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Wachzustand

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24.04.2003
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Wachzustand

Manchmal lebt Jan in einer Traumwelt.
Doch meistens ist er hier.

Jetzt gerade starrt Jan in die Leere. Dorthin, wo eigentlich die weiße Wand ist. Er starrt also nicht wirklich in die Leere, aber dort, wo eigentlich die weiße Wand ist, da ist für Jan im Moment die Leere, in der er sich verlieren kann, um vielleicht ein Stück am Piano zu spielen.
Nun träumt er kurz, und ein unsichtbares Publikum lauscht andächtig seiner Musik.
Beinahe ist Jan im Konzert versunken, als er sich selbst und die Wand plötzlich wiederfindet.
Die Küchenuhr tickt die Zeit in ihre Ordnung, und kurz hält er sie für das Metronom, das jetzt verschwunden ist.
Jan ist im Wachzustand, und wenn er aufsteht, fallen Traumsplitter von seiner Kleidung ab. Manchmal versucht er, sie aufzusammeln. Wie ein Puzzle will er Scherbe für Scherbe in das große Bild einsetzen.
Aber wer zerbrochene Träume reparieren möchte, muss die verlorenen und beschädigten Teile durch Stücke seiner selbst ersetzen.
Und das kann Jan nicht länger. Daher liegen inzwischen viele zerbrochene Träume auf den Fliesen dieser Küche.
Wollte man sie wegfegen, benötigte man so etwas wie einen Gedankenbesen.

Er betrachtet das Photo. Fingerabdrücke sind darauf zu erkennen. So zahlreich, dass sie das Motiv in den Hintergrund drängen. Würde man das Bild einem Fremden zeigen, dann wäre dessen Meinung dazu sicherlich, dass das Motiv im Grunde bloß noch als Hintergrund zu erkennen sei, was aber auch überhaupt nicht weiter wichtig wäre, weil da so viele Fingerabdrücke sind, dass das Photo auch ohne jegliches Motiv von außerordentlicher Wichtigkeit sei, wenn jemand es so oft in die Hand genommen und so unerhört viele Fingerabdrücke darauf hinterlassen hätte.

Ein Lächeln huscht über Jans Lippen und er erinnert sich an den Traum mit dem Piano.
In seiner Erinnerung ist er der kleine Junge am Klavier. Ob es wahr ist, das hat er längst vergessen.

Im Hausflur greift er nach Jacke und Wohnungsschlüssel. Seine Schicht beginnt um Mitternacht.

Auf dem Weg nach unten stellt Jan sich vor, wie das Publikum im Saal auf ihn wartet.

 

Hallo Cerberus81

Manchmal lebt Jan in einer Traumwelt.
Doch meistens ist er hier.

Mit diesem Einstieg verstärktest du den Titel noch, der mir schon wie ein Lockmittel wirkte.

aber dort, wo eigentlich die weiße Wand ist, da ist für Jan im Moment die Leere, in der er sich verlieren kann, um vielleicht ein Stück am Piano zu spielen.

Damit stand ich schon auch mitten im Konzert, es war mir klar, was ablief, aber fand es faszinierend.

Wenn Jan nach solchen Träumen von dem Stuhl aufsteht, dann ist ihm immer, als fielen ihre Splitter von seiner Kleidung ab.

Dies war die einzige Stelle, an der ich stolperte, d. h. zweimal las. Es war mir sofort bewusst, dass die Splitter die zerborstenen Träume sind, doch war mir die Stelle im Text weder präzis noch nebulös. Vielleicht würde dies sich durch Traumsplitter konkretisieren, Besseres fällt mir nicht ein. Aber eigentlich möchte ich auch nicht in deine Intentionen eingreifen, oder du erkennst da noch eine treffende Wendung.

Er betrachtet das Photo. Fingerabdrücke sind darauf zu erkennen.

Dies kam mir beim Lesen dann etwas wie ein Anhängsel vor, da der Text nicht andeutete, was es darstellt. Erst im nächsten Absatz wurde der analytischen Neugier – die zwischen einem nymphenhaften Geschöpf und einem Piano schwankte -, ein Stichwort hingeworfen, dass es tendenziell vom Vorurteil des Anhängsels befreien könnte.

Seine Schicht beginnt um Mitternacht.

Ideal, um seine Tagträume pflegen zu können.

Eigenwillig, abstrakt, beinah poetisch, kurz und bündig. Hat mir in dieser Ausgestaltung gut gefallen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon.

Erst einmal danke für deinen Kommentar. Bei der von dir angesprochenen Stelle stolper ich auch jedesmal. Seltsam eigentlich, weil der Bezug ja - wie du selbst sagst - klar ist.
Der Absatz mit dem Photo ist wohl wirklich eher ein Anhängsel geworden, aber so lange es nicht störend wirkt, würde ich es gerne so lassen.
Naja, ist nicht mehr als eine kleine Fingerübung. Freut mich, wenn es dir gefallen hat.

Gruß

Cerberus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Cerberus,

das ist nur eine kleine Kommentierübung, aber diese Stelle

Wenn Jan nach solchen Träumen von dem Stuhl aufsteht, dann ist ihm immer, als fielen ihre Splitter von seiner Kleidung ab.
könntest Du gut entholpern, wenn Du den Stuhl weglässt. Da ist ja vorher auch kein Stuhl. Und warum ist ihm nur so? Laß es doch so sein. Zu irgendwas muß Fiktion doch taugen!
Stünde da: Wenn Jan aufsteht, fallen Traumsplitter (die Splitter seiner/der/dieser Träume) aus seiner Kleidung/von seiner Kleidung ab, dann wär das viel greifbarer. Ich hätte nichtmal ein Problem mit Splittern, die er vom Pulli auf die Fliesen fallen hört oder von der Hose abklopfen muß. :shy:

Lieben Gruß,
Makita.

 

Hallo Makita.

Danke für den Tipp! Ich habe die Stelle geändert. Liest es sich so besser?

 

Ja, liest es sich. :)
Aber ich hätte noch eine kleine Nörgelübung: Das da

kurz hält er sie für das Metronom, das jetzt verschwunden ist.
ist kraus, denn seit wann gibt's ein Metronom im Konzert? Ich meine: Selbst der seltsamste Träumer würde sich doch eher ein Bondgirl oder einen Teleporter als ein Metronom dazuträumen, wenn er im Traum auf einer Bühne spielt. Da würd ich mir was Besseres einfallen lassen: Der Zeiger ist der Taktstock des Dirigenten (geht halt auch nur, wenn da noch Orchester wär), meinetwegen hört er das Metrum noch, den Taktschlag, aber ein Metronom gibts nur beim Üben.

Und hier

Wie ein Puzzle will er Scherbe für Scherbe in das große Bild einsetzen.
Ein Puzzle setzt man nicht ein, sondern höchstens Puzzleteile. Wie bei einem Puzzle ginge auch noch.
Hier
Wollte man sie wegfegen, benötigte man so etwas wie einen Gedankenbesen.
Wie auch immer der aussehen möge.
könntest Du schön beim Sein-statt-Schein bleiben und schreiben: Mit einem Gedankenbesen könnte er sie wegfegen. Dann weiß man doch sofort, wie der aussieht. :D
oft in die Hand genommen, und so unerhört viele
Ohne den Gesamtsatz in seiner Gesamtlänge zu kritisch zu betrachten, kann ich Dir immerhin dieses Komma versauen. Es ist nämlich falsch und muß weg.

Allzeit freien Himmel!

 

Schöne

kleine Fingerübung,

lieber Cerberus!,

und wieder hätt' ich's mit dem eigentlich entbehrlichen eigentlich, das zudem noch durchs floskelhafte wirklich ergänzt wird. Verlöre der Satz

Dorthin, wo eigentlich die weiße Wand ist
inhaltlich ohne Floskel
Dorthin, wo ... die weiße Wand ist,
so bietet sich doch der Konjunktiv an - einem Träumer kein besonderes Kunststück, das eh kurz angewendet wird!

Gern gelesen vom

Friedel

 

Hallo Cerberus,

klein und kompakt und wenig Angriffsfläche :)
Die individuelle Erzählart ist erfrischend und stimmig. Zum Charakter bekommen wir nicht mehr als ein paar Pinselstriche, was in diesem Fall aber gewollt ist und nicht mit nichts sagenden Lückenfüllern ausgestopft ist.

Die Metapher mit den Scherben ist der Kern deiner Geschichte, aber ich finde die Ausführung bis hin zum Besen einfach zu viel. Natürlich kann man die Träume verdinglichen und weil aus etwas Abstraktem etwas Greifbares geworden ist, kann man jede Menge dazu-metaphern. Aber ich denke man sollte Maß halten. Der Leser versteht was du meinst und denkt selber weiter. Stellt sich im Idealfall die Scherben auf dem Boden vor und all die Dinge, die man mit Scherben so macht. Darüber laufen, sich darin spiegeln oder eben zusammenfegen.
"Lass dem Leser da etwas Spielraum" wäre mein Fazit.

Grüße,

nikonotiz

 

Guten Abend Cerberus81!
Wunderschöne Geschichte, lyrisch verträumt und mit dem richtigen Schuss Melancholie! Meine Gutenachtgeschichte für Heute.
Gesegnete Weihnachtszeit wünscht Dir Damaris

 

Hallo zusammen!

@Makita

Na gut, die Sache mit dem Metronom ist nun nicht super schlüssig, gefiel mir als Bild aber ganz gut, daher möchte ich das gerne so lassen. Bei der Sache mit dem Puzzle bin ich mir auch nicht sicher. Eigentlich hast du recht, aber wenn ich das umschreiben würde, käme mir der Satz irgendwie überladen vor.
Aber das Komma hab ich entfernt :P

@Friedrichard

Hm, das "eigentlich" wäre entbehrlich, das stimmt schon. Aber ich habe es ja gezielt eingesetzt, um zu zeigen, dass die Wand zwar eigentlich da ist, für Jan aber nicht sichtbar ist.

@nikonotiz

Da muss ich dir leider zustimmen. Manchmal trage ich etwas zu dick auf. Nun weiß ich aber nicht, ob ich den ohnehin schon kurzen Text noch kürzer machen sollte.

@Damaris

Vielen Dank für die netten Worte :)

Und dann nochmal euch allen danke für eure Kommentare!

Grüße

Cerberus

 

Ich hoffe, du willst nicht noch mehr nette Worte!

Hallo Cerb!

Von mir kriegst du nämlich erstmal eine dicke Kopfnuss!
Vielleicht sollten wir uns freuen, dass der Cerberus hier mal eine Story ausgeschrieben hat, ja ja. Aber der Text ist recht kurz und je kürzer der Text, desto mehr Arbeit sollte drin stecken.

Du hast dich hingesetzt und geschrieben, du hast kaum, wenn überhaupt, überarbeitet. Das sage ich mal einfach so.
Fingerübung!

Andere wären froh, wenn sie nach Überarbeitung sowas zustande brächten. Du solltest dich mit deinen Texten mehr beschäftigen!

Passagenweise hat mir das Stück gefallen, allerdings so, wie ein Diamant, der - ja ja - den Schliff verlangt. Ich bin sicher, sowas

Wollte man sie wegfegen, benötigte man so etwas wie einen Gedankenbesen.
Wie auch immer der aussehen möge.

würde dann nicht mehr stehen. Ist nämlich überflüssig, liest sich schlüssig und besser ohne.

Dann sind da noch die vielen Gedanken, da muss ich nikonotiz Recht geben, du trägst dick auf. Bilder und Gedanken sind einer Story würdig, die erheblich länger wäre.
Nimm ein zwei Gedanken raus - die zerbrochenen Träume und den Gedankenbesen fand ich Klasse - und konzentrier dich drauf, arbeite sie aus.

Na ja, muss ich noch erwähnen, dass ich das Stück gern gelesen habe?
Schon um der alten Zeiten Willen.
Und um die in den Hintern zu treten.

:D

Schöne Grüße von meiner Seite!

 

Hallo Hanniball.
Entschuldige bitte die späte Antwort. Es war in den letzten Wochen aufgrund der Feiertage alles etwas stressig, und ich habs vor mir hergeschoben.

Ich hoffe, du willst nicht noch mehr nette Worte!

Ich hatte das befürchtet. Naja, du bist im Laufe der Jahre ohnehin zu so einer Art Mentor für mich geworden, und ich wäre eher schockiert gewesen, wenn ich von dir nur nette Worte bekommen hätte. :D

Die Sache mit dem zu dick auftragen ... stimmt ja.

Ich streiche jetzt einfach mal das "Wie auch immer der aussehen möge", hantiere ansonsten aber nicht mehr großartig an dem Text herum, weil er eh schon ziemlich kurz ist, und ich mir nicht sicher bin, ob ich da nicht nachher noch etwas verschlimmbessere. Allerdings hatte ich ihn schon noch Korrekturgelesen und einige Stellen verändert, bevor ich gepostet habe.
Aber ich gebe dir insgesamt recht. Es ist halt eine Fingerübung, und über dieses Level sollte ich dringend mal wieder hinauskommen.

Viele Grüße

Cerberus

 

Hallo Cerberus81,

die Geschichte ist ganz in Ordnung, bildhaft schreiben bietet sich für solch einen Inhalt an, der Schluss ist punktgenau gesetzt.

Der Protagonist wirkt wehmütig, an sich hat mir der Schreibstil gefallen.
Problematisch bei solchen Texten ist leider der Abnutzungsgrad, den die Bildhaftigkeit erleidet: Leere, Träume, tickende Uhr, Splitter, ein (altes) Photo (vergilbt, zerrissen – bei dir voll Fingerabdrücke), ein kleiner Junge. Man soll neuen Wein nicht in alte Schläuche gießen, aber so kam es mir zum Teil vor, den „Gedankenbesen“ fand ich frisch und gelungen.


Tschüß …

Woltochinon

 

Hallo Cerberus81,

die kleine Geschichte habe ich gerne gelesen.
Es ist eine kurze Momentaufnahme; ein einzelnes Bild.

Besonders schön und poetisch fand ich:

Die Küchenuhr tickt die Zeit in ihre Ordnung

Und der "Gedankenbesen" hat mir auch gefallen.

Gruß
Malina

 

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