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Wandgeschmiere
„Papa, Papa. Sven hat mich gehauen“, rief Anton und lief zu seinem Vater, der auf einer Bank saß.
„Dann sag ihm, er soll sich entschuldigen“, entgegnete der Vater ruhig, ohne vom Handy aufzublicken.
Anton ging zurück zum Buddelkasten, schubste Sven von der Kante und sagte: „Du sollst Dich entschuldigen!“
"Hey", Sven drehte sich zur Seite und fand ein Stück Kreide im Sand. „Schau her“, rief er, stand auf und rannte nach hinten zur Wand.
Als Anton ankam, malte Sven schon ein Auto mit der Kreide an die Wand. „Weißt Du, was das da ist?“, fragte er und zeigte auf etwas weiter oben an der Wand.
Sven blickte nur kurz rauf und antwortete: „Das heißt ‚Heil Hitler‘.“
„Woher willst Du ’n das wissen?“, äffte Anton.
„Das hat mir mein Bruder gesagt. Der kann schon lesen.“
„Aha. Was steht da?“
„Heil Hitler.“
„Und was hat der?“
„Wer?“
„Na Hitler.“
„Weiß ich doch nicht. Wieso?“
„Na wenn der geheilt werden soll.“
„So ‘n Quatsch, der ist nicht krank“, erwiderte Sven. „Das ist ein Gruß.“
„So was wie ‚Hallo‘, oder ‚Tschüss‘?“
„Anton! Sven! Kommt her, wo ich euch besser sehen kann“, hörten die beiden Antons Vater und schlenderten wieder zum Sandkasten.
„Hallo Hitler. Heil Hitler. Heil Sven. Heil heil. Heil heili heil“, kicherte Anton vor sich hin.
Sven starrte an Anton vorbei. Als sich Anton umdrehte, sah er zwei große Jungs, die auf sie zukamen.
Der kleinere der beiden rempelte Sven an und riss ihm die Kreide aus der Hand.
„Hey, was soll das denn?“, brüllte Antons Vater von der Bank.
„Schon gut“, rief der Kleinere zurück, drehte sich zu Sven und flüsterte: „Du Fotze.“ Dann ging er mit seinem Kumpel zum Ausgang.
„Tut Dir was weh?“ fragte Anton.
„Nein“, entgegnete Sven. „Alles gut.“
„Sven“, die beiden Jungen zuckten zusammen. „Komm jetzt, wir essen gleich“, hörten sie Svens Bruder von der anderen Straßenseite brüllen.
„Ich muss los“, sagte Sven und ging.
Anton lief zu seinem Vater, der sein Handy einsteckte, aufstand und mit seinem Sohn an der Hand vom Spielplatz ging.
„Papa. Was bedeutet Fotze?“
„Wo hast du das Wort denn wieder her?“
„Aber was bedeutet es?“
„Ähm. Es bedeutet ... Es ist wie, ..., wie Vagina.“
„Wie bei Mama!“
„Ja.“
„Klingt aber wie Kotze.“
Der Vater sagte nichts dazu.
„Fotze, Kotze. Kotzen, Fotzen. Kotze, Fotze“
„Ist gut jetzt!“, ermahnte der Vater und sie gingen schweigend nach Hause.
„Hallo Mama!“, schrie Anton, als sie die Wohnung betraten.
Die Mutter kam aus der Küche in den Flur und begrüßte die beiden.
Anton schmiss seine Schuhe in die Ecke, zeigte auf Mamas Hose und rief: „Fotze.“ Dann lief er in sein Zimmer. Als er sich umdrehte, sah er, wie seine Eltern streitend in die Küche gingen. Er ging zurück in den Flur und hörte dem Streit zu.
„Wieso lernt er immer solche Worte, wenn er mit Dir unterwegs ist?“
„Weil ich ihm vielleicht die Welt so zeige, wie sie ist“, antwortete er pampig.
„Ach? Und ich packe ihn in Watte ein, oder wie?“
„Ja genau. Du und Deine Mutter. Bei euch kann er nur schwul werden.“
„Du bist so ein Arschloch!“
„Und Du …“
Die Mutter unterbrach ihn mit einer Ohrfeige: „… eine Fotze, wolltest du bestimmt sagen.“
Anton rannte in sein Zimmer, sprang auf das Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Er erinnerte sich daran, was Sven gesagt hatte: ‚ein schlimmeres Wort als Scheiße‘.
„Du weißt doch, dass wir uns öfter streiten“, redete die Mutter beruhigend auf Anton ein, als sie ihn bettfertig machte. „Das hat nichts mit dir zu tun. Das weißt du, oder?“
„Mhm“, sagte Anton leise.
„Wir haben dich lieb. Alle beide.“
Anton legte sich an diesem Abend ohne Widerstand ins Bett und ließ sich zudecken.
„Papa kommt noch und sagt Dir gute Nacht“, sagte die Mutter, bevor sie ging.
„Hey, Großer“, sagte der Vater, als er herein kam. „War das ein schöner Tag?“
Anton lag nur da und schaute seinen Vater an.
„Es ist alles gut“, sagte der Vater. „Jetzt schlaf! Gute Nacht.“ Er schaltete das Licht aus.
Anton drehte sich zur Seite und bevor er die Augen schloss sagte er: „Heil Papa.“