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Wärmer als vieles
Vermutlich sind es bloß Sekunden.
Sekunden, in denen die tanzenden Körper stocken.
Der Bass verebbt zu einem dumpfen Pochen.
Für alle anderen ein Wimpernschlag.
Für die Frau im roten Kleid hält die Zeit inne.
Weiches Laternenlicht auf Kopfsteinpflaster. Wärme strahlt von gewölbten Steinen.
Der DJ hat das Pult und die Boxen nach draußen getragen. Er wirft die Arme in die Luft, stampft zum Sound von 90er-Jahre-Trash. Lacht und singt so laut, dass er sie mit sich reißt. Menschen, die eben noch am Geländer gelehnt und die funkelnden Lichter im Hafen beobachtet haben, ins Gespräch vertieft mit ihrem Gegenüber. Nun feiern sie, jubeln und atmen zum gleichen Beat.
Die Frau steht am Rand, nippt am Drink, wippt mit dem Fuß im Takt. Ihr Blick gleitet durch die Menge, vorbei an Sommerkleidern, nackter Haut, schwitzenden Gesichtern. Die Luft flimmert. Salzkristalle wie glitzernder Staub.
Da sieht sie ihn.
Und er sieht sie.
Vermutlich sind es bloß Sekunden.
Sekunden, in denen Feuerwerksraketen über ihrem Kopf in den Himmel schießen. Sie explodieren in grellen Farben, tauchen die Szene in blau, rot und grün. An den Rändern zerfasert das Bild.
Wenn sie solche Vergleiche in Büchern liest, verdreht sie die Augen.
Über ihnen der Mond, unter ihnen das Meer.
Sie sitzen auf einem Felsvorsprung, trinken Wein, der viel zu süß ist.
Sein Lächeln ist warm. Wärmer als vieles in den letzten Jahren.
Er sagt, sein Lieblingsfilm sei La Tortue Rouge, irgendwie bringe der ihn zur Ruhe. Sie sagt, ihrer sei La Haine, irgendwie rüttle der sie auf.
Mit jedem Schluck sinken die Fragen tiefer.
Woher kommt er, der Schmerz in deinem Blick? Woher das Leuchten?
Sie erzählen sich Dinge, für die es noch zu früh ist. Die sie bei einem ersten Treffen nie erzählt haben. Weil man das nicht macht.
Hier ist es richtig. Womöglich ist es das sogar immer.
Er spricht von der Zerrissenheit zwischen Frankreich und Guadeloupe. Wie er mit seiner Mutter durch Lyons Altstadt spaziert, die Gassen vertraut und doch fremd. Wie er seinen Vater an den Hafen von Port-Louis begleitet, ihm beim Malen zusieht und sich fragt, wer dieser Mann eigentlich ist. Wo Zuhause ist. Dass er deshalb umherreist, seit er 19 ist. Auf der Suche nach dem richtigen Ort. Dass diese Insel vielleicht dieser Ort ist. Er sagt, er sei glücklich. So was hat sie lange von niemandem mehr gehört.
Das hier ist flüchtig.
Morgennebel.
Und doch.
Sie vertraut ihm an, dass sie oft glaubt, sie sei kompliziert. Weil Menschen ihr das gesagt haben. Mal ist sie zu viel, mal zu wenig. Aber jetzt, hier, in diesem Moment, in diesem winzigen Fetzen Leben, in dem er sie sieht, sie einfach nur sieht, da weiß sie, dass das gar nicht wahr ist.
Wellen krachen gegen den Felsen. Werden zurückgesogen ins Meer, bevor sie wieder ans schroffe Gestein klatschen.
Rauschen breitet sich in ihr aus.
Das hier ist flüchtig.
Echt.