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Serie Walter P. - versch(r)obene Szenen: Scrabble in Zeiten der Cholera

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02.02.2003
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Walter P. - versch(r)obene Szenen: Scrabble in Zeiten der Cholera

ABGEIERN?“

Walter sah seine Mutter entgeistert an. „Kannst du mir bitte erklären, was das heißen soll?“
„Was willst du von mir?“, antwortete Walters Mutter ungerührt. „Habe ich etwa einen phantasielosen Deppen großgezogen?“
„Dieses Wort existiert einfach nicht!“, protestierte Walter weiter.
„Ach was. Ein Wort, das du nicht kennst, gibt es also nicht?“ Mutter wandte sich barsch an ihre Sitznachbarin. „Hilde, sag du doch auch mal was!“
Tante Hildegard schaute kurz von ihrem Buchstabenbänkchen auf. „Was?“, fragte sie. „Ach so. Ja, ja. Tolles Wort. Bin ich jetzt dran?“
Walters Mutter wandte sich triumphierend an ihren Sohn. „Siehst du?“ Walter seufzte resignierend und nahm den Bleistift zur Hand.
„Wie viele Punkte?“
Mutter warf einen einsekündigen Blick auf das Spielbrett und verkündete stolz: „Achtundzwanzig!“ Walter addierte die Punkte und sah dann seine Tante an. „Los geht’s, Tante Hildegard.“
„Kleinen Moment noch. Ich muss mal.“ Tante Hildegard erhob sich mit der Geschwindigkeit einer Gletscherverschiebung, sackte ihre sieben Buchstabensteine ein und verließ das Zimmer.
„Inkontinentes Miststück!“, zischte Walters Mutter leise. „Das macht sie mit Absicht, bloß um mich zu nerven.“
„Du meinst, dass sie die Buchstaben mitnimmt und so verhindert, dass du schummelst?“ Walter musste grinsen. Seine Mutter schenkte ihm einen Blick, der eine Zukunft versprach, in der ein auf seinen Kopf niedersausendes Scrabblebrett eine wichtige Rolle spielte.
„Noch Kaffee?“, fragte Walter rasch.
„Ich bitte darum“, antwortete seine Mutter. „Obwohl mich das Spielen mit euch beiden schon genug aufregt.“ Walter hob die Kaffeekanne über die Tasse seiner Mutter, um ihr einzuschenken ...

Und hielt inne.

Aus Richtung des Vorzimmers drang ein gedämpftes Plätschern an sein Ohr. Walter hielt den Blick starr auf das Tischtuch gerichtet und lauschte gebannt, während die längsten dreißig Sekunden seines Lebens vergingen. Endlich war Tante Hildegards Vorstellung zu Ende. Die Klospülung ging und Walters Mutter hob die Hand über ihre Kaffeetasse. „Ich denke, ich werde verzichten.“
„Versteh’ ich“, murmelte Walter noch rasch, als Tante Hildegard zurückkehrte.
„Falls du es einrichten kannst, Hilde, wäre es sehr nett von dir wenn du jetzt weiterspielen würdest.“ Walter entging der sarkastische Tonfall seiner Mutter nicht, und er studierte demonstrativ konzentriert seine eigenen Buchstaben, während seine Mutter mit den Fingern einen Takt klopfte, der ihn vage an das Trommeln eines hungrigen Kannibalenstamms erinnerte.

Tante Hildegard zeigte sich vollkommen unbeeindruckt von ihren Mitspielern und begann sorgfältig nachzudenken. Eine Minute verstrich, dann noch eine, und genau in dem Augenblick, in dem Walter glaubte, dass seine Mutter ihrer Schwester einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen würde, entschloss sich die Tante mit aufwändiger Gebärde ein ‚DU’ zu legen.
„Zwei Punkte!“, säuselte sie Walter mit zufriedenem Lächeln zu. Walters Mutter schloss die Augen, enthielt sich jedoch eines weiteren Kommentars. Walter wusste, dass Geduld keine Stärke seiner Mutter war. Zum Glück war er sich bereits im Klaren, was er spielen wollte. Er legte vier seiner Buchstabensteine ab.

„VÖGELN? Sag Sohn, bist du jetzt vollkommen verrückt?“, entrüstete sich seine Mutter als sie sah, was er ausgelegt hatte.
„Wie bitte?“ Walter schaute seine Mutter verblüfft an.
„Ich lehne dieses Wort als moralisch verwerflich ab!“, tönte Mutter mit dem Brustton der Überzeugung.
„Ich fasse es einfach nicht, Mutter. Kann es sein, dass du eher meinen dreifachen Wortwert ablehnst? Schon mal was vom Deklinieren gehört? Den Vögeln! Plural! Akkusativ! Von Vogel!“
„Komm mir jetzt bloß nicht mit deinem Grammatikquatsch. Du nimmst das Wort zurück und basta!“
„Himmel!“, ließ sich Tante Hildegard plötzlich vernehmen. „Ich glaube, ich habe vergessen, Hartmuth Wasser zu geben.“
„Kein Mensch interessiert sich im Augenblick für deinen zerzausten Nymphensittich, Hilde!“, fauchte Walters Mutter.
„Aber ihr redet doch die ganze Zeit von Vögeln“, versuchte sich Tante Hildegard zu verteidigen.
„VOM Vögeln, Hilde, VOM!“, posaunte Mutter quer über den Tisch und zeigte dabei vorwurfsvoll auf das böse Wort, das Walter gelegt hatte.

Walter erkannte, dass es an der Zeit war, die für solche Fälle eigens entwickelte Anti-Cholerik-Prozedur anzuwerfen. Also nahm er seine Steine wieder vom Brett und versank in Nachdenken. Das erwies sich als nicht gerade einfach, denn Tante Hildegard jammerte jetzt in einem fort „Der arme Hartmuth, ach der arme Hartmuth“.
„Er wird’s überleben, Hilde. Sei jetzt still, ich muss mich konzentrieren“, sagte Walters Mutter.
„Aber du bist doch noch gar nicht dran“, versuchte Walter Einspruch zu erheben, aber der Ausdruck in Mutters Augen verriet ihm, dass eine Diskussion über Scrabble-Ethik auf der Liste der guten Ideen im Moment ziemlich weit unten rangierte. Also ließ er seine Mutter gewähren, die schon ihr nächstes Wort anlegte.

Walter beugte sich ein Stück vor und las: BADEURIN.
„Das wären dann zweiunddreißig Punkte, wenn ich mich nicht verrechnet habe“, sagte Mutter, und ihr Tonfall verriet, dass selbst Euler oder Gödel aus der Wohnung geworfen worden wären, wenn sie versucht hätten, den Beweis anzutreten, dass ihr eigentlich nur zweiundzwanzig Punkte zustünden.

„Ich darf mich nicht zufällig erkundigen, was das jetzt wieder heißen soll?“, fragte Walter ärgerlich. Diesmal kommt sie nicht so leicht davon, dachte er bei sich.
„Natürlich darfst du das, mein Junge.“ Mutter lächelte jetzt ganz eigentümlich. Ihr Gesichtsausdruck war der einer Löwin, die bemerkt hatte, dass es auf Mittag zugeht, und dass es jetzt wirklich an der Zeit war, den Smalltalk mit den Gazellen zu beenden und sie wieder an ihren Platz in der Nahrungskette zu verweisen.
„Ich könnte dann endlich wieder mal diese Geschichte erzählen, in der ein gerammelt volles Schwimmbadbecken, ein Dreimeterbrett und ein Achtjähriger, der unfähig ist, rechtzeitig zur Toilette zu gehen, eine wesentliche Rolle spielen.“
„Gutes Wort“, murmelte Walter, „gutes Wort.“
„Der Bademeister war nicht amüsiert“, sagte Walters Mutter.
„Ich glaube deine ersten Worte waren damals: ‚Wem gehört dieses Kind?’“, erwiderte Walter.
„Demut war noch nie meine Stärke. Hilde, was ist denn jetzt schon wieder los?“ Tante Hildegard war aufgesprungen und wieselte in Richtung Wohnungstür, wobei sie immer noch andauernd „Der arme Hartmuth, ach der arme Hartmuth“ vor sich hin brabbelte. Walter und seine Mutter hörten, wie sich die Eingangstür öffnete und wieder schloss.

„Ich schätze, damit ist unser Scrabble-Nachmittag beendet“, verkündete Walters Mutter trocken.
„Sieht ganz so aus.“ Walter hatte große Mühe damit, seiner Stimme die angebrachte Portion Bedauern mit auf den Weg zu geben.
„Wie ist es ausgegangen?“, fragte Mutter.
„Also du hast 144 Punkte“, antwortete Walter.
„Und du?“
Walter spürte, wie seine Ohren heiß wurden.
„146.“ Er tastete zu seiner Brusttasche, um sich eine Zigarette anzuzünden, als ihm einfiel, dass er sich das Rauchen vor drei Monaten abgewöhnt hatte.
„So, so.“ Mutter hatte begonnen die Spielsteine in den kleinen Leinenbeutel zurückzupacken. Mit ziemlich viel Schwung, wie Walter auffiel.
„Es ist nur ein Spiel“, versuchte Walter die Wogen des aufkeimenden mütterlichen Zorns zu glätten.
„Hilde macht mich einfach wahnsinnig!“, fuhr Mutter das E in ihrer Hand an.
„Aber sie tut doch gar nichts! Ich glaube, du suchst einfach ein Ventil, weil du verloren hast.“
„Verloren? Ich gehe doch davon aus, dass ich wenigstens Zweite geworden bin. Zweite hinter einem Schriftsteller, bitte! Und was Hilde angeht: Es wird täglich schlimmer mit ihr.“
„Was sagt der Arzt?“
„Doktor Sperber war selbst verwirrt, als Hilde ihn beim letzten Mal beschuldigte, er hätte ihr unreife Bananen verkauft.“
Walter seufzte. „Hast du schon mal über ein Pflegeheim für die Tante nachgedacht?“, erkundigte er sich.
„In dieser Familie wird niemand abgeschoben, hörst du?“, antwortete Mutter eisig.
„Ich denke nur an die Belastung, die Tante Hildegard auch für dich darstellt.“ Walter bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst sachlichen Klang zu geben.
„Das ist gar nichts im Vergleich dazu, wie mich deine seltsamen Weibergeschichten belasten. Und trotzdem käme ich nie auf den Gedanken, dich kastrieren zu lassen.“
„Fein, fein“, meinte Walter, der es plötzlich eilig hatte. „Ich werd’ mich dann auch mal auf den Weg machen.“
„Tu das, mein Sensibelchen. Sehen wir uns nächsten Samstag wieder?“
„Ja klar“, antwortete Walter, „um nichts in der Welt würde ich mir diese Erbaulichkeit entgehen lassen.“
„Wie schön. Und eine Bitte hätte ich noch. Vergiss nicht wieder den Duden!“

 

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