ein paar Kaugummis im Müllhäuschen versteckt; also stopfte ich mir drei in den Mund, sprühte mich ein und tänzelte ein bisschen über den Vorhof, um den Duft einwirken zu lassen. Als ich die Tür öffnete, holte ich tief Luft. Der Fernseher dröhnte bis in den Gang; irgendeine dieser Diskussionsrunden, ätzend. Ich ging ein paar Schritte und wartete darauf, dass die übliche Prozedur über mich ergehen würde; ich würde ins Wohnzimmer kommen, meine Mutter würde sagen: „Wo warst du denn so lange, Jung'?“, dann würde mein Vater sagen: „Lass das Kind doch mal!“, meine Mutter würde laut seufzen und beide hätten sich nicht mal die Mühe gemacht, von der Scheibe wegzusehen. Wenn ich zu unvorsichtig gewesen wäre, würde meine Mutter in der Gegend rumschnüffeln und sagen: „Mensch Franz, riechst' das auch?“, und Franz würde aufstehen und sagen: „Nico! Du stinkst ja wie ein ganzes Wirtshaus! Wo treibste dich denn 'rum, hä?!“, und ich würde sagen: „War in 'nem Wirtshaus“, und dann würde er mir einen bösen Blick zuwerfen, sich wieder hinhocken, weiter glotzen, und ich könnte in mein Zimmer gehen und mich wütend in den Schlaf wichsen. Ich hasste die beiden, ich hasste alles an ihnen: ich hasste ihre Gesichter und ihre Stimmen, ich hasste die Art wie sie liefen und lachten, ich hasste es, dass sie mich anschauten und einen kleinen Jungen sahen, ich hasste es, dass sie mich nie nach den wirklich wichtigen Dingen fragten; ich hasste es, dass wir immer bloß über unserem Mittagessen hingen und uns anschwiegen. Die Tage, an denen wir dasaßen und ich erzählte, dass ich ein paar Einsen geschrieben oder gegen Ben ein Tischtennistunier gewonnen hatte, die Tage, an denen ich ihr Sohn war und wir zusammen Wetten, dass? schauten und lachten und uns wirklich etwas zu sagen hatten, diese Tage verkümmerten zu einer dieser Erinnerungen, die einem irgendwann so unwirklich erscheinen, dass man sich schwer damit tut, sie für wahr zu halten.
Als ich eintrat, geschah nichts von alldem. Mein Vater lag schnarchend auf dem Sofa und Maybrit Illner brüllte ihn an. Meine Mutter war nicht mehr da.
Ich lag im Bett und schloss die Augen. Alles drehte sich; mir war verdammt schlecht. So wollte ich nicht einschlafen, also entschied ich mich dazu, noch eine kleine Spritztour zu wagen. Seitdem ich herausgefunden hatte, was man so alles mit seiner Nudel anstellen konnte, litt ich an einer neurotisch-pubertären Zwangsstörung, die Massen von Möchtegernmännern schon immer in den Irrsinn getrieben hat: chronische Geilheit. Manchmal verbrachte ich den ganzen Tag im Bett und tat echt nichts anderes, als Mütze-Glatze zu spielen; ich konnte mich kaum zum Essen oder Pissen aufraffen, ohne mir in der Hose herumzufummeln. Ich brach ständig meine eigenen Rekorde, schaffte es drei- oder viermal hintereinander, tat es irgendwann nicht mal mehr des Gefühls wegen, sondern nur noch, um nach dem Orgasmus das kurze Zeitfenster zu genießen, in dem ich endlich klar denken konnte, ohne überall Titten und Ärsche und Muschis zu sehen. Aber spätestens, wenn das Biest in mir wieder zu brennen begann, ging der Wahnsinn von vorne los und alles bestand nur noch aus Brüsten, Brüsten, Brüsten. Solche Tage taten mir nicht gut, die zogen mir jegliche Kraft aus den Knochen und ließen mich am nächsten Morgen wie ein Zombie mit Hämorrhoiden durch die Welt humpeln.
Als ich mir in die Hand spuckte und anfing, den Kleinen wachzuschütteln, dachte ich an Ben; dieses warm-und-nass-Ding ging mir nicht mehr aus dem Schädel: warm und nass?! Ich dachte nach, stand auf, ging ins Bad und drehte am Wasserhahn herum. Als ich die perfekte Temperatur gefunden hatte, packte ich ihn aus und taufte meine Vorstellung auf den Namen Jessi. Es fühlte sich erstaunlich gut an, ging leicht von der Hand. Warm und nass, warm und nass, ich war nah dran, schloss die Augen, sah ihre kleinen Titten ...
Plötzlich blitzte ein anderes Bild auf meine Leinwand: die Jessi mit dem traurigen Blick, die Jessi, die schluchzend davonrennt. Irgendetwas stimmte nicht, entweder mit ihr oder mit mir. War sie gaga-plemm-plemm oder ich ein beschissener Küsser, ein perverser Vierzehnjähriger, der die kleinen Girls begrapscht? Ich schüttelte ihn, weil ich nicht wollte, dass er so kurz davor den Kopf wie eine verängstigte Schildkröte einzieht.
Die Tür ging auf, ich zuckte zusammen, rutschte fast aus; mein Vater erschrak genauso; er riss die Augen auf und durchstach mich mit einem ungläubigen Blick; er schien wohl kurz darauf zu warten, dass er aus einem beschissenen Albtraum aufwacht. Ich stand da, war paralysiert; Adrenalin raste durch meinen Körper. Schweigen. Das Plätschern des Wassers war das einzige Geräusch, das diese eklige Stille zu durchbrechen versuchte. Wir schauten uns weiter an. Niemand von uns beiden schien eine Idee zu haben, wie man sich aus dieser Situation am billigsten davonschummeln könnte. Ehe ich etwas sagen konnte, zog mein Vater die Augenbrauen hoch, warf mir so einen ach-was-machst-du-denn-da-Junge-Blick zu, seufzte, drehte sich um, nickte den Boden an und schloss die Tür hinter sich. Ich keuchte, drohte in den Fliesen zu versinken, sie waren Treibsand. Ein Schwall drückte mir im Hals, schoss nach oben, quoll mir aus dem Mund. Ich beugte mich vor, rülpste den Dreck heraus und erkannte die Whiskeynote; als ich fertig war, hob ich den Kopf, schaute in den Spiegel und sah mich an: Das war er also, sein Sohn; der mit den roten Augen und dem vollgekotzten Shirt, der mit dem Schwanz in der Hand und dem kleinen Freak in der Birne.
Samstag
Seppi und Jessi wohnten in der Nähe vom Park, in einem braunen Betonklumpen mit Fenstern und Balkonen; ich war nie oft bei ihnen gewesen, irgendwie hatte sich das nie ergeben. Wenn ich Seppi fragte: „Heey, Bock was auszuchecken?“, schlug er immer sofort etwas vor, was man nur draußen oder bei mir oder Ben machen konnte; das fand ich irgendwie ziemlich schade, weil ich mir heimlich vorstellte, dass Jessi drinnen in Hotpants rumlief oder so.
Ich stieg vor dem Wohnhaus ab und schob mein Fahrrad in den Hof hinein; Wäscheleinen, überquellende Müllcontainer und ein paar zahnlose Alte mit Baskenmützen, die herumalberten und Karten auf einen Pappkarton schmissen. Ich klingelte bei Seppi; irgendwie begann ich mich unwohl zu fühlen, ich spürte da etwas meinen Nacken kitzeln. Als ich mich umdrehte, erschrak ich: Da stand er, auf dem Balkon, über mir, Herr Lötzsch, Seppis Alter, er stierte mich an. Ich hatte fast vergessen, dass es ihn gab; die paar Male, als ich hier gewesen war, saß er immer in derselben steifen Position da oben, im Unterhemd, starrte stumm, kalt, wütend auf den Hof herunter, mit diesem vernarbten Gesicht und der Säufernase. Herr Lötzsch gab nie einen Laut von sich, selbst als ich mal „Hallo!“ nach oben gerufen hatte, durchlöcherte er mich als Antwort bloß mit seinen Blicken. Ich schaute schnell wieder weg, drückte noch mal auf die Klingel und kurz darauf stand Seppi vor mir.
„Hi Nico“, sagte er, aber mit so einem komischen Unterton, irgendwie ängstlich.
„Hey“, sagte ich, „was geht ab?“ Ich blinzelte ihm zu, weil ich herausfinden wollte, ob er das Zeug auftreiben konnte und unser kleiner Partymarathon weitergehen würde. Seppi schaute mich an, schluckte, wurde blass und sagte dann: „Komm, lass losgeh'n.“
Wir liefen ein paar Schritte, da durchschnitt ein kratziger Schrei die Luft. Sogar die Alten auf der anderen Seite des Hofs stoppten ihr Kartenspiel und drehten sich zu uns um.
„Sebastian!“
Seppi zuckte zusammen, blieb sofort stehen und rührte sich nicht.
„Schau' mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede, Sebastian!“
Seppi drehte sich ruckartig um und haspelte: „'schuldigung, Papa, ich –“
„Ja? Was?“
„Ich, ich ... äh ...“
„Wo gehst du hin, Sebastian?“ Der alte Lötzsch zündete sich eine Zigarette an, starrte uns unbeirrt von seinem Thron aus an und pustete den Rauch so heraus, als wolle er uns auf den Kopf spucken. Seppi schien keine Worte zu finden, er nuschelte bloß unverständliches Zeug: „Ich ... äh wi-wir .. geh'n ...“
„Ist das der junge Breitner?“, fauchte er vom Balkon herunter und nickte mich an.
„J-Ja, isser.“ Seppi warf mir kurz einen Blick zu, so, als wolle er checken, ob ich auch eine gute Figur vor seinem Vater abgeben würde. Jetzt musterte mich der Alte. Er hatte einen verdammt klaren Blick drauf, so, als ob ihm nichts entgehen würde, als ob er mich bloß anzusehen brauchte, um alles über mich zu wissen. Seine Mundwinkel zeigten weiterhin nach unten und die Kippe in seiner Hand glühte vor sich hin.
„Gut“, sagte der alte Lötzsch und stierte mich immer noch an. „Komm' nicht zu spät, Sebastian.“
Seppi rührte sich nicht, bis sein Vater uns noch mal auf den Kopf gespuckt hatte und sagte: „Ihr könnt jetzt gehen.“
Die Kartenspieler fingen wieder an herumzublödeln und wir latschten schnell davon.
„Der Alte hat gestern 'nen Großeinkauf gemacht“, sagte Seppi, als wir unsere Fahrräder ein Stück weit die Straße abwärts geschoben hatten. „Der ganze Keller steht mit Selbstgebranntem voll; würde 'nen Besen fressen, wenn der das checkt.“ Seppi begann mich anzugrinsen, bekam wieder etwas Farbe im Gesicht und tätschelte gegen seinen Rucksack.
„Jo, besser als der Stress mit der Tanke“, sagte ich. Plötzlich klimperten die Flaschen ziemlich laut und wir beide begannen herumzukichern.
Ben saß auf der Lehne unserer Bank, hatte die Hände vor sich gefaltet und ließ einen Spuckefaden zwischen seine Füße sinken. Neben ihm saß eine ziemlich aufgetakelte Tussi, die sich die Augen wie ein Panda angemalt hatte und Haare wie Heu trug; der Ausschnitt ging ihr knapp bis über die Nippel und ihre Titten waren so verdammt groß, dass es aussah, als wollten sie von ihrem Körper wegspringen; solche Euter bei einer in unserem Alter zu sehen war genauso selten wie ein Vierzehnjähriger mit Rasputinbart und Flugzeugführerschein. Ben schien sie nicht weiter zu beachten, er schien niemanden zu beachten; er starrte nach unten und manövrierte weiter Rotze zwischen seine Schuhe.
„Alter“, sagte Seppi, und in seinen Augen blitzte eine Mischung aus Geilheit und Wahnsinn, „schau dir mal die Braut an! Was will die 'n da?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich, vielleicht hat sich die F-F endlich mal das Fett umsaugen lassen.“
Wir glucksten blöd herum und kamen der Bank immer näher. Das Mädchen begann uns anzulächeln und ich war verwundert; eigentlich hätte mein Schwanz schon lange an seinen Gitterstäben rütteln müssen, aber irgendwie war er gerade am Pennen.
„Hey Ben!“, rief Seppi, streifte sich die Haare hinter die Ohren und steckte die Hände in die Hosentaschen. Ben hob den Kopf und warf uns einen flüchtigen Blick zu.
„Was geht ab, Jungs ...“, sagte er, und steckte sich eine Fluppe an. „Das is' die Mel, 'ne Freundin von der Franzi.“
„Hey“, sagte Seppi, so dämlich pseudocool. Mel nickte ihm zu, dann sah sie mich an; ihre Backen schoben sich zu ein paar Schminkegrübchen zusammen: „Heeey.“
„Die Franzi wollte eigentlich auch noch kommen“, sagte Ben und blinzelte auf sein Handy. „Schon vor 'ner halben Stunde, kein Plan ...“
Kurz schwiegen wir; Ben pustete den Rauch aus seinen Backen und starrte dabei in die Ferne. Seppi schaute Mel so an, als wolle er sie auffressen, und Mel stierte mich an; sie hatte graue, nichtssagende Augen, genauso grau und nichtssagend wie der Kieselweg oder eine Betonmauer. Irgendwie musste ich an die Augen denken, die mich gestern so tief und durchdringend angesehen hatten, die in mich hineingelangt und irgendetwas gestreichelt hatten; mir wurde warm, als ich daran dachte. Ich schielte zum Gerüst, aber da war niemand.
„Wie heißte denn?“, fragte mich Panda-Augen-Mel und schmatzte auf ihrem Kaugummi herum wie eine Kuh auf Gras.
„Nico“, sagte ich. „Und das ist der Seppi.“
„Mhmmm“, machte Mel und glotzte mich weiter an.
„Na dann kann's ja losgehen“, sagte Seppi, klatschte in die Hände, schwenkte seinen Blick mal durch den Park und holte dann eine Pulle aus seinem Rucksack.
Ben gab mir die Flasche rüber; ich nahm sie und versuchte einen Hit zu nehmen, aber es war schwierig; diese Irre hatte sich einfach auf meinen Schoß gesetzt und rutschte die ganze Zeit vor und zurück; natürlich war mein Schwanz dadurch wachmassiert worden, war von Wurm zu Kobra mutiert und pulsierte jetzt in die Arschbacken von dieser Mel hinein.
„Hey, hör mal“, sagte ich zu Ben; ich wollte es schnell hinter mich bringen, denn wer wusste schon, wie lange ich noch genug Blut in der oberen Körperhälfte hatte, um einen geraden Satz über die Lippen zu bringen. „Das gestern, weißte, das war nich' so gemeint, ich war besoffen und –“
Ben schaute mich an, aber irgendwie schien ihm meine Entschuldigung keine bessere Laune zu machen; er hatte Augenringe, blickte mich müde, kaputt, verschlafen an, und sagte nichts, sondern tippte bloß weiter auf seinem Handy herum. Mel laberte irgendwas mit Seppi und gluckste dabei; sie rieb ihren Arsch weiter vor und zurück – ich schluckte das scharfe Zeug hinunter, spürte ihren Körper auf mir, aber er gab mir nichts, er war ein Zellhaufen mit zu viel Schminke; das Gerüst war immer noch leer.
Es dämmerte bereits und die Mukkiebudentypen lungerten bei der Tischtennisplatte herum; man hörte sie lachen und anstoßen. Die Pulle hatte ein paar Kreise gezogen und war nur noch halb voll; da war er wieder, dieser taube, leichtfüßige, kribblige Nebel, der sich um uns zog und alles so unreal erscheinen ließ. Die Alte hatte sich mittlerweile umgedreht und saß jetzt so auf mir drauf, dass ich alle Mühe damit hatte, ihr meine Nase nicht zwischen die Titten zu stecken; ich musste meinen Kopf richtig unbequem verrenken, so nah war sie mir. Seppi erzählte ihr die ganze Zeit irgendeinen Stuss, von wegen, was er so Witziges in der Schule erlebt hatte, keine Ahnung; Kuhfressen-Mel lachte übertrieben laut: „Hä hä hä hä hä“, und hoppelte auf mir herum; irgendwann ging mir ein kleiner ab, glaube ich – ich bin mir nicht ganz sicher, auf jeden Fall klebte danach was in der Hose. Auch Ben witzelte wieder ein bisschen mit, blinzelte auf sein Handy und verteilte Kippen.
Wir hatten wegen irgendwas gelacht, auf jeden Fall hoppelte Mel gerade auf mir herum, da stand sie plötzlich vor mir; zuerst glaubte ich nicht, was ich sah. Ich wartete ein paar Sekunden ab, dann nickte ich ihr zu, weil ich irgendwie nicht wusste, wie man ein Mädchen begrüßen sollte, das heult, wenn man sie küsst.
„Hey Jungs“, sagte Jessi, schaute mich kurz an und riss ihren Blick dann schnell wieder weg.
„Hey ...“, murmelten die anderen; Mel glotzte Jessi von oben bis unten an und drehte sich dann zu mir um; sie versuchte sich ein Lachen zu verkneifen und pustete dabei ihre Backen so bescheuert auf.
„K'nnt ihr die?“, fragte mich Mel so laut, dass es alle hören konnten.
„Ähm ja“, sagte ich, „ist Seppis Schwester.“
Jessi setzte sich neben Ben auf die Bank; eine Weile schwiegen wir, bloß Mel rutschte auf mir herum; sie schwankte mittlerweile sehr.
„Ohh“, stöhnte sie auf einmal, „euer Alkohol br'nnt mir voll im M'nd.“
Ihre Worte klangen verwaschen; sie griff sich die Flasche, drehte den Deckel ab und nippte. „Ohh, das br'nnt!“
Jetzt schaute sie mich mit ihren Betonmaueraugen an, ihr Kopf wackelte hin und her. „Komm schon Schnucki, lösch' mei'e Lippen.“
„Was?“ Ich schluckte; ich meine, von sowas hatte ich während meiner Mütze-Glatze-Tage vierundzwanzig Stunden lang geträumt, und in Sachen Küssen war ich ja mittlerweile auch bewandert – aber ich konnte nicht, ich wollte meine Lippen nicht in dieses Gesicht drücken.
„Alter, jetz' küss sie halt endlich!“, stöhnte Ben, tippte auf seinem Handy herum und verdrehte die Augen. Plötzlich beugte sich Mel zu mir herunter und alles wurde dunkel; ich schmeckte dieses scharfe Zeug und fühlte ihre glibbrige Zunge, die sich wie ein Blinder in meinem Mund umhertastete. Danach schwiegen wir alle; Seppi sagte nichts mehr, ich sagte nichts mehr, Jessi rauchte eine nach der anderen und Ben drückte weiter auf seinem Handy herum.
„Ich geh' dann mal“, sagte Jessi, trat ihre Kippe aus und stand auf.
„Jetzt schon?“, fragte ich. „Ist doch noch nicht mal ganz dunkel.“
„Ja“, sagte sie, ohne mich anzusehen, und lief los, über die Wiese. Mein Herz hämmerte, ich fühlte mich fürchterlich; da kribbelte etwas in mir, das einfach nur aufspringen, loslaufen, mit ihr wegrennen wollte, aber ich konnte nicht, die anderen würden es nicht verstehen, die würden lachen.
„Was is' denn mit der los?“, fragte Mel und kicherte wieder so bescheuert rum. Seppi zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung“, sagte er, „die is' halt so.“
Ich ertrug es kaum, sie gehen zu sehen; ihr Rücken wurde immer kleiner und ich verbrannte; da lief sie, den Kopf gesenkt, die Hände in den Hosentaschen – es stach in meinem Bauch, tat weh. Mels Panda-Gesicht und ihre Beton-Augen schoben sich zwischen mir und Jessi, ich spürte ihren heißen Atem, hörte Seppi spucken und Ben auf den Tasten seines Handys herumdrücken – ihre Fresse kam näher, wurde immer größer; ich wollte es nicht, es war falsch, es brachte mich fast um, meine Hände schwitzten. Als ich Mels Lippen spürte, platzte es aus mir heraus; ich packte sie und schmiss sie von mir herunter; sie knallte auf den Kieselsteinweg, jaulte, Ben und Seppi zuckten zusammen, aber es war mir egal. Ich rannte los, über die Wiese, so schnell ich konnte, hörte die anderen irgendetwas rufen, ich verstand es nicht.
Sie stand hinter einem Gebüsch und ihre nassen Wangen glitzerten im Licht der Straßenlaterne. Da war sie wieder, diese Traurigkeit, die mir bei ihr so fremd vorkam. Ihr Kinn zitterte.
„Hey“, sagte ich und keuchte. „Hey.“
Jessi sagte nichts, sondern starrte mich bloß an. Dann fuchtelte sie mit ihrer Kippe herum.
„Hab ich's nicht gesagt: wie 'n Glühwürmchen.“
„Ja“, sagte ich, aber ich glaubte ihr nicht mehr, es war eine Fassade, eine Lüge. Wieder standen wir da und taten nichts als uns anzuschauen, aber es war keine nichtssagende Stille.
„Tut mir leid“, sagte ich dann, „das mit der ist nicht so, wie du denkst, weißte.“
„Du hattest es versprochen“, sagte sie und schluchzte. „Weißt du, das gestern, ich kann sowas einfach nicht abhaben ...“
Ein paar Minuten standen wir einfach so da; ich schlug ihr vor, ein bisschen rumzulaufen. Dann erzählte sie es mir, ich meine echt einfach alles, von ihrem Stiefvater und von ihren Halbschwestern, die es zwar wussten, sie aber nur dafür hassten, weil er ihr damals so viele Geschenke machte; von Seppi, der danach immer zu ihr ins Bett kam und sie solange in den Arm nahm, bis sie einschlief; von ihrer Mutter, deren Arme so vernarbt waren, dass sie keine T-Shirts mehr tragen konnte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also nickte ich bloß; ich glaube, ich hätte gerne mitgeheult, aber ich konnte nicht, da brannte zu viel Wut in meinem Bauch.
Als wir zurückkamen war es fast dunkel; Jessi meinte, dass es egal sei, wann sie nach Hause käme und mir war es auch egal, was wollte ich schon dort. Wir liefen an dem Gebüsch vorbei auf die Wiese, als ich einen Schrei, nein, vielmehr ein Jaulen hörte; erst erkannte ich nichts, ich sah bloß einen Schatten vor unserer Bank knien und hörte ein Krächzen.
„Warte hier“, sagte ich zu Jessi; meine Lungen fingen zu pumpen an, ich spürte das Adrenalin durch meinen Körper rasen und war plötzlich wieder stocknüchtern; ich begann zu rennen, hin zu diesem Schatten: Ich ahnte was gerade geschah, wollte es aber nicht wahrhaben.
„Du Sau!“, schrie er mit dieser kratzigen Stimme, „du Sau! Du blöde Sau!“
Ich rannte und rannte, meine Arme und Beine wurden taub. Jetzt erkannte ich ihn; das eingefallene Gesicht, die Säufernase. Ich hörte es knallen, wieder und wieder, sah seinen Arm nach unten schleudern; Seppi lag wie eine Puppe auf dem Boden, zuckte nicht mal mehr, Ben lag eingesunken auf der Bank, aus seinem Mund und seiner Nase quoll Blut; er sah mich mit trüben, leeren Augen an und schnaufte stark.
„Du Sau! Du elendige Sau!“, krächzte der alte Lötzsch wieder und wieder, „willste vielleicht so werden wie ich?!“
Ich rannte noch immer und als ich Seppis Gesicht erblickte, stach es in meiner Brust; ich erkannte ihn fast nicht wieder, da war kaum mehr als roter Matsch und Hautlappen übriggeblieben. Der Alte sah mich nicht kommen; ich dachte nicht darüber nach, was ich tat; ich schleuderte ihm einfach mit aller Kraft meinen Schuh gegen die Nase – es krachte und er fiel zurück, blieb kurz liegen und durchlöcherte mich dann mit diesem klaren Blick und den weit aufgerissenen Augen. Der alte Lötzsch sprang blitzschnell auf, krallte seine Pranken um meinen Hals, hob mich hoch und warf mich auf den Boden; ich hörte es unter mir klirren, spürte den Schmerz aber nicht – ich bekam kaum mehr Luft. Als der alte Lötzsch seine Faust ballte und sich zu mir herunterbeugte, da fühlte ich die Flasche bei meiner Rechten – ich griff zu und streckte ihm das abgebrochene Ding entgegen; der Alte kam zu schnell herunter, er stieß einen fürchterlich grellen Schrei aus, und ich spürte das warme Blut auf mich spritzen. Der alte Lötzsch zog den Kopf nach oben und riss mir so die Flasche aus der Hand; er schrie noch ein paar Mal, wurde immer stiller und blieb schließlich regungslos liegen; Scherben ragten aus seinem Gesicht. Ich atmete schwer, bekam keine Luft mehr, meine Hände zitterten; ich bemerkte, dass die Russen von der Tischtennisplatte um uns herum standen und telefonierten.
„Der Junke hat ihn umkepracht!“, schrie der eine und fuchtelte in meine Richtung, „der hat den Alten umkepracht!“
„Ist alles gut ...“, murmelte Ben, ohne sich dabei zu bewegen; er saß immer noch eingesunken auf der Bank und starrte blutverschmiert vor sich hin. „Ist alles gut ... alles gut ...“
Ich stand auf, hatte Seppis Rucksack um die Schulter; „der Junke hat ihn umkepracht!“
Ich schubste den Russen zur Seite und rannte, so schnell wie ich noch nie in meinem Leben gerannt war, über die Brücke, zu meinem Fahrrad.
Der Mond schien hell in dieser Nacht und das Moos machte mir allmählich einen nassen Arsch; Jessi kannte die Stelle hier im Wald, vor zwei Jahren hatte sie Seppi mal auf den Fahrrädern mit zur großen Eiche genommen, als wir uns ein Päckchen Zigaretten organisiert hatten und uns noch nicht trauten, irgendwo in der Stadt zu qualmen. Schon damals war sie mir aufgefallen: Sie konnte über Witze lachen, über die wir uns als zwölfjährige Idioten bepisst hatten; das war ungewöhnlich – alle Mädchen, die ich kannte, interessierten sich für Ponys oder Harry Potter und nicht für Fürze und das A-Team.
Ich hörte ihr Fahrrad quietschen; ich stand auf und versuchte ihr Gesicht zu lesen, aber es war zu dunkel. Sie stieg ab, blieb vor mir stehen und sah mich an.
„Hi“, sagte sie.
„Hey“, sagte ich.
„Seppi ist jetzt im Krankenhaus“, sagte sie, „die haben gemeint, ihn hat's schwer erwischt, aber er wird's schaffen.“
Ich atmete durch und spürte eine große Last von meinen Schultern fallen; aber es drückte noch immer in meinem Bauch, mir war schwindelig, schlecht, kalt.
„Das ist gut“, sagte ich, und nickte dabei, „ist gut.“
Der Wald war ungewöhnlich still in dieser Nacht; die Blätter raschelten über unseren Köpfen und der Mond hing über uns und starrte auf uns herab.
„Und wie geht's dir?“, fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern und blickte nach unten. „Weiß auch nicht. Geht schon. Bin einfach abgehauen – die Mom ist jetzt eh bloß beim Seppi.“
Ich nickte und sog die frische Waldluft durch meine Nasenlöcher.
„Und ... dein ... dein Vater?“
Wieder zog sie die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Die wissen noch gar nix.“
„Mhm.“
Ich ließ mich an der Eiche nach unten gleiten, auf das nasse Moos, alles tat mir weh; was passiert war, kam mir wie ein schlechter Albtraum vor – es ist nie passiert; der Schnaps brannte mir im Hals. Sie setzte sich neben mich.
„Du hast das Richtige gemacht“, sagte sie. Ich starrte einfach nur vor mich hin.
„Ich weiß nicht mal, ob ich will, dass er's schafft“, sagte sie dann und ihre Wangen begannen wieder zu glitzern. Ich nickte. Irgendwie verstand ich sie; ich wehrte mich dagegen, aber ich fühlte genauso. Ich wusste nichts mehr: nicht, was falsch war und nicht, was richtig war. Ich fühlte mich verloren.
„Ich versteh' dich“, sagte ich, „wirklich. Irgendwie versteh ich dich.“
„Nimmst du mich mal in den Arm?“
„Echt?“
„Ja.“
Ich legte meinen Arm um sie und drückte sie fest an mich heran; ich roch sie wieder: Sie roch nach Zigaretten und Sonnencreme und Deo und Jessi; Wärme breitete sich in mir aus.
„Ich habe immer eine scheiß Angst, wenn ich jemand anderen an mir fühle“, sagte sie, „dann spüre ich ihn immer auf mir liegen.“
„Ich habe auch Angst davor“, sagte ich. Sie blickte mich fragend an.
„Wie meinste das jetzt?“
„Naja, davor, dass mich eine da unten anfasst. Du weißt schon. Ich meine, ich will das ja und so, aber irgendwie hab' ich auch Schiss davor. Dass es weh tut oder so.“
„Ich will nicht, dass du Angst davor hast“, sagte sie dann.
„Und ich will auch nicht, dass du Angst vor mir hast“, sagte ich. Dann küssten wir uns und später setzte sie sich auf mich, ich spürte ihre warme, weiche Haut und wir ließen einander nicht los. Ben hatte recht: Es war warm und nass, aber es war viel mehr, es durchzog meinen ganzen Körper und ließ mich einen Meter über dem Boden schweben.
„Warte mal“, sagte sie, als wir gerade aus dem Waldstück herausgefahren waren und ich die ersten Sonnenstrahlen am Horizont sah. Ich bremste und drehte mich zu ihr zurück.
„Was is' denn?“
„Bitte vergiss mich nicht.“
Ich runzelte die Stirn und verstand nicht. „Wie meinste das jetzt?“
„Keine Ahnung. Ich glaub' irgendwie, dass wir uns nicht mehr oft sehen werden.“
„Ach Quatsch“, sagte ich, in der Hoffnung, wenn ich es bloß oft genug sagen würde, würde es schon stimmen. „Quatsch.“
Als ich zuhause ankam, war es bereits hell; die Vögel zwitscherten und der Tau glitzerte auf dem Gebüsch vor unserem Haus. Gleich nachdem ich die Tür geöffnet hatte, standen meine Eltern vor mir: meine Mutter mit roten Augen, die Haare zerzaust, und mein Vater mit geballten Fäusten und Augenringen. Dann platzte es aus mir heraus, ich konnte nichts dagegen tun: Ich heulte und die Rotze lief mir nur so aus der Nase, sie vermischte sich mit einer Menge Tränen und baumelte mir am Kinn herum. Ich fiel ihnen in die Arme und erzählte alles, was mir einfiel: von den Flaschen, von der Bank, von Seppi und seinem zermöbelten Gesicht, vom alten Lötzsch und von der Scherbe, die ihm aus dem Auge ragte. Sie nickten und nickten und hörten mir das erste Mal seit langem wieder zu; und plötzlich hasste ich ihre Gesichter und ihre Stimmen gar nicht mehr, es tat gut, sie zu sehen, sie zu hören. Meine Eltern waren nicht sauer. Ich glaube, sie waren einfach nur froh darüber, dass ich wieder bei ihnen war.
Die nächste Zeit war grauenhaft: Ich aß und schlief zwei Tage lang nicht, ich hatte furchtbare Angst davor, was mich in meinen Träumen erwarten würde; ich lag nur im Bett herum, wälzte mich von einer auf die andere Seite, schwitzte, fror, und starrte auf die Mattscheibe meines Fernsehers, ohne wirklich aufzupassen, was da gerade geschah. Ich traute mich nicht, Ben oder Seppi oder Jessi anzurufen; was ist, wenn Seppi mittlerweile tot ist? Was, wenn ich den alten Lötzsch umgebracht habe? Jeden Morgen schlich ich heimlich in die Küche und schlug die Zeitung auf, Todesanzeigen; und jeden Morgen starb ich fast selbst dabei, als ich die Seiten zitternd umblätterte; aber keiner hieß Lötzsch. Der einzige Mensch, den ich in dieser Zeit sah, war meine Mutter; sie brachte mir immer Tee mit Honig ans Bett, das half mir ein bisschen, es fühlte sich wie eine warme Umarmung an.
Nach drei Tagen stand er dann plötzlich in meinem Zimmer, ich hatte es gar nicht klingeln hören; auch er sah mitgenommen aus, sein Gesicht war blass, mit angeschwollenen Augen, Blutergüssen und Pflastern.
„Hey“, sagte Ben.
„Hey“, sagte ich.
„Schaust scheiße aus“, sagte Ben. Ich musste ein bisschen schmunzeln.
„Du aber auch, Alter.“
„Er ist wieder da.“
Ich schluckte; ein Stein sackte in meinen Magen und zog mich nach unten.
„Wie meinste das?“
„Seppi. Er hat's überstanden. Liegt jetzt in der Wachstation.“
Ich nickte und musste schwer schnaufen.
„Gut“, sagte ich.
„Ja ... der Alte liegt auch wach. Kann sich aber an nichts erinnern, so besoffen war der.“
Wir sahen uns kurz an und nickten, schwiegen.
„Sie hat mit mir Schluss gemacht“, sagte er dann.
„Wie meinste das jetzt?“
„Na die Franzi. Hat mit mir Schluss gemacht.“
„Oh“, sagte ich, weil ich irgendwie nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. „Tut mir leid, Mann.“
„Mhm“, brummte Ben.
Jessi sollte recht behalten; ich sah sie noch ein einziges Mal wieder, als wir Seppi besuchten. Es war ein komischer Besuch: Wir alle schienen irgendwie zu spüren, dass es ein Abschied war, es lag in der Luft. Jessi und Seppi zogen zwei Wochen später mit ihrer Mutter nach Hamburg. Der alte Lötzsch wanderte wieder in den Knast. Ben sah ich kaum noch; wir gingen nicht mehr in den Park, niemand von uns beiden hatte den anderen je wieder gefragt, ob er Lust dazu gehabt hätte. Ben hing dann mit so anderen Typen im Pausenhof ab, ich kannte sie nicht, ich sah sie bloß von weitem immer herumalbern. Ein Jahr später wechselte er aufs Gymnasium, dann sah ich auch ihn nicht wieder.