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Vorhölle

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01.01.2010
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Vorhölle

Immer wieder schlägt die Anwältin ihren Kopf gegen die Wand.
Ich kauere auf meinem Stuhl und beobachte sie. Jeder Aufprall tönt dumpf, überhaupt klingt alles seit zwei Tagen tonlos. Seltsam, wie sich die Sinne verändern.
Die Kopfstöße der Anwältin sind nicht hart genug für ernste Verletzungen, deshalb schreitet der Professor nicht ein. Ich frage mich, ob sie sich gleichmäßig bewegt und überprüfe das. An der Wand hängt eine Uhr, eine von den alten, deren großer Zeiger mit jeder Bewegung klackt. Ich habe eine Strichliste angelegt, um die Minuten zu zählen. Jedes Klacken führt zu einem Strich, fünf Striche bilden ein Gatter, zwölf Gatter eine Zeile, und nach zwölf Zeilen ist eine Seite gefüllt. Ich habe keine Minute verpasst und sieben Seiten voller Striche.
Insgesamt sind wir fünf. Bevor das Sterben begann, kannte keiner den anderen.
Die Kopfstöße der Anwältin erfolgen unregelmäßig.
Wir befinden uns in einem Einkaufszentrum, genauer gesagt im Aufenthaltsraum für Mitarbeiter der Elektronikabteilung und sind im Augenblick zu dritt. Der Professor sitzt an einem Funkgerät und wechselt Kanäle, auf denen niemand mehr sendet. Die Fernseh- und Radioprogramme fielen zuerst aus, kurze Zeit später die Internetverbindungen, anschließend der Strom. Der Professor hat ein spitzes Kinn – ich glaube nicht, dass ich ihm unter normalen Umständen trauen würde. Aber er klingt, als hätte er einen Plan, und im Notfall hören wir Menschen auf den mit dem Plan. Seine fünf Regeln prangen wie die Gesetze der Animal Farm an der Wand. Er sagt, wenn wir diese Regeln befolgen, überleben wir.
Der Pilot und die Tänzerin sind nebenan in einer Art Ruheraum; dort steht ein Bett. Alle vier bis sechs Stunden gehen sie dahin. Auch dafür habe ich eine Strichliste, hauptsächlich, weil mich das Zählen beschäftigt. Das Stöhnen der beiden dringt zu uns; es klingt immer mehr, als würden hungrige Wölfe um Futter kämpfen. Jeder hat seine Art, mit der Situation umzugehen.
Die Anwältin hat sich beruhigt. Sie befolgt die vierte Regel am häufigsten von uns – seit wir hier sind, war sie über dreißig Mal duschen. Gemäß zweiter Regel dürfen wir uns nicht zu sehr aufteilen. Am riskantesten ist die Benutzung der Toilette, deshalb gehen der Pilot und die Tänzerin auch dort zusammen hin. Wir anderen sind noch zu stolz dafür.
Jeder hat seine Art zu überleben.
Ich führe Listen und schreibe.
Worüber ich schweigen werde: meine Frau. Ihr Name war Rebecca. Mehr werde ich über sie nicht erzählen.

„Was schreiben Sie da die ganze Zeit?“
Die Anwältin will reden. Ihr vom Duschen aufgequollenes Gesicht schwebt wie ein Lampion vor meinem, ihre Haut wirkt im grellen Licht durchsichtig. Die letzte Regel befiehlt, den Raum maximal zu erhellen.
„Sind wohl Schriftsteller, hm?“ Sie trinkt mit Guarana-Pulver versetztes Wasser und raucht Kette. Der Bluterguss auf ihrer Stirn erinnert an einen untergründigen Vulkan.
Die Uhr klackt, und ich mache einen Strich.
„Und was sollen die ganzen Listen?“
Geplatzte Adern quellen durch das Weiß ihrer Augen, bilden rote Flüsse und münden in den Pupillen.
„Mein Mann hat auch geschrieben. War so’n Horrorfan. Hat ständig diese Romero-Filme geschaut und so. Kennen Sie die?“
Sie langweilt mich, und als Ablenkung zähle ich die doppelten Konsonanten ihrer Wörter.
„Er war Lehrer, hat aber von einer Karriere als Autor geträumt. Also hat er ein Buch geschrieben, über sechs Jahre lang. Hat es an Verlage geschickt, Absagen bekommen und umgeschrieben. Und so weiter. Sechs Jahre, immer dasselbe Buch, können Sie sich das vorstellen?“
Meine Augen ruhen auf ihren Lippen.
„Es hieß Fasten und war scheußlich. Es ging um vier Menschen, die sechzig Tage in einem Raum verbringen müssen und nichts zu essen kriegen. Jeder hat ein Skalpell, und das einzige, was sie essen dürfen, sind ihre Körperteile. Aber niemand darf die eigenen essen. Diese vier Menschen können nur überleben, wenn sie sich gegenseitig mit Teilen ihres Körpers füttern. Was halten Sie davon?“
Ich sage nichts, denke dreizehn und zähle weiter.
„Jeder hat ihm gesagt, was das für ein Schund ist, aber er wollt’s nicht einsehen. Hat ständig von der psychologischen Komponente geredet. Es geht nicht um Blut, hat er gesagt. Es geht darum, dass diese Menschen in etwas festsitzen, was der Psychologe Doppelbindung nennt. Wenn man überleben will, braucht man die anderen – aber wenn die überleben sollen, stirbt man selbst. Das macht einen wahnsinnig, hat mein Mann gesagt, und man wird verrückt, lange bevor man verhungert oder verblutet.“
Sie bläst Rauchschwaden in die Luft. Ich bin mit dem Zählen durcheinandergekommen.
„Was ist aus ihm geworden?“, will der Professor wissen.
„Aus wem?“
„Ihrem Mann. Was ist mit ihm passiert?“
Die Anwältin lacht oder hustet. Fährt sich mit der Hand durchs splissige Haar. „Wir werden krepieren. Jeder von uns. Die da drüben können ficken, bis sie schwarz werden, aber auch sie gehen drauf.“
Der Professor schüttelt den Kopf, murmelt von seinen Regeln.
„Das hier“, sagt die Anwältin. „Das kann keiner überleben.“ Sie klingt heiser. „Wir verrecken hier, alle zusammen.“
Der Minutenzeiger klackt. Nächster Strich. Mich beschleicht der Verdacht, einen vergessen zu haben, und das finde ich beunruhigender als alles andere.

Der Pilot hat einen Entschluss gefasst.
„Wir verschwinden, sie und ich.“ Er nickt in Richtung der Tänzerin, hält ihre Hand, die wie eine Klaue aussieht. In den letzten beiden Tagen ist diese Frau um Jahre gealtert, ist vertrocknet, vielleicht wegen der vielen vergossenen Tränen. „Wer mitkommen will, kann das ja tun.“
„Lassen Sie das“, sagt der Professor. „Sie bleiben hier. Wir können nur gemeinsam überleben.“
„Bringt doch nix. Wir wollen probieren, andere Menschen zu treffen. Vielleicht ist ja jemand dabei, der weiß, wie –“
„Andere Menschen?“ Der Professor springt auf, Speicheltropfen sprenkeln den Tisch vor ihm. „Wie denn? Draußen, in den Straßen? Niemand, der bei Verstand ist, verschwendet unnötig Kraft. Wenn was passiert, erfahren wir es hier drin zuerst. Wir haben CB-Funk. Einen Computer. Fernsehen.“
„Ist doch alles tot. Kapieren Sie nicht, dass das ein Wettkampf gegen die Zeit ist? Den können wir nur verlieren.“
„Meine Worte“, sagt die Anwältin. „Auf den Trichter bin ich schon vor Stunden gekommen.“
Die Tänzerin schwankt, und bevor sie umkippt, drückt sie der Pilot an sich.
Der Professor schüttelt den Kopf, und ich frage mich, worum es ihm geht. Vielleicht steht er auf die Tänzerin und ärgert sich, dass ihm die Idee mit dem Nebenzimmer nicht als sechste Regel eingefallen ist. Viel Licht, duschen, zusammenbleiben. Das waren die Vorschläge dieses Theoretikers, der Pilot war da pragmatischer. Und so schnell, wie die Tänzerin mitgemacht hat, ist ihre Berufsbezeichnung höchstwahrscheinlich ein Euphemismus.
„Wenn Sie da rausgehen, sind Sie allein. Und vermutlich in ein paar Stunden tot.“
„Hör nicht auf ihn“, sagt die Tänzerin, die vor Erschöpfung in abgehackten Sätzen spricht. „Er hat schon vor zwei Tagen gesagt. Dass Hilfe kommt. Lass uns abhauen.“
Der Pilot blickt zwischen der Tänzerin und dem Professor hin und her, fährt mit der Hand über sein zerknittertes Gesicht, schlottert – eine Nebenwirkung des Ephedrins. „Herrgott, ich weiß doch auch nicht. Mir platzt gleich der Schädel.“
„Hören Sie“, sagt der Professor, „ich weiß, was Sie meinen. Und Sie haben recht. Wir können so nicht ewig weitermachen. Wenn es so weitergeht, halten wir keine zwei Tage mehr durch. Aber es gibt eine Möglichkeit, wie wir unsere Zeit verlängern können.“
Es ist anstrengend, gleichzeitig der Unterhaltung und dem Minutenzeiger zu folgen.
„Mir ist das gestern eingefallen. Und ich hätte es früher vorgeschlagen, wenn der Plan nicht einen großen Nachteil hätte.“
„Und der wäre?“, fragt der Pilot.
„Dass wahrscheinlich einer von uns dabei sterben wird.“
Die Anwältin pfeift durch die Zähne. „Schlau“, sagt sie.
„Was meinen Sie?“, wiederholt der Pilot, wütend wie ein Schüler, der an der Division scheitert.
„Er meint“, sagt die Anwältin, „wir sollen schlafen.“
Kurze Stille. Das verbotene Wort ist gefallen.
Die Tänzerin reißt ihre Augen auf, abgelagerter Schleim zieht Fäden vor ihren Pupillen. „Nein. Bitte nicht. Haben Sie gesehen. Was passiert. Wenn sie schlafen?“
Der Professor nickt. „Ich weiß, was passiert. Meine Idee –“
Der Körper der Tänzerin bebt, sie reißt sich vom Piloten los. „Haben Sie es. Gesehen?“
„Hören Sie mir doch zu. Meine Idee ist, dass wir nur für kurze Zeit schlafen. Ein paar Minuten. Das machen wir abwechselnd, immer länger. Und so finden wir raus, wie lange es geht, bis – bis – nun, bis –“
„Nein.“ Die Tänzerin kotzt dem Professor die Worte ins Gesicht. „Niemals. Niemals.“
„Und wenn wir das wissen?“, will der Pilot wissen.
Der Professor zuckt mit den Schultern. „Dann kennen die Übrigen die Grenze, bis zu der Schlaf möglich ist. Wir müssen das versuchen, wenn keine Hilfe kommt. Wir können ja nicht ewig wach bleiben.“
Bis auf das Schluchzen der Tänzerin wird es still, und ich schaue in alle vier Gesichter.
Papieren, sumpfig. Wie aufgeweichte Masken.

Der Professor schreibt Zahlen von 1 bis 5 auf Zettel, faltet sie identisch zusammen und legt sie vor sich auf den Tisch. „So ist es fair. Die Nummern sind die Reihenfolge, in der wir schlafen. Nummer 1 fängt an, und so weiter. Es sei denn, jemand möchte freiwillig beginnen.“
Keine Wortmeldung. Der Kopf der Tänzerin pendelt hin und her, sie flüstert Unverständliches.
„Ich schlage vor, wir arbeiten uns in Schritten von fünfzehn Minuten vorwärts. Weniger ist sinnlos. Wenn alles gut geht, haben wir am Ende fünfundsiebzig Minuten geschafft. Das rettet unsere Leben.“
Weder seine Stimme noch seine Körpersprache strahlen Zuversicht aus. Er fällt immer mehr in sich zusammen, steht und sitzt mit jeder Stunde buckliger. Vermutlich weiß er, dass wir den Versuch nach der Nummer 1 abbrechen werden.
„Also, was ist? Ich weiß nicht, was wir sonst tun sollen. Wenn jemand eine bessere Idee hat, wäre jetzt der passende Moment dafür.“
„Ich mach da nicht mit“, sagt die Tänzerin, die Haut weiß, den Blick auf den Fußboden gerichtet. „Ich werd nicht schlafen. Nicht eine Sekunde.“
Der Pilot legt einen Arm um ihre Schulter. „Lass es uns versuchen, ja? Früher oder später schlafen wir eh ein, also lass es uns kontrolliert machen. Vielleicht hat er recht. Vielleicht dürfen wir einfach nicht zu lange schlafen.“
Die Tänzerin weint. „Ich kann nicht mehr. Versteh das halt. Ich kann. Nicht mehr.“
„Letale familiäre Insomnie“, sagt die Anwältin. „Kennen Sie das? Die Betroffenen erreichen die Tiefschlafphase nicht mehr. Anfangs sind sie nur müde. Können sich nicht mehr richtig konzentrieren. Schon einfache Handgriffe machen Probleme. Ähnlich wie bei uns jetzt. Mit der Zeit kommen Halluzinationen dazu. Die Betroffenen denken, sie würden träumen, dabei sind sie hellwach. Irgendwann können sie gar nicht mehr schlafen. Sie krampfen. Machen sich in die Hose und so. Am Ende fallen sie in ein Koma, und das war’s.“
„Woher wissen Sie das alles?“, fragt der Pilot und wird ignoriert.
„Es dauert ein Jahr oder so. Heilung gibt’s keine. Wenn wir nicht wenigstens einen leichten Schlaf kriegen, werden wir denselben Verlauf in sieben Tagen durchmachen. Wollen Sie das? Wenn die ersten Halluzinationen kommen, ist es zu spät. Dann können Sie nichts mehr frei entscheiden.“
Die Tänzerin hat ihre Kopfschwingungen eingestellt und blickt die Anwältin stumm an.
Der Professor nimmt die Zettel in die Hand. „Ich stimme dem zu. Jetzt haben wir noch die Wahl. Es wäre fahrlässig, die nicht zu nutzen.“
Er hält mir die gefalteten Zettel unter die Nase. „Ziehen Sie.“
Ohne zu zögern greife ich in seine Hand. In meinem Kopf ertönt ein Sirren, und drei neugierige Augenpaare sowie meins schauen auf den auseinandergefalteten Zettel. Er zeigt die 4.
Die Anwältin zieht als Nächste.
Um mich abzulenken, multipliziere ich vier wieder und wieder mit sich selbst.
Die Anwältin stöhnt, während Zahlen mein Bewusstsein fluten. Auf ihrem Zettel steht die 3.
„Jetzt Sie“, sagt der Professor und hält der Tänzerin die Zettel hin. Sie weicht zurück, dreht sich weg wie ein Kind, das nicht essen will.
„Ich ziehe“, sagt der Pilot. Seine Hände zittern, er bekommt den Zettel kaum auseinander. „Zwei“, ruft er, als ich bei der ersten fünfstelligen Zahl ankomme, deren Multiplikation mit vier mich vielleicht überfordert. Ich kann nicht sagen, ob der Pilot erleichtert oder ängstlich klingt.
„Und jetzt Sie“, wiederholt der Professor zur Tänzerin. In seiner offenen Hand liegen noch zwei Zettel. Einer davon ist das große Los.
Die Zahlen in meinem Kopf fallen in ihre Ziffern auseinander. Mir wird schwindlig.
„Nein.“
„Ziehen Sie! Wir haben gemeinsam entschieden. Keiner drückt sich.“
Sie schüttelt den Kopf. Ich frage mich, wie aus diesen kleinen Augen so viele Tränen fließen können. „Bitte.“ Sie blickt uns reihum an, am Ende den Piloten, doch niemand kann ihr helfen. Niemand will es.
„Gut, dann eben so“, sagt der Professor und wirft ihr einen Zettel in den Schoß. Er öffnet den eigenen, betrachtet ihn lange und zeigt ihn in die Runde: 5.
Die Tänzerin springt von ihrem Stuhl auf, der ungeöffnete Zettel fällt auf den Boden. „Nein“, schreit sie. „Das ist – das ist Betrug. Ich wollte den nicht.“
„Ich hab Sie zweimal gefragt, und Sie wollten nicht ziehen. Jetzt ist entschieden. Sie fangen an.“
„Nein! Das war Absicht! Das war Absicht! Damit Sie als Letzter dran sind.“
Sie legt beide Arme an den Körper, geht in die Hocke und brüllt. Ihr Gesicht läuft dunkelrot an, der Schrei wird wie ein Querschläger von den Wänden zurückgeworfen. Die Anwältin hält sich die Ohren zu, ruft: „Hören Sie auf.“
Stattdessen wird die Tänzerin noch lauter. Der Pilot macht einen Schritt auf sie zu, nennt ihren Namen, und in diesem Moment blitzt ein Gegenstand in ihrer Hand auf. Ich erkenne das Messer erst, als sie es über ihre Kehle zieht und der Schrei in ein Gurgeln übergeht. Blut quillt über ihren Körper. Alle brüllen und taumeln durch den Raum wie Planeten, deren Umlaufbahnen zusammenbrechen, weil ihre Sonne stirbt. Erst als die Tänzerin niedersackt, wirft sich der Pilot auf sie, hält ihren Kopf und weint. Es klingt leise und weit entfernt.
Ich habe das Bild vor Augen, wie er im Nebenzimmer mit ihrem besudelten Körper kopuliert. Eben sind wir Zeugen geworden, wie sich ein Mensch aufschlitzt, um nicht schlafen zu müssen. Wie weit mag dann ein anderer gehen, um wachzubleiben?

Wie ein Leichnam liegt der Pilot auf dem Sofa.
„Ich kann unmöglich einschlafen“, sagt er.
Gemäß meiner Liste ist die Tänzerin seit sieben Stunden und zweiundzwanzig Minuten tot. Es wurde diskutiert, ihre Leiche aus dem Aufenthaltsraum zu schaffen. Als die Anwältin den Einwand brachte, das Blut und sein metallischer Geruch würden davon nicht verschwinden, wurde es für einfacher befunden, dass die Lebenden statt der Toten den Raum wechseln.
Jetzt sind wir in der Leseecke einer Buchhandlung. Ich vermisse das Klacken des Minutenzeigers und muss die Uhr an der Wand noch aufmerksamer beobachten.
„Wie erkennen Sie, ob ich schlafe? Ich meine, braucht man dafür nicht irgendwelche Geräte, die Gehirnströme oder so was messen?“
„Ja“, sagt der Professor. „Nur erstens haben wir solche Geräte nicht hier, und zweitens wüsste auch keiner von uns, wie man die anschließt und auswertet. Wir machen das auf die Hausfrauenart: Ich hebe Ihren Arm in die Luft, wenn er zurückfällt, definieren wir das als Schlaf. Was Besseres weiß ich nicht.“
Durch den Tod der Tänzerin rückte jeder von uns in der Liste um einen Platz nach vorne.
„Eine Viertelstunde, ja? Dann wecken Sie mich auf, versprochen?“
Der Professor nickt. „Natürlich. Wie abgemacht. Wenn wir alle an der Reihe waren, haben wir eine Stunde geschafft. Das reicht. Wenn wir uns abwechseln, kann jeder von uns alle drei Stunden eine Stunde schlafen. Später können auch zwei gleichzeitig schlafen.“
„Warum erst später?“, will die Anwältin wissen.
„Die Regeln gelten erst mal weiterhin. Je größer die Gruppe der Wachen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass einer einschläft.“
„Wir könnten Wecker stellen.“
„Klar. Wenn Sie Ihr Leben einem Wecker anvertrauen wollen.“
Die Anwältin schweigt, und wir warten. Ich spüre, wie meine Gedanken entfliehen. Um mich zu konzentrieren, gehe ich eine alphabetische Liste aller Fremdwörter durch, die mir einfallen.
Absolution. Agitation. Agonie.
Wir stehen vor dem Sofa wie vor dem offenen Sarg einer Aufbahrung.
Erinyen. Euphemismus. Exegese, Exodus.
Gleichzeitig führe ich meine Minutenliste fort, und nach siebzehn Strichen schließt der Pilot erstmals die Augen. Als der Professor drei Striche später den Arm des Piloten hebt, bleibt das Körperteil in der Luft hängen, und der Pilot öffnet die Augen wieder.
Limbus. Linguistik. Liquidierung.
Das Spiel wiederholt sich.
„Warum machen Sie ständig diese Striche?“, fragt mich die Anwältin zwischen Okklusion und Omnipotenz.
Nach dreizehn Gattern – fünfundsechzig Strichen – fällt der Arm des Piloten auf das Sofa zurück.
„Schläft er?“, fragt die Anwältin.
Die geschlossenen Lider des Piloten zucken nicht mehr, er atmet tief.
„Ja“, sagt der Professor. „Halten wir fest: Es ist vier Uhr einunddreißig. Um sechsundvierzig wecken wir ihn auf.“
Wir starren auf den schlafenden Körper; ich bereite mich innerlich auf das vor, was gleich geschehen wird.
Zwei Minuten vergehen.
Niemand spricht ein Wort.
Drei Minuten.
Nach fünf Minuten sagt die Anwältin: „Er schläft wie ein Baby. Das ist gut, oder? Wir wissen, dass fünf Minuten gut sind.“
Der Professor nickt. „Ja. Wahrscheinlich sind auch zehn Minuten gut. Ich vermute, es hängt mit der Schlafphase zusammen.“
„Aber die sind immer unterschiedlich. Man kann nicht sagen, nach wie vielen Minuten welche Phase kommt.“
„Stimmt. Das kann man nicht.“
„Was bringt uns dann die Zeit?“
„Einen Anhaltspunkt. Mehr nicht. Aber je genauer wir diese Zeit kennen, desto besser. Ich schlage vor, wir lassen ihn einfach schlafen, bis wir den genauen Zeitpunkt wissen.“
Die Anwältin versteht erst nach einem Augenblick. „Was? Sie wollen ihn nicht wecken?“
Der Professor schüttelt den Kopf. „Überlegen Sie. Er schläft jetzt. Wir können am meisten von ihm lernen, wenn wir warten, bis es – losgeht.“
„Aber das können wir nicht machen. Wir können ihn nicht einfach sterben lassen.“
„Warum nicht? In den letzten sechs Tagen sind so viele Menschen gestorben. Was macht er für einen Unterschied? Abgesehen davon, dass sein Tod möglicherweise unser Leben rettet?“
„Wir wären dafür verantwortlich. Das ist der Unterschied.“
„Wir waren uns doch einig, dass bei dieser Aktion jemand stirbt, oder? Er -“ hier zeigt der Professor auf den Piloten - „war sich des Risikos bewusst. Wir alle waren das. Und überlegen Sie mal, dass Sie als Nächste dran sind.“
Die Anwältin beißt auf die Unterlippe. „Aber das heißt doch nicht, dass wir ihn jetzt absichtlich ermorden können.“
„Das tun wir nicht.“
„Doch, wenn wir ihn nicht wecken, tun wir genau das.“ Sie blickt mich an. „Was meinen Sie denn dazu? Warum reden Sie die ganze Zeit kein Wort, verdammt noch mal?“
Sechs Minuten.
Der Pilot zuckt, in seinem Gesicht treten Adern hervor.
„Um Himmels willen, es geht los.“
„Warten Sie“, sagt der Professor und packt die Anwältin am Arm. „Das kann nicht sein. Nicht jetzt schon. Das ist zu früh.“
Derartiges habe ich noch nie gesehen: Die Haut des Piloten ergraut, und wäre sein Körper nicht angespannt, könnte man ihn für tot halten. Plötzlich reißt er die Arme hoch, knallt mit dem Rücken auf das Sofa und würgt. Dickflüssiger Saft – Speichel oder Erbrochenes – läuft aus seinem Mund. Er stöhnt durch die zusammengepressten Zähne.
Wir alle weichen zurück, dieses Mal auch ich.
Als aus seinen verkrampften Fäusten Blut tropft, nimmt die Anwältin ein Glas mit Wasser vom Tisch und schüttet den Inhalt in das Gesicht des Piloten. Sofort schlägt er beide Augen auf, blickt um sich wie ein panisches Tier.
„Ganz ruhig“, sagt die Anwältin. „Sie sind wieder wach. Sie sind wieder bei uns. Ganz ruhig.“
Der Pilot richtet sich auf und versucht zu sprechen, rutscht dabei halb vom Sofa. „Die Gräber“, keucht er. „Haben Sie die Gräber gesehen?“
Niemand antwortet.
Dann öffnet er den Mund und beginnt zu schreien.

Der Pilot umkrampft eine dampfende Tasse Kaffee. Seine Haut wirkt runzliger, die Haare grauer, vielleicht täusche ich mich auch. Bedauerlicherweise ist auf mein Kurzzeitgedächtnis kein Verlass mehr. Ich blättere meine Seiten durch, finde aber nirgendwo eine Beschreibung des Piloten.
„Im Traum stand ich auf einem Feld. Es hat geschneit, und überall lag Schnee. So weit ich sehen konnte war alles weiß. Eine Winterlandschaft. Weit und breit kein Baum. Kein Haus.“
Er macht lange Pausen, das ermöglicht mir, seine Erzählung im Wortlaut mitzuschreiben.
„Ich war allein. Nicht nur an dem Ort, sondern allein auf der Welt. Ich war der letzte lebende Mensch.“
Die Anwältin und der Professor sehen verwirrt und erschöpft aus.
„Ich bin über dieses Feld gegangen, ich meine, was macht man, wenn man das Gefühl hat, der Letzte zu sein? Ich weiß nicht, wohin ich wollte. Einfach weg von da. Dann bin ich zu den Gräbern gekommen.“
Pause.
„Es waren vier Kreuze aus Holz, die im Schnee steckten. Ich hab mich noch gefragt, ob die Leichen beerdigt sind, oder ob sie – na ja, nur unter dem Schnee liegen. Erst da hab ich das Schild gesehen. Da standen zwei Wörter drauf: Beweihwassern verboten. Noch nie haben mir zwei Wörter so viel Angst gemacht, und ich weiß nicht, warum, vielleicht wegen dem Gegensatz, das Schild und die Kreuze, ich meine, das passt doch nicht, oder? Mir ist klar geworden, dass vor mir die letzten Menschen begraben liegen, also abgesehen von mir. Und ich hab mich gefragt, ob ich derjenige war, der sie begraben hat. Aber dann hab ich plötzlich – diese Gestalt gesehen.“
Pause. Ich stelle mir vor, wie verschiedene Prominente das Wort beweihwassern aussprechen.
„Es hat ausgesehen wie etwas, das vorgibt, ein Mensch zu sein. Wie irgendein Ding, das sich als Mensch verkleidet und ein schlechtes Kostüm gewählt hat. Sein Gesicht war – irgendwie verrutscht, also die Augen und die Nase waren nicht in der Mitte. Die Arme und Beine waren viel zu lang für den Körper, und die Haut war übersät mit Beulen. Erst dachte ich an eine Krankheit, bis mir klar wurde, dass diese Beulen – dass sie nur die Umrisse von seiner wirklichen Gestalt waren. Unter dem Menschenkostüm. Ist schwer zu beschreiben. Jedenfalls wusste ich, dass es hier nicht her gehört. Also, ich meine nicht nur in meinen Traum, sondern – in meine Vorstellung, meine ich.“
Pause.
„Das Ding hat meinen Namen gesagt. Ich wollte schreien, wegrennen, aber das ging nicht. Und es hat gesagt: 'Sieh genau hin', und dabei auf die Gräber gezeigt. Dann bin ich aufgewacht.“
Nach langem Schweigen sagt der Professor: „Ihnen ist klar, dass das kein Traum gewesen ist. Sie haben fünf Minuten geschlafen, da ist ein solcher Traum unmöglich.“
Der Pilot nickt. „Ist mir klar. Dieses Ding, dieses als Mensch Verkleidete – das hat einen Weg in unseren Kopf gefunden, wenn wir schlafen. Vielleicht ist das eine Erklärung für alles.“
„Wie meinen Sie das?“, fragt die Anwältin. „Es kommt wie Freddy Krueger in den Traum und tötet uns?“
„Wie wer?“ Das kommt vom Professor.
„Nein. Das ist kein Traum. Das Ding will uns bloß – etwas zeigen, aber das kann es nur, wenn wir schlafen. Und was wir gezeigt bekommen, macht uns wahnsinnig und treibt uns direkt zu dem, was wir tun.“
Erneute Stille. „Was zeigt es uns?“, fragt die Anwältin. „Sie wissen das, oder?“
Der Pilot nickt.
„Was ist es?“
Der Pilot kämpft mit sich, versinkt mit den Blicken in der Tasse. Er sagt: „Ich glaube, das Jenseits. Das Ding zeigt uns, wo wir hinkommen, wenn wir sterben. Und den Anblick kann kein Lebender ertragen.“

„Wo waren Sie, als alles anfing?“
Wieder spricht die Anwältin mit mir. Sie hängt in einem der Sessel, die Augen kaum geöffnet. Ich führe meine Liste noch aufmerksamer, mir ist nur die mit den Minuten geblieben. Wir haben die Buchhandlung mit Taschenlampen ausgeleuchtet. Trotzdem ist es düster hier, die Regale werfen lange Schatten. Hin und wieder erspähe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung, aber wenn ich länger auf die Stelle blicke, ist alles ruhig.
Der Professor blättert in einem Buch über Medizin. Er reibt sich ständig die Augen. Mir fällt auf, wie spindeldürr seine Arme geworden sind.
„Ich hab gearbeitet in der Nacht“, sagt die Anwältin. Ihr Blick schwebt an die Decke. „Musste einen Antrag vorbereiten. Ich hab gern nachts gearbeitet. Wenn man alleine ist, seine Ruhe hat. Gegen drei war ich fertig. Ich hab meinen Wecker auf sieben gestellt, ich weiß noch, wie ich mich geärgert hab, dass es bloß vier Stunden Schlaf sind. Bin noch eine Weile wach gelegen, und um kurz vor halb vier sind die Sirenen losgegangen.“
Der Pilot sitzt abseits auf dem Boden. Es ist dunkel da, man kann kaum sein Gesicht erkennen. Er verstößt gegen eine Regel, ich weiß nicht mehr welche, aber solange er sich nicht bewegt, ist er wach. Also am Leben.
„Sie haben nicht mehr aufgehört, das weiß ich noch. Im Gegenteil, es sind mehr geworden. Hab aus dem Fenster geschaut, den Fernseher eingeschaltet. Später konnte man sich zusammenreimen, dass es überall auf der Welt zur selben Zeit begonnen hat. Bei uns war es mitten in der Nacht, was für ein Segen. Ich hab Bilder aus den USA gesehen. Also, nachdem dort bekannt war, was in Europa passiert ist.“
Immer wieder klopft sie mit ihrer Hand auf die Lehne, beide Beine sind vom Restless-Legs-Syndrom befallen.
„Und Sie? Warum haben Sie mitten in der Nacht nicht geschlafen?“
Ich drehe mich weg. Mein Handgelenk schmerzt. Ich suche nach einer Beschäftigung für meinen Verstand, doch mir fällt keine mehr ein.
„Sie sind nicht stumm. Sie können reden, aber Sie tun es nicht. Schreiben Sie auf, warum nicht.“
Es aufschreiben. Warum mir das nicht früher eingefallen ist? Auf der anderen Seite – ich hätte ohnehin nichts zu sagen gehabt.
Ich reiße einen Zettel aus meinem Block, schreibe vier Wörter: Ich habe es versprochen.
Die Anwältin runzelt die Stirn. „Sie haben versprochen, nicht zu reden? Wem denn?“
Neuer Zettel, ein Wort: Rebecca.
„Wer ist das?“
Nein, darüber schreibe ich nicht.
„Und was sollen die ganzen Listen? Warum machen Sie diese Striche?“
Ich überlege einen Moment. Ich könnte schreiben: Weil man das hier nicht als Ganzes ertragen kann. Oder: Ich ertrage diese Hölle nur in Teilen. In ganz kleinen Häppchen. Aber sie würde nicht verstehen. Dazu müsste sie wissen, was mit Rebecca passiert ist.
Ich wünschte, das Gesicht des Piloten sehen zu können. Die Schatten zwischen den Regalen machen mich nervös. Immer wieder ist da ein Huschen, und ich habe das Gefühl, wir sind nicht alleine.
Plötzlich greift die Anwältin mein Handgelenk, rückt mit ihrem Gesicht ganz nah an mich heran. „Ich hab mir überlegt, dass dieses Ding aus dem Traum, wie hat er es genannt, dieses – als Mensch Verkleidete, wenn es uns wirklich das Jenseits zeigt, vielleicht ist das wunderschön? Vielleicht sterben wir nicht, weil wir uns fürchten, sondern weil es zu schön ist? Weil es das Paradies ist?“
Sie sucht Trost in der Vorstellung, zu schlafen.
„Was glauben Sie?“, fragt sie. „Kann das sein?“
Wieder schaue ich zum Piloten. Er lehnt an einem Regal, das Gesicht im Dunkeln, aber der Körperhaltung nach sieht er mich direkt an.
Die Anwältin folgt meinem Blick. „Was ist da?“
Seine linke Hand liegt auf dem Boden neben ihm.
Der Pilot, schreibe ich. Warum starrt er mich an?
Sie rückt von mir ab, öffnet mühsam ihre Lider. Ihr Gesicht zerfließt vor meinen Augen. „Er ist verschwunden. Vor langer Zeit.“
Ich sehe die Finger seiner linken Hand.
„Was immer Sie dort sehen, es ist nicht da.“
Die Finger sind gekrümmt. Sie haben vier Gelenke.
„Gehen Sie hin. Das Trugbild wird sich auflösen.“
Nein. Ich nähere mich nichts mit solchen Fingern.
Ich schließe meine Augen. Öffne sie. Sehe, wie der Professor in seinem Buch blättert und die Anwältin in ihrem Sessel versinkt. Der Körper am Regal ist verschwunden. Ich frage mich, ob ich mir die Bewegungen in den Schatten auch nur einbilde.
„In diesen Zombie-Filmen hat jemand mal gesagt: Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Toten auf die Erde. Ich glaube, wenn wir uns weigern zu schlafen, kommen unsere Albträume in die Wirklichkeit.“
Ich blicke lange an die leere Stelle neben dem Regal. Irgendwann habe ich eine weitere Minute überlebt. Ein neuer Strich als Nachweis für einen überstandenen Abschnitt – zwar nur einen kleinen, dafür einen, den ich ertragen konnte.
Meine Hand zittert. Ich denke an das letzte Mal, als meine Hand zitterte, und denke an Rebecca.

Die Augen der Anwältin fallen zu.
„Was ist die früheste Erinnerung an Ihre Kindheit?“ Sie stellt so viele Fragen.
„Meine ist, wie ich als kleines Mädchen in meinem Bett liege. Meine Mama hat sich immer über mich gebeugt und mir einen Kuss gegeben. Wir hatten ein Ritual. Ich konnte nie schlafen ohne dieses Ritual.“
Der Professor beobachtet sie wie ein Löwe die Antilope an einem Flussufer.
Ich weiß, worauf er wartet.
„Das Ritual ging so: Sie hat mich gefragt: 'Von was träumst du heute Nacht?' Und ich hab immer geantwortet: 'Von der Mama.' Es war eine Kleinigkeit. Ich wollte von ihr träumen, weil ich dann sicher war. Im Schlaf.“
Meine Mutter hat gesagt, man schaut mit den Augen, nicht mit den Händen.
Die Anwältin bleibt still. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Atem geht gleichmäßig.
„Wehe, Sie wecken sie“, sagt der Professor. „Lassen Sie sie schlafen. Wir müssen herausfinden, wie lange es geht. Dann können wir uns abwechseln.“
Ich glaube, er hat den Verstand verloren. Er hat sich zu sehr damit beschäftigt, diese Situation zu überleben anstatt zu akzeptieren. Das galt für alle. Ihr Fehler war, zu weit in die Zukunft zu denken, an die nächsten Tage, die nächsten Wochen – anstatt an die nächste Minute.
Ich kann nicht sagen, wie lange es dauert. Ich bin mit meinen Strichen durcheinander, habe manchmal zehn, manchmal elf Gatter pro Zeile. Ich nehme mir vor, das in Ordnung zu bringen.
Als ich mich frage, ob die Anwältin bei den Gräbern angekommen ist, bäumt sich ihr Körper auf.
„Lassen Sie sie“, schreit der Professor, „ich will sehen, was passiert.“
Ich schreite nicht ein. Nicht, als sie zu schreien beginnt und sich die Haare in Büscheln ausreißt. Nicht, als sie aufspringt und die Augen aufschlägt. Sie wirkt wach, aber ihre Augen sind leer, haben etwas gesehen, das ihren Verstand vernichtet hat, so wie Tageslicht die Aufnahmen von alten Filmen löscht.
Während ihr Kreischen die Welt erfüllt, zerkratzt sie sich das Gesicht. Ein fauliger Gestank zieht durch den Raum, als sie ihren Darm entleert. Dann packt sie ihre Zunge, zieht sie heraus und beißt hinein. Ich kann meinen Blick nicht abwenden, nicht mal, als sie die Zunge abbeißt und wie ein faules Stück Fleisch auf den Boden klatschen lässt.
Der Professor neben mir übergibt sich.
Die Anwältin – das, was von ihr übrig ist, dieser verstümmelte, Blut spuckende Haufen – bohrt sich die Finger in die Augen, und hier höre ich auf. Ich muss nicht schreiben, was anschließend geschieht. Aber sie schreit nicht mehr, das ist vielleicht noch wichtig, jetzt lacht sie, und als sie zusammenbricht, lachend, da überlege ich, ob sie das Paradies gesehen hat.

Meine Mutter hat gesagt, man schaut mit den Augen, nicht mit den Händen.
Ich habe mit meinen Händen nicht nur geschaut, sondern auch gesprochen.
Die Lichter der Taschenlampen werden schwächer.
Ich denke an die Anwältin, aber ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht. Wenn ich daran denke, sehe ich Rebecca, wie sie nach Hause kommt, sehe die Lügen unter ihrem Rouge, rieche den Verrat unter ihrem Parfüm. Alles, was mich an sie denken ließ, war plötzlich vergiftet.
Der Professor hat eine neue Methode entwickelt, um wach zu bleiben. Das sollte ich noch erwähnen, der Vollständigkeit halber. Er hat seine Regeln den dezimierten Empfängern angepasst und aus fünf eine gemacht.
Ich wollte mit Rebecca reden. Normal reden. Ganz vernünftig. Hab auf sie gewartet und mir die Worte zurechtgelegt. Hab alles aufgeschrieben, um nichts zu vergessen. Aber als sie vor mir stand, konnte ich mich nicht erinnern, und sie hat gelacht und –
Schmerzen, hat er gesagt. Der Professor. Das ist seine einzige Regel. Man bleibt wach, wenn man sich Schmerzen zufügt. Er hat fast normal ausgesehen, als er das gesagt hat. Dann hat er einen Hammer geholt.
Als ich vor Rebecca stand und ihr Lachen in meinem leeren Kopf hallte, da war mir klar, wenn ich jetzt nichts sage, verliere ich sie endgültig. Ich musste Worte finden, aber weil meinem Kopf keine einfielen, haben meine Hände gesprochen.
Der Professor hat sich mit dem Hammer die Füße zertrümmert. Immer wieder hat er auf den Spann und die Zehen geschlagen, bis alles blau und blutig war. Gekeucht hat er dabei, nur gekeucht, nicht geschrien.
Ich hab versprochen, nicht mehr zu reden. Als ich vor Rebecca kniete, hab ich versprochen, nie mehr ein Wort zu sagen. Ich schwor – als ich vor ihr kniete, da schwor ich, jede Strafe anzunehmen. Alles würde ich akzeptieren, durch jeden einzelnen der neun Höllenkreise würde ich gehen, wenn ich am Ende wieder mit ihr zusammenträfe.
Kurze Zeit später hörte ich Sirenen.
Es hatte begonnen.

Und hier endet es. Erstmal.
Die Lichter erlöschen, der Vorhang fällt, und ich sehe Bewegungen zwischen den Regalen. Es sind Schatten. Ich höre ihr Flüstern.
Vielleicht war ich es, der alles auslöste, als ich vor Rebecca kniete und um Strafe bettelte. Vielleicht kommen die Schatten, weil ich der Letzte bin, der Schuldige, vielleicht haben sie darauf gelauert. Ich bin als Einziger übrig, seit der Professor in die Dunkelheit gekrochen ist, um Propofol zu suchen.
Vielleicht war dies nur die Vorhölle, der Ort der Unschuldigen. Ich bin bereit, mich von den Schatten an die Hand nehmen und in die inneren Kreise der Verdammten führen zu lassen. Bis in das Innerste der Hölle würde ich schreiten, bußfertig, und vielleicht – nur vielleicht – kann ich aus allem geläutert hervorgehen, vielleicht werden meine Begleiterinnen dann zu Wohlgesinnten und ich sehe Rebecca wieder.
Ich hoffe, dass es so kommt, dass dies nur der Anfang war und nicht das Ende, denn schlimmer als der Tod ist nur der sinnlose Tod. Ich sitze hier, allein, flehe Gott um meine Strafe an und bete, dass ich mir die Schatten nicht nur einbilde. Der als Mensch Verkleidete war die Erklärung des Piloten, die Schatten sind meine – wir werden sehen, wer Recht behält. Ich lege meinen Stift jetzt nieder und warte, wer zuerst kommt: der Schlaf oder die Schatten.
Ich glaube, sie flüstern meinen Namen.
Bei Gott, ich hoffe, sie beeilen sich.

 

Nochmal:
Hey offshore,

für dich ist es kein bisschen verwunderlich, dass sie dasitzen und sich von anderen füttern lassen - und zwar mit Körperteilen. Realistischer (wenn man das in diesem Zusammenhang erstreben kann) wäre doch folgendes Szenario: die Menschen sitzen in diesem Raum und wollen 60 Tage überleben, was ohne Nahrung ziemlich schwer wird. Weil sie nichts zu Essen haben, essen sie sich. Aus irgendeinem Grund dürfen sie nichts von sich selbst essen, okay - so etwas kennen wir ja von SAW oder so. Aber wenn das die Regel ist - nichts von sich selbst - dann lass ich meinen Nachbarn doch meinen Finger abschneiden, ich mach die Augen zu, schau weg, der säbelt meinen Finger ab und isst den dann. Warum sollte ich ihn füttern, wenn ich nicht muss?

Gruß
markus.

 

Okay, irgendwie habe ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen (wurde eben zu oft zitiert), was mich fast ein wenig ärgert

Was ich dann weiter schrieb unter die Kommentarzitate von dir hast du aber schon auch gelesen, oder? Und dann müsstest du auch verstanden haben, dass ich deine Worte nur stellvertretend für viele andere Kommentare verwendet habe, um meinen Unmut über diesen Trend zur Textmaximierung/gleichmacherei/beschleunigung zu illustrieren?
Was soll ich sagen, manchmal vermittelt ihr mir einfach das Gefühl, als wäre Lesen Schwerarbeit für euch, echt.

Verärgern wollte ich dich mitnichten. :(

offshore

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich weiß nicht so recht, lieber Markus, worüber du dir den Kopf zerbrichst.

Zit. Markus

für dich ist es kein bisschen verwunderlich, dass sie dasitzen und sich von anderen füttern lassen

Das wäre in der Tat ausgesprochen verwunderlich für mich, aber irgendwie hab ich das Gefühl, wir reden aneinander vorbei. Du stellst das so dar, als würde uns Schwups diesen Zinnober auftischen, aber zum Henker, Markus, jetzt wiederhole ich mich: Die Anwältin erzählt das, in ihren eigenen Worten! Was hat denn das mit der restlichen Geschichte zu tun? Willst du den Erzählton einer durchgeknallten, dem Tod ins Auge blickenden Frau auf Plausibilität abklopfen? Die quatscht einfach so daher wie ihr der Schnabel gewachsen ist, erzählt vom Buch ihres Mannes, die quasselt sogar in Lebensgefahr noch recht charmant. Und genau das vermittelt uns Schwups ganz hervorragend, finde ich.
Die Anführungszeichen hab ich schon erwähnt, oder?

offshore

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Schwups,

ich finde die Geschichte großartig. Ein toller Spannungsaufbau, den selbst viele Kurzgeschichten in veröffentlichten Büchern von einschlägigen Autoren nicht zu bieten haben.

Natürlich ruft eine KG mit diesem Szenario viele ähnliche Horrorstoffe in Erinnerung, Freddie Krüger zitierst du selbst, und u. a. bieten Die Dämonischen (späterer Remake Die Körperfresser kommen) natürlich Vergleichbares. Aber deine Mixtur stimmt und ich finde sie von Anfang bis Ende ansprechend, kurzweilig und spannend geschrieben.

Die Geschichte hat einen sehr hohen Unterhaltungswert und weist dich als echten Könner aus, sowohl was die Struktur der Story betrifft, die gut durchdacht rüberkommt, als auch deine Art zu formulieren; der Stil ist 100%ig passend, und besonders beeindruckend finde ich den "schweigsamen" Blickwinkel deines Erzählers und die Art, wie du nach und nach seine Geschichte offenbarst, und daraus eine Erklärung für das gesamt Geschehen lieferst.

Hätte ich jemals in meinem Leben einen Hut getragen, jetzt, vor dieser Geschichte und dir als Autor, würde ich ihn ziehen!

Rick

P. S. Ich muss mich ehrlich wundern, dass diese Story noch keine Empfehlung erhielt und werde das mal schnellstens nachholen!

 

Recht hast du daran getan, lieber Rick, die ist sowas von überfällig, die Empfehlung. Ich hab die ganze Zeit schon feige dran rumgenöckert, das zu tun, ich wollt nicht als die Empfehlungstante vom Dienst auftreten. :D

Dir, lieber Schwups, einen herzlichen Glückwunsch. Sie ist immer noch wunderbar beklemmend, deine Geschichte.

Und ein Wort noch zu ernst offshore, der mit so viel Leidenschaft einen Stab gegen uns arme Kommentatoren bricht :):

... deine Worte nur stellvertretend für viele andere Kommentare verwendet habe, um meinen Unmut über diesen Trend zur Textmaximierung/gleichmacherei/beschleunigung zu illustrieren?
Was soll ich sagen, manchmal vermittelt ihr mir einfach das Gefühl, als wäre Lesen Schwerarbeit für euch, echt.
Ich mag deine Ernsthaftigkeit und dein Gegen-den-Wind-gebürstet sein sehr. Das ist gut so.
Aber hab ein bisschen Verständnis mit uns armen Kommentatoren. Wir verfolgen doch keinen Trend. Wir kommentieren einfach aus unserem Blickwinkel. Und bis auf eine Basis, die pures Handwerk ist, spielt da so viel eigener Geschmack mit rein oder der momentane Erfahrungsstand eines Autors beim Schreiben.
Ein erfahrener Autor wie Schwups übernimmt dann sowieso nur die Vorschläge, die er als zur Geschichte passend erachtet.
Von daher: Stimmt, sollte man immer im Kopf haben, was du schreibst. Aber
trotzdem, lass uns Kommentatoren ein kleines persönliches Kommentierfloß in deinem offshoreschen Sturm der Entrüstung.
Für euch alle ein schönes Wochenende Rick, Schwups und ernst offshore.

 

Novak schrieb:
Und ein Wort noch zu ernst offshore, der mit so viel Leidenschaft einen Stab gegen uns arme Kommentatoren bricht. [...]on daher: Stimmt, sollte man immer im Kopf haben, was du schreibst. Aber
trotzdem, lass uns Kommentatoren ein kleines persönliches Kommentierfloß in deinem offshoreschen Sturm der Entrüstung.
Ach, das ist ja nicht böse gemeint. Ihm gefällt die Geschichte und die Art. Noch mehr als uns allen. Und da verteidigt man den Text freilich. Mir gings bei somebodys Nekroblissement ähnlich. Und, lieber offshore, da geh ich auch gern als Verlierer (ich verliere ja nix) aus der Diskussion, weil es ja stimmt, dass die Anwältin leicht verwirrt ist und manche Menschen auch so krank genug sind, so was zu schreiben.

Bin ja gespannt, was Schwups selbst über das hier sagt. Der wird feierlich lachen, schätz ich. Dann sperrt er uns zwei in einen Raum. Mal sehen, ob ich dich füttern werde. Ich schätze schon. ;)

Beste Grüße
und ein herrliches Wochenende allen, die die Zeit in der Vorhölle genossen haben
markus.

 

Hallo alle zusammen

Wow, ich bin ganz erschlagen von den vielen Kommentaren - echt toll, dass so viel Feedback zu der Geschichte kommt.

Danke euch allen für die Ausführlichkeit, mit der ihr hier antwortet. Und natürlich auch vielen lieben Dank an Rick für die Empfehlung :).

Ich mache mal da weiter, wo ich das letzte Mal aufgehört habe, und das ist bei dir,

lieber Anakreon:

Der Einstieg klang mir irreal, es dauerte bis ich Begriff, welcher apokalyptische Hintergrund da gesetzt ist. Eine Nähe zu Science-Fiction scheint mir da gegeben.

Ich wollte den Leser zu Beginn absichtlich "auf die Folter" spannen, um welches Szenario es hier geht. Wie schon bemerkt wurde, ist das ja ein bekanntes Setting in diesem Genre, also Assoziationen zu bspw. einer Zombie-Apokalypse zu Beginn sind beabsichtigt.

So wie sich die Geschichte entwickelt hat, ist das Horror-Genre sicherlich am passendsten. Mit der Grundidee (Menschen in einem Raum, die nicht schlafen dürfen / können) hab ich lange herumgespielt, und mir sind auch Szenarien eingefallen, die in einem anderen Unterforum spielen könnten. Es ist aber auch nicht überraschend, dass die Geschichte am Ende doch hier gelandet ist ;-).

Die ganze Handlung beschränkt sich auf Verhaltensweisen, die wie eine „kollektive Agonie“ anmutet. Auch wenn Fiktion viel Spielraum erlaubt, erwarte ich einen tieferen Sinn oder Zweck dahinter, der mir nicht erkennbar durchkam.

"Kollektive Agonie" klingt sehr gut - ich werde "Agonie" in die Liste der Fremdwörter mit hineinnehmen, die der Erzähler gedanklich durchgeht. Das passt sehr gut in die Geschichte.

Was den tieferen Zweck angeht, oder auch die von dir geforderte Ursache des Ganzen: Ich habe unter meiner letzten Geschichte auf einen Kommentar von Hanniball hin dazu schon etwas geschrieben. Für mich geht es im Horror-Genre gar nicht so sehr darum, die Ereignisse zu erklären. Ich finde sogar, bei vielen Geschichten (nicht nur hier, sondern auch seitens professioneller Autoren) ist eine Erklärung oft eine Schwachstelle in der Geschichte. weltenläufer hat Die Arena von King genannt. Ich will jetzt nicht spoilern, aber ich fand die Auflösung am Ende, woher jetzt eigentlich diese unsichtbare Kuppel kommt, die grösste Schwachstelle in der Geschichte. Da wäre es mir am Ende lieber gewesen, King hätte auf eine Erklärung verzichtet und vielleicht nur eine Andeutung gemacht und den Rest der Fantasie des Lesers überlassen. Viel eher geht es für mich darum, zu überlegen, wie die Menschen angesichts der Ereignisse, die ihnen passieren, reagieren. Und genau das ist auch das Thema dieser Geschichte. Das Problem bei dieser Art von Geschichte ist halt immer, das Geschehene lässt sich nicht begründen. Und wenn man es begründet, dann ist die Begründung vielleicht wieder unglaubwürdig und bedarf einer weiteren Begründung. Und irgendwann kommt man unweigerlich an eine Stelle, da muss man sagen: Das muss jetzt so aktzeptiert werden. Das muss man als Leser ein Stück weit, wenn man das nicht kann oder sich fragt, ja warum überhaupt, dann funktioniert die Geschichte nicht.
Dass es letzten Endes auch immer um die Suche nach Gründen und einen tieferen Sinn geht, blendet die Geschichte hier ja auch nicht aus: Der Erzähler versucht genau das am Ende, bezogen auf seine ganz persönliche Situation. Nur taugt sein Erklärungsansatz nicht als "objektive" Ursache des Ganzen - dass die Menschheit innerhalb von sieben bis zehn Tagen ausstirbt, weil jemand seine Freundin erwürgt hat - find ich nicht überzeugend. Aber insofern finde ich den Schluss dann auch konsequent: Es ist eine Mischung aus Schuldgefühlen und Ich-Bezogenheit, die ihn auf die Idee, alles sei seinetwegen geschehen, kommen lassen.
Schon rein aus erzählperspektivischer Sicht kann ich hier nur sehr schwer weitere "objektive" Erklärungen einstreuen. Dem Erzähler passiert das ja genau wie allen anderen, er ist direkt Betroffener. Als auktorialer Erzähler könnte man sich noch etwas "aus den Fingern saugen", aber ich glaube nicht, dass die Geschichte dann besser würde. Hier geht es ja auch genau darum, die Fantasie des Lesers anzuregen, deshalb bleiben bestimmte Dinge absichtlich unklar.

Da packt es mich nur, wenn der Inhalt auch tiefgreifende Gefühle zu wecken vermag und die Unterhaltung – die ich bei einer Geschichte grundsätzlich erwarte - Oberhand gewinnt.

Unterhaltung ist ein weites Wort - wer fühlt sich wann unterhalten? Ganz klar, hier gehts in den ersten beiden Dritteln darum, das Tempo hochzuhalten. Die Geschichte ist da sehr dialoglastig, da bleibt keine Zeit, nach tieferen Gründen zu suchen. Ich glaube, das würde dann auch bremsen.

Die zweite Geschichte in der Geschichte hatte ich vielleicht überlesen, da mir eine Steigerung im bereits bestehenden, exzessiven Wahn zu utopisch war.

Es ist eigentlich keine zweite Geschichte, sondern war für mich einfach eine mögliche Reaktion eines Betroffenen auf die Ereignisse. Man darf das auch nicht überinterpretieren an der Stelle oder wichtiger nehmen, als es ist: Da ist einer, der versucht, das Ganze für sich zu erklären, und das womöglich aus dem menschlichen Bedürfnis heraus, in allen wichtigen Ereignissen einen tieferen Sinn zu finden. Wie gesagt, so betrachtet finde ich das Ende sogar eine nachvollziehbare Situation auf den Beginn und nicht als "separate" Geschichte.

Dennoch wollte ich dir meine Sichtweise nicht vorenthalten.

Finde ich auch gut so. Ich glaube einfach, ich hab mit der Geschichte grundsätzlich deinen Geschmack nicht getroffen. Also ich könnte jetzt nicht sagen, hier oder hier füge ich noch einen Absatz ein oder lasse was weg, dann funktioniert das für dich. Du sprichst Punkte an, die eine komplett andere Erzählweise erfordern würden, eigentlich eine ganz neue Geschichte. Du hast für mich deine Kritik nachvollziehbar erläutert, und für beides, die Kritik und ihre Begründung, möchte ich mich bei dir bedanken.

morlou:

deine Geschichte hat mich schwups gefangen genommen und zog mich von Anfang an in ihren Bann. Das ist dir sehr, sehr gut gelungen.

Sehr schön :)

Ich habe mich einfach gerne von deiner Atmosphäre tragen lassen. Dinge als gegeben akzeptiert

Also praktisch genau das Gegenteil von Anakreon. Das erklärt auch eure gegensätzlichen Meinungen: Anders funktioniert die Geschichte auch nicht.

Was die Textarbeit angeht, werde ich auf die Punkte eingehen, die ich nicht übernehme. Alles andere ist korrigert / übernommen:

Worüber ich schweigen werde: Meine Frau. Ihr Name war Rebecca. Mehr werde ich über sie nicht erzählen.
Würde ich auch streichen. Wenn du mit Rebecca endest, stürze ich mich noch lieber in den nächsten Absatz. Der nachfolgende Satz schmälert meine (Neu)Gier irgendwie

Der Satz erfüllt in meinen Augen zwei Funktionen: Zum einen betont er das "schweigen" nochmal, und weil das extra betont wird, will ich dem Leser sagen, dass es dem Erzähler wirklich wichtig ist. Der Leser soll da ruhig kurz hängenbleiben und überlegen: Warum eigentlich? Zum anderen soll er (der Leser) später dann auch etwas misstrauisch werden, als der Erzähler anfängt, von Rebecca zu reden: Am Anfang hat der Erzähler noch extra betont, dass er das nicht macht - und jetzt fängt er doch damit an? Warum eigentlich? Insofern finde ich den Satz wichtig und lasse ihn stehen.

Du hast wohl überarbeitet? Ursprünglich hattest du das anders gelöst, oder? Kürzer, prägnanter mit dem Zählen. Du hattest einfach die Zahl genannt, oder? Mir hat das in deiner vorherigen Version viel besser gefallen. Jetzt wirkt es ein wenig umständlich & aufgebläht. Schade.

Ja ich glaube Mothman hat das erwähnt, was ich auch nachvollziehbar fand. Aber stimmt schon, die Lösung jetzt ist zu blumig, passt nicht so recht in die Sprache des Erzählers. Ich habe es jetzt nochmal angepasst, es ist jetzt eine Mischung, wieder deutlich kürzer aber klar genug.

Wirkt unfreiwillig (?) komisch auf mich. Ficken, bis sie schwarz werden, hm? Umgangssprachlich steht schwarz doch für den Tod/Verwesung.

Für mich ist "etwas tun, bis man schwarz wird" einfach eine feststehende Redewendung für etwas sehr, sehr lange tun (hier sinngemäss: Die können so lange ficken wie sie wollen, das wird sie auch nicht retten). Ich hab mir da gar nichts weiter dabei gedacht, hab aber mal geschaut, du hast recht. Es bezieht sich wirklich auf den Tod. War mir bislang nicht bewusst, vielleicht wird diese Redewendung auch regional unterschiedlich häufig gebraucht. Ich werde es stehenlassen, weil es umgangssprachlich dem, was die Anwältin hier sagt, am nächsten kommt.

Wir wollen probieren, andere Menschen zu treffen. Vielleicht ist ja jemand dabei, der weiß, wie –“
Versuchen, würde mir besser gefallen. Oder: Wir wollen andere Überlebende treffen.(o. ä.) Ist natürlich nur subjektiv angemerkt

Du hast recht, versuchen ist auch besser. Probieren ist Umgangssprache, auch nicht wirklich gut, aber hier finde ich es passender, weil der erschöpfte Pilot sich keine Gedanken mehr über eine eloquente Ausdrucksweise macht :). Also das hab ich da ganz bewusst so hingeschrieben.

Und so schnell, wie die Tänzerin mitgemacht hat, ist ihre Berufsbezeichnung höchstwahrscheinlich ein Euphemismus.
Das Wort fügt sich nicht so passend in die vorherrschende Sprache, finde ich.

"nette Umschreibung" passt aber auch nicht wirklich, finde ich. Das "nett" klingt so, als würde sich der Erzähler darüber amüsieren, es mit einem Lächeln im Gesicht schreiben. Distanziert, kühl. Möglichst wenig wertend. So soll es klingen. (Auch wenn "Euphemismus" vielleicht auch schon eine Wertung ist). Ich hab auch ne Weile an der Stelle überlegt, finde aber, Euphemismus drückt das noch am Besten aus.

Tja, wie weit denn? Mir suggeriert die Frage, man könne noch steigern was die Tänzerin tat. Wüsste nicht, wie?

Du musst den Satz zuvor noch mit einbeziehen:

Ich habe das Bild vor Augen, wie er im Nebenzimmer mit ihrem besudelten Körper kopuliert. Eben sind wir Zeugen geworden, wie sich ein Mensch aufschlitzt, um nicht schlafen zu müssen. Wie weit mag dann ein anderer gehen, um wachzubleiben?

Es ist eine Erklärung für das Bild, das sich vor den Augen des Erzählers abspielt. Und vielleicht auch eine Frage an den Leser, zu überlegen, was ihm alles einfallen würde.

Beweihwassern verboten, finde ich merkwürdig. Und bei mir hat es keine Angst, eher Belustigung hervorgerufen.

Es gefällt mir. Es klingt befremdlich, unerwartet, und so sind Träume ja auch oft. In einer unwirklichen Situation finde ich eine solche Beschriftung passender wie etwas ganz "rationales".

morlou, vielen Dank für dein Feedback und die Textarbeit!

markus:

Aber wenn man liest, will man unbedingt wissen, warum sie nicht schlafen dürfen, was Rebecca damit zu tun hat und wieso er nicht spricht.

Ich glaube, du bist der erste, der sagt, dass ihn genau diese Punkte in die Geschichte gezogen haben. Find ich gut, das bestärkt mich dann auch, solche Sätze wie "Mehr werde ich nicht über sie erzählen" stehenzulassen, da sie genau diese Neugier wecken sollen.

Sein Zählwahn, wie er sich abzulenken versucht, dokumentiert, aber nicht interagiert, was ihn zu einem Erzähler macht, der über dem Geschehen steht und irgendwie kommt er einem unverwundbar vor,

Sehr schön formuliert - genau diese "Unverwundbarkeit" sieht er auch an sich selbst, sie ist sicher auch einer der Gründe, weshalb er am längsten durchhält. Wenn das durch die Erzählweise und den Stil rüberkommt, ist das umso besser.

Übrigens: Vorhölle ist ein sehr schöner Titel, der wunderbar auf die Geschichte zutrifft.

Danke :). Mit Titeln tue ich mich immer sehr schwer, hab da auch schon danebengegriffen. Da sie das erste sind, was ein Leser an einem Text sieht, noch vor dem ersten Satz, müssen die auch mit Bedacht gewählt sein, schön wenn dich dieser hier angesprochen hat.

Die Anwältin spricht nicht so elitär wie erwartet.

Ja, da hab ich beim Schreiben auch drüber nachgedacht. Wie lasse ich die Personen sprechen? So ist dann bspw. dieses "probieren" statt "versuchen" zustande gekommen, das morlou nicht so gefallen hat. Ich hab schon überlegt, wie reden Personen, die völlig übermüdet sind? Glaube, da könnte ich noch dran arbeiten, aber es soll halt auch nicht zu gezwungen wirken.
Ich habe mir dabei folgendes überlegt: Man überlegt weniger beim Sprechen. Man übernimmt Formulierungen, die einem zuerst in den Sinn kommen, die man vielleicht irgendwann mal aufgeschnappt hat. Neulich hab ich mich mit Kollegen über Filmzitate unterhalten, in dem Zusammenhang auch über The Big Lebowski. Da kommt die Formulierung mit dem Trichter vor, also dachte ich, vielleicht hat die Anwältin vor einigen Tagen diesen Film gesehen und jetzt einfach diese Formulierung von dort übernommen, ohne gross nachzudenken. Das waren so meine Gedanken an der Stelle. Ich finde, das macht die Personen realistischer, und glaube auch, es ist ein Klischee, dass alle Anwälte eloquent sprechen.

wenn sie anfangs so spricht wie eine Anwältin und dann in die Sprache sackt, die du ihr in den Mund geschrieben hast.

Wie spricht denn eine Anwältin? Es gibt da nicht den einen Sprachduktus, es gibt natürlich Vorstellungen eines Lesers, nur wo kommen die her? Anwälte in der Realität sprechen nicht so wie in Filmen, eigentlich spricht kaum jemand in der Realität wie in Filmen, wenn man da mal drauf achtet. Und überlege, wenn du "anfangs" schreibst, da reden wir schon von einem Stadium vollkommener Übermüdung.
Was die Schlafkrankheit angeht: Die heisst nunmal so. Kann die Anwältin von ihrer Schwester wissen, die Medizin studiert hat. Oder sie hatte mal einen Fall, in dem das vorkam. Ich finde nicht, dass das in einem Gegensatz zu ihren Sätzen steht, weil "Letale familiäre Insomnie" keine Formulierung, sondern ein feststehender Begriff ist.

Zur Textarbeit: Ebenfalls wie bei morlou, Unerwähntes ist übernommen:

Kommt da noch was?

Ich bin noch nicht sicher. Glaube, das wurde später auch nochmal angemerkt. Muss ich mir nochmal anschauen die Stelle, erstmal lasse ich sie, wie sie ist.

Internetverbindungen? Meinst du damit LAN-Anschlüsse, WLAN, usw...?

Technisch gesehen würde ich sagen, dass die Provider den Zugang nicht mehr anbieten konnten, egal ob man da via DSL, Kabel oder sonstwie dranhängt. Finde ich jetzt aber auch nicht so wichtig, vor allem können das die Personen ja nicht wissen: Die sehen halt, dass sie kein Internet mehr haben :)

und im Notfall hören wir auf Menschen mit Plan.

Klingt nicht so gut finde ich. Hier geht es ja nicht allgemein darum, den Durchblick zu haben, sondern ganz konkret darum, einen Plan für diese spezielle Situation entwickelt zu haben. Dieses "wir Menschen" soll aussagen, dass das eine ganz spezielle menschliche Eigenschaft ist. Wenn eine Gruppe
nicht weiss, wie es weitergeht, und einer das Wort ergreift, der überzeugend klingt, dann folgen sie ihm. Das ist immer so, auch in diesem Fall, und ich finde, mein Satz macht das besser deutlich.

Das ist so ein Kunstgriff ... Jedenfalls: Der letzte Satz ergibt für mich wenig Sinn. Warum müssen sie sich füttern, sie können doch selbst essen.

Das ist ein interessanter Punkt. Du assoziierst mit "füttern" hier, jemandem das Essen in den Mund zu schaufeln. Das ist sicher die engere Bedeutung, aber wenn jemand sagt, "Ich muss noch meinen Hund füttern", was meint er dann? Sicher nicht, ihm das Fleisch per Löffel zu verabreichen, sondern, ihm das Essen hinzustellen (Fressen tut der Hund trotzdem selbst). Das ist die weiter gefasst Definition von "füttern". Und darum geht es hier ja: Man muss dem anderen das Essen "hinstellen" (indem man etwas von sich abschneidet).
Mal davon abgesehen: Es könnte auch die engere Bedeutung von "füttern" hier haben. Vielleicht müssen die sich wirklich gegenseitig die Teile in den Mund schieben. Das wird ja nicht explizit ausgeschlossen. Und ich bin da eher auf der Linie von ernst: Die Anwältin redet so, nicht der Erzähler. Sie macht ja keinen Hehl daraus, dass ihr die Idee nicht gefällt, also wertet sie sie durch das "füttern" zusätzlich ab.
Ich finde, das Wort klingt gut an der Stelle und hat seine Daseinsberechtigung, insofern lasse ich es stehen.

Sind die 3 HIERS beabsichtigt?

Ich sehe gerade, es sind sogar 4 ... doch ein wenig viel an der Stelle, hast recht.

auseinander gefalteten?

Der Duden erwähnt es nicht explizit, aber auseinanderfallen ist dort aufgeführt, Partizip II: auseinandergefallen.
Und es steht da: "auseinanderbrechen, auseinanderdividieren, auseinanderhalten, auseinandersetzen usw." Das usw. ist für mich ein Hinweis,
dass man auch "auseinanderfalten" zusammenschreiben kann.

Ein schönes Bild, dem ich leider widersprechen muss. Du machst die Tänzerin damit zur Sonne. Wolltest du das? Also für mich ist sie keine Sonne. Allerhöchstens ein Mond.

Ein Mond ;)? Also für mich ist sie in dem Moment dahingehend die Sonne, dass sie das Zentrum ist, um das sich alles andere dreht, der Mittelpunkt des Geschehens sozusagen.

Du sagst so oft HIER! Die Definition von Schlaf macht wenig Sinn, so kann der Pilot ja trotzdem Schlaf vorspielen.

Wegen dem hier: Wenn ich das an der Stelle wegnehme, klingt es echt komisch. Ich habe nach der Überarbeitung der anderen Seite noch 14x "hier"
im Text, ich denke, das ist OK.
Was den Schlaf angeht: Ja, macht wenig Sinn - aber weisst du was Besseres? Wie willst du prüfen, ob jemand wirklich schläft? Es ist übrigens gar nicht so einfach, Schlaf vorzutäuschen. Meistens verraten einen die zuckenden Lider. Da erwähn ich ja später noch, dass die ruhig sind, ausserdem - wenn jemand dermassen müde ist und dann mit geschlossenen Augen daliegt, wird es eher zum Problem, wachzubleiben.

wenn wir schlafen, findet es einen Weg in unseren Kopf oder so.

Das klingt mir schon wieder zu poliert, zu genau analysiert. Ihm fallen diese Dinge ja eigentlich auch erst so recht beim Reden ein, da ist es mMn nicht verkehrt, wenn es dann etwas holprig klingt.

Das Dinge könnte auch im Traum etwas zeigen wollen. Warum das "bloß"?

Das "bloss" bezieht sich darauf, dass es jemanden nicht ermordet wie Freddy das in den Filmen getan hat (s. Satz zuvor).

einem medizinischem Buch?

Das Buch ist ja nicht medizinisch, sondern es geht darin um medizinische Themen. Ist jetzt aber echt Haarspalterei ;)

wach gelegen

Der Duden erlaubt beides, empfiehlt aber deine Version ==> ist geändert.

Da stimmt was nicht.

Ich sehe es nicht, was meinst du? Der Stern im Zitat ist im Original nicht drin ...

Vielleicht schaut er sie wirklich so an, aber das Bild führt in eine andere Richtung. Der Professor will die Anwältin ja nicht reißen, er will sie schlafen lassen.

Aber er beobachtet sie aufmerksam. Aufmerksames Beobachten ist mMn unabhängig vom Grund für die Beobachtung. Also wenn du jemanden beobachtest, tust du das auf dieselbe Art, unabhängig davon, ob du denjenigen fressen willst oder darauf wartest, bis er schläft ...

Meine Hand zittert. Ich denke an das letzte Mal, als meine Hand zitterte, und an Rebecca.

Nein, das ist zwar nur ein feiner Unterschied, aber einen, auf den ich hier Wert lege. In meiner Fassung will ich ausdrücken, dass das Zittern direkt im Zusammenhang mit Rebecca steht. In deiner Fassung könnte das Zittern auch vor fünf Minuten passiert sein und hat mit Rebecca nichts zu tun.

1. ihr Kreischen die Welt erfüllt (so verbraucht dieser Satz, zudem stimmt er nicht oder hören alle ihr Kreischen?)
2. als sie ihren Darm entleert (das ist wirklich zu sachlich für: sie scheißt sich in die Hose.) Da musst du ein bisschen mutiger sein.

Das mit der Welt, da geb ich dir Recht. Gib mir da nochmal Zeit, da muss ich mir noch was Besseres überlegen.
"In die Hose scheissen" klingt mir dann aber irgendwie doch zu vulgär an der Stelle.

Vielen Dank markus für deinen ausführlichen Kommentar, über den ich mich gefreut habe. Und was die Textarbeit angeht: Ich hasse dich nicht dafür ;). Gehört auch dazu, und da sind ja auch ein paar echt gute Sachen dabei. Ich hoffe, ich konnte dir bei den Dingen, die ich nicht übernommen habe, die Begründung dafür liefern.

Morgen werde ich die weiteren Kommentare aufarbeiten - für heute solls das erstmal gewesen sein.

Viele Grüsse,
Schwups

 

Hallo Schwups,

ich halte mich selten in diesem Genre auf, weil ich der genrespezifischen Autorenschaft – nicht unbedingt bezogen auf die Horrorrubrik von KG.de, sondern allgemein – immer unterstelle, dass sie glauben mich mit vordergründigem Grusel und expliziten Widerwärtigkeiten abspeisen zu können. Selbst King ist mir streckenweise langweilig, ich denke immer, huch, gleich macht mich das Werk so richtig gruseln, gleich schüttet der Autor einen Kübel Blut über den Leser aus, und so. Huch. Aber mit so einer Erwartungshaltung gruselt es sich schlecht und der Spannungsbogen hängt auch durch.

Es gibt natürlich viele Geschichten, die anders sind, die meinen Vorurteilen Lügen strafen, und das ist sehr gut. Diese gehört dazu. Schon der Einleitungssatz, schon die beteiligten Berufsgruppen überhaupt, die als Teilnehmer in einem Horrorsetting für mich neu sind (Bibliothekare, Mönche, Fürsten, Chemiker, Schriftsteller oder irgendwelche geheimen Mächte etwa locken mich nicht mehr hinter dem Ofen hervor), ebenso wie das Einkaufszentrum als Handlungsort, der gemeinhin nicht als dunkel und verrucht assoziiert wird, spricht schon mal für sich. Und ein Spannungsbogen, der mich durch die Geschichte treibt. Ich möchte dich nicht mit King vergleichen, auch wenn er auch solche an sich nicht mit Horror assoziierten Schauplätze wählt. Sein Buch »Es« steht bei mir im Regal, ich habe irgendwo in der Mitte aufgehört zu lesen, da mich die Langeweile übermannt hat. Deine Geschichte war dagegen schon von Anfang an spannend für mich und nahm in dieser Hinsicht nochmal Fahrt auf, als der Professor seine perfide List offenbarte, und auch noch gar nicht so nach dem Motto »Schaut her, ihr glaubtet ich wär nett, dabei bin ich ja so fies«, sondern als wäre es eine Selbstverständlichkeit und was schaut ihr so doof, ist doch alles klar.

Allein, mit dem Erzähler habe ich so ein kleines Problem. Das ist schon in anderen Kommentaren angeklungen, ich möchte es noch mal in meine eigenen Worte fassen.

Klar kann es sein, dass ich einfach zu unaufmerksam gelesen habe und es hätte merken müssen, dass ihm ab einem gewissen Punkt nicht länger zu trauen war. Ich aber ging nun mal weite Strecken in der Geschichte davon aus, dass er tatsächlich »Schuld« an ihrer Lage war und mit greifbarer mittendrin mit List und Geifer beobachtet hat, wie sie sich an der Situation die Nerven zerfasern.

Und dabei habe ich zwar mitbekommen, dass er die Kontrolle über diese Situation nicht selbst innehat. Doch die Erkenntnis aufgrund eines deiner Antworten, Schwups, dass mich die Identifizierung mit dem Ich-Erzähler – für mich stets mehr eine Grundvoraussetzung der Literaturrezeption denn etwas, dass der Autor das Recht hat mit Füßen zu treten ;) – bis zum Schluss auf eine ganz falsche Fährte geführt hat, war eine Enttäuschung, um nicht zu sagen, ein Schock.

Hab gerade Lust, das aufzubauschen: Wie soll ich mich dem nächsten Ich-Erzähler gegenüber verhalten? Kritisch, distanziert? Werde ich eine Geschichte dann noch genießen, mich voll auf sie einlassen können? Wenn ich dir deinen unmerklich, d.h. implizit wahnsinnig gewordenen Erzähler abnehme, muss ich dann nicht auch Neulingsgeschichten ernstnehmen, wo plötzlich am Ende alles nur ein Traum ist?

Im gleichen Atemzug mahne ich mich selbst, mehr zu versuchen zwischen den Zeilen zu lesen, damit ich eben mitbekomme, wenn sich der »Identifizierungsvertrag« zwischen Ich-Erzähler und Leser in Wohlgefallen auflöst. Es gab mal ne Zeit hier, da habe ich viel auf Werkimmanenz gehalten. Ist ein äußerst dehnbarer Begriff.

Kurz: Mit der auktorialen Perspektive wär das nicht passiert. Wohl wäre die Geschichte dann eine völlig andere, aber ich hätte nicht den schalen Beigeschmack, hinters Licht geführt worden zu sein.

Lass es mich betonen: Abgesehen von diesem eher theoretisch Problem eines Lesers, für den der Vorwurf allgemeiner Verkopftheit durchaus nicht neu ist, habe ich an der Geschichte nichts zu meckern. Handwerklich ist sie für mich bis auf weiteres unerreichbar.

Zwei eher formale Schnitzer sind mir noch aufgefallen:

Worüber ich schweigen werde: Meine Frau.
  • Nach Doppelpunkt geht es nicht in jedem Fall groß weiter, nur dann, wenn das folgende grammatisch ein vollständiger Satz ist >> Worüber ich schweigen werde: meine Frau.

In meinem Kopf ertönt ein Sirren, und drei neugierige Augenpaare sowie meins schauen auf den auseinandergefalteten Zettel.
  • »so wie meins« liest sich unfreiwillig komisch bis unbeholfen, so wie »meine Hand griff …« oder »mein Gehirn ächzte unter der Last von Sorgen«. Ich würd es streichen. Wenn der Icherzähler glaubt, unbeteiligt zu sein, dann soll er es bei der schlichten Nennung der Zahl bewenden lassen, allein dadurch wird eingedenk der gewählten Erzählperspektive schon klar, dass auch er hinsieht.

Viele Grüße,
-- floritiv

 

Hey Schwups,

freut mich, dass dir mein Kommentar etwas helfen konnte. Ich find es immer schön, wenn man so gut auf Kommentare eingeht, wie du das hier machst. =)

Die letzten Anmerkungen:

Ein Mond? Also für mich ist sie in dem Moment dahingehend die Sonne, dass sie das Zentrum ist, um das sich alles andere dreht, der Mittelpunkt des Geschehens sozusagen.
Mond war natürlich ein Scherz. Und sicherlich ist sie hier ein Zentrum. Aber die Sonne ist schon was sehr Zentrales und die wichtigste Person ist sie ja doch nicht in diesem Szenario.

Was den Schlaf angeht: Ja, macht wenig Sinn - aber weisst du was Besseres? Wie willst du prüfen, ob jemand wirklich schläft?
Lidzucken, ja. Auch wenn man die Lider aufmacht (funktioniert allerdings meist nur bei Kindern), dann kann man schnelle Augenbewegungen sehen, die auch wieder nur beim REM-Schlaf zu sehen sind. Ich denke, der Arm geht durch.

Ich nähere mich nichts mit solchen Fingern.
Meinst du hier, dass er sich nichts nähert, was solche Finger hat. Dann hab ich das falsch gelesen. Ich hab es so gelesen: mit solchen Fingern nähere ich mich nichts. Also, dass er komische Finger hat, der Ich-Erzähler.

"In die Hose scheissen" klingt mir dann aber irgendwie doch zu vulgär an der Stelle.
Ich wollte ja nur ein Gegenbeispiel aufzeigen. Darm entleeren klingt in deiner Erzählung nur etwas seltsam steril.

Beste Grüße
markus.

 

So, weiter gehts,

JuJu:

Ich denke, ein Problem wird da sein, dass hier eh alles ein bisschen fantastisch anmutet, Leute können nicht einschlafen, da huscht was in den Schatten, die Welt geht unter, die Geschcihte heißt Vorhölle … also man geht hier beim Lesen sowieso ein bisschen davon aus, dass man nicht allzu realitätstreu denken sollte.

Ja, ist ein guter Punkt. Geht so ein bisschen in die Richtung was Anakreon sagte, als er von einer zweiten Geschichte sprach. Ich frage mich mittlerweile, ob die Geschichte besser funktionieren würde, wenn der Erzähler auch im letzten Abschnitt die "Realität" beschriebe, dh. wenn die Menschheit wirklich wegen ihm zugrunde geht.

Weiß auch nicht genau, ob das so befriedigend ist, also die Vorstellung, die Welt geht unter und mein Erzähler bezieht das auf sich, aber das stimmt gar nicht, es liegt nicht an ihm, es liegt an irgendwelchen anderen fantastischen Dingen, auf die mein Erzähler aber nicht eingehen kann, weil er jetzt müde wird.

Ganz so ist es ja nicht. Die vier kommen der Wahrheit so nahe, wie sie ihr kommen können.

Der Erzähler ist halt auch ein blasser Typ. Als Erzähler taugt der was, das Zählen ist interessant, aber sonst macht der nicht viel.

Genau, er hält sich ja absichtlich aus allem raus, ist eigentlich nur ein Beobachter der Szene, aber kein wirklicher Teilnehmer.

Und dann das mit seiner Frau. Man kennt die gar nicht. Das ist halt so ne vage Rückblende für den Leser.

Ja das stimmt, das hab ich auch beim Schreiben als problematisch empfunden. Es war der Versuch eines Spagats: Zum einen darf er nicht zu viel über die Frau erzählen, weil es sonst langatmig wird und Tempo aus der Geschichte nimmt - gerade in den ersten zwei Dritteln spielt sie ja überhaupt keine Rolle, darf also auch nicht erwähnt werden. Zum anderen möchte ich aber auch, dass der Leser diesen Teil der Geschichte erfährt, ohne dass es so aussieht, als sei es jetzt so hinkonstruiert, "für den Leser geschrieben" sozusagen.

Der Schleier, der vor den Augen erscheint, gefällt mir nicht so.

Ist ein guter Hinweis. Ich hatte in einer früheren Version noch viel mehr Hinweise auf die körperlichen Auswirkungen der Schlaflosigkeit drin, wie sie auch der Erzähler erlebt - habe das aber nach und nach rausgenommen, jetzt finden sich nur noch wenig Hinweise darauf, und fast alle beziehen sich auf die anderen Personen. Hab das jetzt auch entfernt.

Wirklich gern gelesen.

Danke für dein Feedback, das Lob und die kritischen Hinweise. Ich hoffe, es sieht nicht so aus, als würde ich die Hinweise das Ende betreffend - die ja nicht nur von dir kamen - abwiegeln wollen. Dem ist definitiv nicht so, das sind Hinweise, da kann ich auch nicht widersprechen und sagen: Nein, du hast unrecht an der Stelle.
Diese Anmerkungen haben durchaus ihre Berechtigung, für mich ist dieses Ende aber die logische Konsequenz aus dem was passiert und der gewählten Erzählperspektive. Ich sehe nur zwei Alternativen:
- Geschichte klingt aus, ohne dass der Erzähler diese "zweite Ebene" ins Spiel bringt. (Das wirft dann aber so Fragen auf, warum schreibt er überhaupt alles auf? Warum spricht er die ganze Zeit kein Wort? Warum verhält er sich so distanziert?)
- Das vom Erzähler Geschilderte entspricht tatsächlich der Realität in der Geschichte. (Mit der Idee kann ich mich nicht anfreunden, die wirft dann wiederum andere ganz seltsame Fragen auf.)

Vielleicht fällt mir noch was Besseres ein, ich denke da viel drüber nach, hab aber noch keinen Entschluss gefasst.

offshore:

seit ich weiß nicht wie vielen Jahren ist deine Vorhölle die erste Horrorgeschichte, die ich gelesen habe.

Find ich toll, wenn die Geschichten auch Leser aus anderen Rubriken anziehen.

Ist einfach nicht mein Genre, genauso wenig wie Fantasy, weil in den meisten Fällen die Existenz von Übernatürlichem vorausgesetzt wird, damit die Geschichte überhaupt funktioniert.

Ja, das ist eine notwendige Grundvoraussetzung. Mal mehr, mal weniger, hier - zugegebenermassen - eher mehr ;).

Aber egal. Reingelockt in die Geschichte wurde ich von deinen ersten Sätzen und war dann von der ersten bis zur letzten Zeile regelrecht gefesselt. Von der Story, von deiner Sprache, von deiner Fähigkeit, die Spannung bis zum Schluss zu halten,

Wow, vielen Dank. Schön wenn es so gut funktioniert hat.

Was deine Anmerkungen über den Stil angehen: Finde ich gut, dass du bestimmte Formulierungen verteidigst. In der Regel habe ich einen Text, bevor ich ihn hier einstelle, so oft gelesen, dass ich mir über jeden Satz schon Gedanken gemacht und mir Alternativen überlegt habe. Also da steht dann eigentlich nichts Zufälliges mehr drin, bei vielem hab ich pro und contra abgewogen. Tatsache ist, dass ich mit dem "Folgendes geschieht" selbst nicht so ganz glücklich war. Ich hatte zuvor mehr solche Formulierungen drin, so abgehackte Sachen, die dann den Lesefluss auch bremsten. Die sind aber nach und nach rausgeflogen, manches davon vielleicht auch zu Unrecht.
Bei so Dingen, bei denen ich mir selbst unsicher bin, reicht dann oft ein kritischer Kommentar, dass ich sie wieder ändere. In einer Kritik einer meiner älteren Geschichten hat jemand mal geschrieben, ich würde gefällig schreiben. Ich weiss, dass das noch etwas ist, an dem ich arbeiten muss; statt einer unkonventionellen Formulierung wähle ich oft eine einfachere, wo ich eigentlich sicher sein kann, dass die bei der Mehrheit besser ankommt.

Die anderen von dir angemerkten Stellen habe ich stehenlassen, da siehst du dann auch bei meinen Begründungen, dass ich mir da beim Schreiben selbst viel sicherer war, was die Formulierungen anging. Also anders als bei diesem "Folgendes geschieht:".

Wenn ich einen tollen Satz lese, dann freue ich mich erst recht auf den nächsten, lese ihn vielleicht sogar ein zweites Mal, ich bin ja nicht im Kino, verdammt. Die Forderung, unnötiges Zeug rauszuhauen, mag in vielen Fällen durchaus berechtigt sein und mit z.B. Adalbert Stifter würde man selbst mich nicht mehr hinterm Ofen hervorlocken, aber man kann’s meiner Meinung nach übertreiben.

Da geb ich dir absolut recht. Ich bin auch kein Fan von Dogmen, in keinem Bereich, auch nicht beim Schreiben (show don't tell, kill your darlings und was man immer so liest). Sie haben sicherlich ihre Daseinsberechtigung, aber ich sehe sie mehr als Leitfäden, nicht als in Stein gemeisselte Wahrheiten. Man darf durchaus auch davon abweichen, wenn man weiss was man tut.

Die Frage ist halt, was ist ein toller Satz? Das ist halt auch immer sehr subjektiv. Ich merke das nicht nur bei meinen Geschichten, auch bei vielen anderen hier, wenn ich teilweise die Kommentare lese, in denen Stellen gelobt werden, die mich überhaupt nicht angesprochen haben, oder umgekehrt. Entsprechend unsicher bin ich dann auch oft bei meinen eigenen Formulierungen.

Ich finde es jedenfalls gut, dass du hier diese drei Beispiele rausgesucht und angesprochen hast. Zumindest bei den beiden anderen bestärkt es mich dann auch in meiner Meinung, sie stehenzulassen :).

Ganz tolle Geschichte, ganz toll und stark und schön geschrieben!

Vielen Dank für das tolle Kompliment!

Tja, ich hinke immer noch einige Kommentare hinterher ... werde das aber im Laufe der nächsten Woche aufholen, versprochen.

Viele Grüsse & bis zum nächsten Mal,
Schwups

 

In der Regel habe ich einen Text, bevor ich ihn hier einstelle, so oft gelesen, dass ich mir über jeden Satz schon Gedanken gemacht und mir Alternativen überlegt habe. Also da steht dann eigentlich nichts Zufälliges mehr drin, ...

Jo, genau so soll es sein, lieber Schwups, und eben diese Selbstsicherheit im Umgang mit der Sprache ist es, die ich von der ersten bis zur letzten Zeile in deinem Text zu erkennen meinte und bewunderte und selbstbewussten Stil nannte.
(Und damit nicht einen Stab gegen die armen Kommentaren brechen wollte, wie mir Novak augenzwinkernd unterstellte, sondern einen für den Autor der Geschichte. Und all jene, die sich mit so augenscheinlichem Vergnügen in das Spiel mit der Sprache stürzen. Also für alle hier im Forum eigentlich)

offshore

 

So, jetzt komme ich auch endlich dazu, auf die letzten Kommentare einzugehen:

Rick:

Natürlich ruft eine KG mit diesem Szenario viele ähnliche Horrorstoffe in Erinnerung, Freddie Krüger zitierst du selbst, und u. a. bieten Die Dämonischen (späterer Remake Die Körperfresser kommen) natürlich Vergleichbares.

Die beiden letztgenannten hab ich nicht gesehen. Ja Freddy ist naheliegend - was mir allerdings noch besser gefällt als die Schlaf-Thematik ist die Situation, dass eine Gruppe "Überlebender" irgendwie schauen muss, wie sie zurechtkommt. Für ein solches Setting gibts in dem Genre hunderte von Beispielen mit diversen Abwandlungen, aber mich hat das immer fasziniert. Ob als Film, als Buch, als KG, ein solches Thema zieht mich immer in seinen Bann. Und dabei ist es dann nicht mal so sehr der Kampf gegen Zombies, ein Monster, Naturgewalten ... sondern was aus den Menschen wird, wie sie sich im Angesicht der Gefahr verändern und was das für ihr Zusammenleben bedeutet.

Hätte ich jemals in meinem Leben einen Hut getragen, jetzt, vor dieser Geschichte und dir als Autor, würde ich ihn ziehen!

Tja, was soll ich da noch sagen ... vielen Dank für dein Feedback, dein Lob und die Empfehlung, hat mich wirklich sehr gefreut :)

floritiv:

ich halte mich selten in diesem Genre auf, weil ich der genrespezifischen Autorenschaft – nicht unbedingt bezogen auf die Horrorrubrik von KG.de, sondern allgemein – immer unterstelle, dass sie glauben mich mit vordergründigem Grusel und expliziten Widerwärtigkeiten abspeisen zu können.

... was natürlich in vielen Fällen auch zutrifft, weil viele Leser des Genres genau damit abgespeist werden wollen. Und dann bedienen diese Autoren einfach eine Nachfrage, gerade was die Widerwärtigkeiten angeht (Grusel bekommen nur wenige hin).

Selbst King ist mir streckenweise langweilig,

Ja ist sicher so. Aber er hat so wahnsinnig viel geschrieben, ist klar, dass da auch mal was daneben geht. Ich betrachte ihn eigentlich auch gar nicht mehr in erster Linie als Horror-Autor, im Gegenteil, ich finde, er schreibt besser, wenn er keine Horror-Themen mehr behandelt. Persönlich fand ich 11/22/63 eines seiner besten Bücher seit vielen Jahren, und das streift Horror, wenn überhaupt, nur am Rande.

Es gibt natürlich viele Geschichten, die anders sind, die meinen Vorurteilen Lügen strafen, und das ist sehr gut. Diese gehört dazu.

Das ist ein wirklich schönes Kompliment, wie ich es schon bei ernst offshore geschrieben habe, das freut mich wenn die Geschichte auch bei den Lesern gut ankommt, die sonst nicht so viel oder gar keinen Horror lesen.

Deine Geschichte war dagegen schon von Anfang an spannend für mich und nahm in dieser Hinsicht nochmal Fahrt auf, als der Professor seine perfide List offenbarte, und auch noch gar nicht so nach dem Motto »Schaut her, ihr glaubtet ich wär nett, dabei bin ich ja so fies«, sondern als wäre es eine Selbstverständlichkeit und was schaut ihr so doof, ist doch alles klar.

Ja das ist eines der Elemente, wo ich oben geschrieben habe: Wie wirkt sich diese Extremsituation auf die Menschen aus, wie ändert sich ihr Verhalten, ihr Miteinander? Und wer will es dem Professor in dieser Situation schon verdenken, sein eigenes Überleben zu sichern?

Ich aber ging nun mal weite Strecken in der Geschichte davon aus, dass er tatsächlich »Schuld« an ihrer Lage war und mit greifbarer mittendrin mit List und Geifer beobachtet hat, wie sie sich an der Situation die Nerven zerfasern.

Das ist natürlich mal eine interessante Variante, dieses "mit List und Geifer". Dass er also in Wirklichkeit Spass daran hat, dass es ihn sogar amüsiert? Das finde ich eine spannende Perspektive, von der aus hab ich das Thema noch gar nicht betrachtet. Aber es würde auch zum Erzählstil passen.

bis zum Schluss auf eine ganz falsche Fährte geführt hat, war eine Enttäuschung, um nicht zu sagen, ein Schock.

Ok, ich verstehe deinen Ärger ... aber ganz ehrlich, der Vergleich mit dem Traum-Ende ist nicht fair. Denn da erlebst du den Schock schon beim Lesen der Geschichte, hier kam er - wie du selbst schreibst - erst nach einer meiner Antworten, wie die Geschichte eigentlich "gemeint" gewesen ist.

Wenn ich dich richtig verstehe, warst du also, bevor du meine Antwort gelesen hast, nicht so verärgert über dieses Ende. Vielleicht hätte ich mich gar nicht so ausführlich über das Ende auslassen sollen, aber da andere Leser Fragen dazu gestellt haben bzw. Dinge unklar waren ... weisst du, ich denke da an eine Antwort an Novak, die ich vor ein paar Tagen geschrieben habe. Warum verliert die Geschichte an Wert, oder warum ärgerst du dich darüber, wenn ich eine andere Absicht hatte, als du herausgelesen hast? Wenn die Geschichte so funktioniert und du beim Lesen nicht auf Widersprüchlichkeiten gestossen bist - warum ist es dann noch so wichtig, was meine eigentliche Absicht war? Und wenn ich geschrieben hätte: Der dreht nicht durch, die Schattenwesen und alles, das gibt es wirklich (wir sind ja im Horror-Genre), und alles geht zugrunde, weil er seine Freundin umgebracht hat. Und die Geschichte bleibt Wort für Wort so wie sie ist. Ändert sich dann deine Meinung über sie?

Was die falsche Fährte angeht - ich beschreibe ein Szenario aus der Sicht eines Überlebenden. Zu Beginn hält er sich zurück, aber am Ende beginnt er, die Ereignisse aus seiner Sicht zu beschreiben, zu bewerten, zu interpretieren. Der Leser sieht alles durch seine Augen, durch seinen "Filter" - und das konsequent. Er führt dich also nicht auf eine falsche Fährte, denn dazu braucht es ja ein gewisses Mass an Vorsatz, also der Erzähler muss den Leser absichtlich täuschen. Das tut der Erzähler hier aber nicht. Wer also führt dich auf eine falsche Fährte, wenn es der Erzähler nicht tut? Ich finde das echt eine spannende Frage - ich, als Autor? Aber eben nicht innerhalb der Geschichte (denn da spricht ja nur der Erzähler), oder doch? Oder nur mit dem, was ich ausserhalb der Geschichte dazu gesagt habe?

Es gibt einen Roman von Agatha Christie, bei dem sich der Ich-Erzähler als Mörder herausstellt, aber erst ganz am Ende. Bis dahin war mir (wie üblich) völlig unklar, wer der Täter war, und am Ende wird der Ich-Erzähler selbst als solcher identifiziert! Das war auch ein Schock für mich, aber eher im positiven Sinn. Ich fand das ziemlich genial. Das ist ein Beispiel, in dem der Leser durch den Ich-Erzähler wirklich getäuscht und hinters Licht geführt wird, wie gesagt, der Erzähler in der Geschichte hier, der macht das nicht.

Kurz: Mit der auktorialen Perspektive wär das nicht passiert. Wohl wäre die Geschichte dann eine völlig andere, aber ich hätte nicht den schalen Beigeschmack, hinters Licht geführt worden zu sein.

Ja, stimmt, die Geschichte wäre eine andere.

Ich will deinen Ärger und deinen Frust auch nicht zerreden. Dass das Ende nicht deutlich genug wird, dass der persönliche Wahn des Erzählers inmitten dieser surrealistischen Situation nicht genug zur Geltung kommt, das sind Dinge, die ich absolut nachvollziehen kann. Eine Absicht, den Leser hinters Licht zu führen, hatte ich jedoch nicht, schade, wenn das dann so durchgedrungen ist.

Vielen Dank floritiv für dein ausführliches Feedback, das mich nochmal viel über die Geschichte hat nachdenken lassen. Von deinen beiden Anmerkungen werde ich die erste direkt übernehmen und mir bei der zweiten nochmal Gedanken machen. Ich gebe dir recht, das ist nicht so schön, da fällt mir bestimmt noch was besseres ein.

Und ganz kurz noch markus:

Meinst du hier, dass er sich nichts nähert, was solche Finger hat.

Genau, die Finger beziehen sich auf die Gestalt, die er sieht, die kurz zuvor erwähnt werden mit den vier Gelenken.

Viele Grüsse,
Schwups

 

„Der Himmel hat öfter eine Vorhölle als einen Vorhimmel - …“
Jean Paul, Flegeljahre​

Ich gottloser und ungläubiger Geselle weiß & kenn genau den Ort der Handlung – es ist das Centro oder ein beliebiges Derivat von ihm, mit der Begräbnisstätte der Menschheit in der Cola-Oase (wäre doch was, in wüstem Land Karawa(h)nsereien, gesponsort wie gefranchised by Coke) und die Buchhandlung nennt sich – um ihre Heuschreckhaftigkeit zu verbergen - nach der Muse der Komödie Thalia, und das nicht nur, weil ich dem Shopping und vergleichbarem abergläubischen Zeugs nix abgewinnen kann: mir ist das alles Kadingirra, oder in einer semitischen Sprache: Babi-lim, und das findet sich überall – und doch hab ich die Vorhölle, wenn schon nicht geschaut, so doch gelesen,

lieber Schwups.

Nicht, dass ich nix zu lesen hätte (der Illies ist ja nur die berühmte Spitze des Eisbergs) und da hastu schon mehr geschafft als zB ETA Hoffmann. Aber deuten … Eye'm double-binded!? Vielleicht. Die nutzlos gewordenen Berufsbezeichnungen wären vllt. ein Ansatzpunkt –

aber im Centro reduziert sich alles auf Konsumismus, selbst die Angestellten werden dort verbraucht.
Aber dass die Lektüre nicht nutzlos sei, ein paar Hinweise (bei dem Umfang lässt es sich wahrscheinlich gar nicht vermeiden, dass Schitzer "in Echt" auftauchen):

Warum reden Sie die ganze Zeit kein Wort, verdammt nochmal?“
„Noch mal“ immer auseinander, wohingegen nochmals immer zusammengeschrieben würde. Ähnliches geschieht gegen Ende der Geschichte, wenn es heißt:
Erstmal.
Wie zuvor, da eine Verkürzung des „erst einmal“.

Fälle-Falle!​

…, vielleicht wegen dem Gegensatz, das Schild und die Kreuze, …
„Wegen“ regiert an sich den Genitiv.
Nun lässt der Duden für die gesprochene Sprache – wörtl. Rede! hier, wär ja'n Ding! - den Dativ zu, schränkt aber zugleich ein, dass dann zum Dativ gegriffen werde, „wenn dem Bezugssubstantiv seinerseits ein Genitivattribut folgt“ [Duden Bd. 4, RZ 917], wobei eine doppelte Genitivbildung gar nicht erst ausgeschlossen wird.

Beweihwassern
Gibt’s die Bildung? Wenn nicht: eine schöne Wortschöpfung, wobei das Wasser sicherlich umgelautet würde wie beim „(be)wässern“.

„Es kommt wie Freddy Krueger in den Traum und tötet uns?“

„Wie wer?“ Das kommt vom Professor.
& ich frag mich als ungehobelter Klotz: Wer zum teufel ist Hardy, pardon, Fred K.?

Das wär’s dann für heute von einem, der auch nach solchen Geschichten gut schlafen kann und dem schon während der Ausbildung zum Laboranten beigebracht wurde, höchstens eine Viertelstunde Mittagsschlaf zu halten, da sonst der restliche Tag gleich mit verpennt werde. Aber für diese Weisheit bräuchte es keines MPI.

Gruß

Friedel,
der ein schönes Wochenende wünscht!

Ach so (oder besser) PS:
Ende des 8. Jh. taucht neben der hella (got. halja) im ahd. „kwala“ für die Hölle auf, in dem wir Heutigen noch die lautgleiche Qual erkennen …

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Friedel

Centro war mir unbekannt, Thalia kenne ich zwar, das mit der Muse aber war mir neu.

und das nicht nur, weil ich dem Shopping und vergleichbarem abergläubischen Zeugs nix abgewinnen kann:

Bin auch kein Fan davon, vor allem nicht zu dieser Jahreszeit, das treibt meinen Puls regelmässig nach oben, und doch: Bei einer Apokalypse sind die grossen Einkaufscenter gar nicht so unpraktisch, findet man dort neben Nahrung und Getränke auch allerlei praktische Gegenstände (wie Taschenlampen) und Unterhaltung, um sich bei Laune (oder einfach nur wach) zu halten.

Aber deuten … Eye'm double-binded!? Vielleicht. Die nutzlos gewordenen Berufsbezeichnungen wären vllt. ein Ansatzpunkt –

Ich zitiere hier einmal Jürgen Wiebicke, dessen philosophisches Radio ich sehr schätze, und der seine Zuhörer immer mit folgenden Worten verabschiedet: Grübeln Sie nicht zu viel ...

Die Anmerkung zu "nochmal" ist eingearbeitet. Bei "erstmal" gebe ich dir Recht, aber in diesem Fall möchte ich es zusammengeschrieben lassen, weil es das einzige Wort des Satzes ist, und diese Variante wirkt für mich so auseinandergerissen:

Und hier endet es. Erst mal.

Sieht nicht schön aus. Meine Duden-Ausgabe erlaubt beide Schreibweisen, empfiehlt aber die getrennte, nur hier weiche ich ausnahmsweise von der Duden-Empfehlung ab, weil es das einzige Wort im Satz ist.

Und dieses hier:

„Wegen“ regiert an sich den Genitiv.

Es würde an der Stelle einfach nicht zum Piloten passen, den sehr gestelzt klingenden Genitiv zu verwenden. Und die Duden-Regel, behaupte ich jetzt mal, ist im sogar gänzlich unbekannt.

"Beweihwassern" gibt es meines Wissens nach nicht. Ich habe auch über "beweihwässern" nachgedacht, habe aber die Variante ohne Umlaut bevorzugt, weil der Begriff das surreale Traumbild unterstreichen soll, und da passt das (in meinen Ohren leicht schräg klingende) "beweihwassern" besser.

& ich frag mich als ungehobelter Klotz: Wer zum teufel ist Hardy, pardon, Fred K.?

Na, dieser freundliche Zeitgenosse hier.

dem schon während der Ausbildung zum Laboranten beigebracht wurde, höchstens eine Viertelstunde Mittagsschlaf zu halten, da sonst der restliche Tag gleich mit verpennt werde.

Neudeutsch nennt man das glaub "power-napping". Ich habs nie ausprobiert, würde anschliessend vermutlich nicht mehr in die Gänge kommen.

Friedel,
der ein schönes Wochenende wünscht!

Vielen Dank für deinen Kommentar & die zusätzlichen Infos, die ich wieder mal daraus gelernt habe.

Das Wochenende ist vorbei, das nächste noch in weiter Ferne, daher wünsche ich dir einfach eine gute Zeit & bis zum nächsten Mal.

Grüsse,
Schwups

 

Starke Idee

Hallo Schwups,

Deine Idee hat mir gut gefallen. Deine Umsetzung ist aber noch etwas verbesserungswürdig - in Bezug auf die Logik:
- Begriff "Vorhölle/Limbus" und dazugehöriger Mythos, dazugehörige
Steigerung
des Grauens / der Qualen
- Weshalb fährt nicht nur Dein Prot. zur Hölle?
- Was soll sein Schweigegelübde? Er hat seine Frau geschlagen, oder? Weshalb
also das Versprechen zu schweigen?
- Wie kann Dein Prot. so cool an die Sache herangehen, schließlich ist er
auch nur ein Mensch und würde die Höllenqualen nicht ertragen.
- Weshalb müßen die Insassen der Vorhölle das Grauen erträumen?

und stilistisch
- ich hätte die Umgangssprache herausgenommen
- Syntax teilweise unschön

 

Hi,

das ist eine der Geschichten, die sch keine Sekunde damit aufhält, ein Szenario zu erschaffen, in dem sie plausibel ist oder in der sie sinnvoll aufgelöst werden könnte.
Die Geschichte trifft da also genau den Nerv wie damals, als man Cube das erste mal gesehen hat. Das Problem ist: Ich hab Cube halt schon gesehen.

Es ist wirklich sehr gut und spannend geschrieben, ich finde der ganze Text in dieser Form läuft grade. Es gibt aber auch keine Stelle, bei der ich sagen würde. Die gefällt mir jetzt richtig gut. Es gibt keine Figur, bei der ich sagen würde: Der hätte ich gern noch weiter zugehört, die hatte was.

Novak sagt dann: Ja, die Entpersonalisierung der Figuren im Angesicht des existentialistschen Elends sozusagen. Ja ... es ist aber auch ein bisschen eine Entgratung so eines Textes, fand ich. Der Professor, der Pilot, der Autist, die Anwältin, die Tänzerin. Das ist ja fast das Personal aus A Cabin in the woods. Nur statt "Der Komiker" hast du den Semi-Autisten aus Cube und statt "Die Jungfrau" hast du mit der Anwältin ja ... so eine Figur, die irgendwie Background und Moral liefert, so richtig ist mit der Figur nichts anzufangen - bisschen ironisch gesprochen, würde dir eine Feministin, den Text um die Ohren hauen, weil die eine Frau eine Schlampe ist und die andere nur von ihrem Mann erzählt. Also den Bechtel-Text schafft der Text hier nicht.

Eine Szene, da bricht das raus, wenn der Pilot schläft, und der Professor sagt: Lassen wir ihn doch schlafen. Das war für mich der Knackpunkt der Geschichte, weil es dort das erste Mal eine Möglichkeit gibt, innerhalb der Geschichte eine Weiche zu sehen und sich als Leser zu fragen: Würde ich ihn auch schlafen lassen?

Sonst frage ich mich: Wo ist die Seele so eines Textes? Wo ist der Spaß darin? Wo ist die zweite Ebene? Worauf will das hinaus? Was ist das Alleinstellungsmerkmal dieses Textes? Ein semi-autistischer, nicht glaubwürdiger Erzähler?

Mothman sagt, das fand ich gut, dass der Text rational anfängt und dann ins religiöse abschweift, in der Auflösung. Ich denke, der Text hat gar keine Auflösung, weil man sonst als Leser enttäuscht sein könnte. Hier hätte jedes Ende außer einem brillianten den Leser enttäuscht, deshalb gibt es hier gar kein richtiges Ende, sondern dieses Rauszoomen ins Nichts.

Also so eine Konstellation auf Spannung aufzubauen, das Problem einzuführen, das ist hier wirklich gut gemacht, für mich wäre es spannender, wenn das ganze dann noch zu Ende geführt worden wäre, in irgendeiner befriedigenden Form (das können die Cube-Filme übrigens auch nicht).

Handwerklich ist das ein hervorragender Text, deri ist viel, viel besser als die Texte, die ich sonst von dir kommentiert habe, aber z.b. bei deinem Tante Anni-Text damals, da hatte ich das Gefühl, da ist irgendwas drin, diese Frau im 2. Stock, der Feind vor der Haustür, das Ungewisse, da konnte ich mich mit identifizieren, das hatte irgendwie eine Verbindung zu mir.
Bei dem Text hier hab ich das Gefühl das ist ein zum Horror umgestaltetes Gedankenexperiment wie ich einige kenne, und an denen ich mit den Jahren den Geschmack verloren habe, ich find die auch alle furchtbar gleich.

Also dein Text ist genau die Art technokratischer Horror, die in A Cabin in the woods für "beendet" erklärt wurde. Es gibt aber sicher einen großen Markt genau dafür noch, und ich will dir den Text auch nicht madig machen. Ich weiß auch nicht, wie man ihn so verändern könnte, dass er Leuten wie mir gefällt, ohne Leute zu verprellen, die genau so einen Text mögen. Diese Zehn-Kleinen-Negerlein-Geschichten leben für mich davon, dass ich sage: Die Blonde muss überleben! Den Kiffer mag ich! Hoffentlich stirbt nicht der Dicke.
Für andere Leute ist es wichtiger, dass die Art wie die Personen sterben schön ausgearbeitet ist und dieses Unheilsschwangere schön wirkt.
Was sicher für beide Arten von Lesern wichtig ist, ist dass man dieses Gefühl hat "Was würde ich in der Situation tun" - das ist so ein gemeinsamer Nenner, das gelingt dir ja offenbar auch gut.

Also ich hab Freunde und Bekannte, die ins Kino gehen würden, um einen Film zu sehen, der nach dieser Geschichte hier gedreht wäre (lesen tun die natürlich nicht). Die kämen raus und wären sicher hochzufrieden.

Ich würde mir wünschen, dass es dir gelingt, so eine Geschichte zu erzählen und dabei die Figuren farbiger machst, mehr Wärme in den Text bringst, mehr von dir und es irgendwie schaffst so ein Horrorszenario mit etwas zu verknüpfen, zu dem ich irgendeinen Bezug hab. Die besten Horrorgeschichten haben, denke ich, irgendeine Parallele zum Leben ihrer Leser oder der Welt, in der sie leben.

Gruß
Quinn

 

Hallo Schwups,

jetzt schaff ich's auch endlich.

Erstmal kurz vorweg: Schön, dass du noch da bist, ich hatte ja halb befürchtet, du würdest jetzt nur noch Sci-Fi schreiben. ;)
Spaß.

Ja, wow, das ist ein echt interessantes Teil, das du da fabriziert hast. Mir hat's sehr gefallen.
Ich mag auch sehr diese Szenarien, in die Charaktere geworfen werden, um dann zu untersuchen, wie sie sich verhalten. Spätestens, als du das dann noch mit Schlaflosigkeit kombiniert hast, hattest du mich so was von, denn das finde ich auch ein sehr interessantes Thema in Hinsicht auf Horror, die Verzerrung der Realität und so.
Das Setting ist relativ karg, und die Charaktere haben natürlich jeder seine Funtkion, das haben andere schon gesagt, aber mich hat das auch nicht gestört, es macht den Blick sozusagen frei auf das Wesentliche. Und was dem Ganzen dann noch mal einen großen Reiz gibt, ist die Perspektive des Protagonisten, das ist natürlich was ganz Spezielles, was dann auch einige Kunstgriffe ermöglicht hat, dass er nur beobachtet, erst nichts zu seiner Frau sagen will usw.
Diese ganzen interessanten Sachen hast du dann sehr dicht und spannend entwickelt, man merkt, dass das sehr sorgfältig gearbeitet ist und da eine Menge hintersteckt - ganz großes Kompliment!
Ein Punkt, der mir auch in anderen deiner Texte aufgefallen ist: Ich finde, es gelingt dir sehr gut, Dinge einflechtend zu erklären. Allein die ersten paar Sätze - was da "so nebenbei" an Informationen rüberkommt; großartig. (Da dachte ich schon: Yees!)
Das war's eigentlich schon im Groben, was ich sagen wollte, der Text wurde ja auch schon ausgiebig auseinandergepflückt. ;)
Eine einzige Textstelle zum Abschluss:

Ohne zu zögern greife ich in seine Hand.
Evtl. einfach "greife ich zu"?

Sehr gerne und gespannt gelesen.
Absolut verdiente Empfehlung!

Viele Grüße,
Maeuser

 

Also echt, lieber Quinn, was machst du da mit mir?
Das hatte ich geschrieben:

Was ich eigentlich nicht so mag, das ist, Personen nur die Berufsbezeichnungen zu geben. Hier gefällt es mir aber. Es unterstreicht die beklemmende, morbide Atmosphäre, in der jeder seiner Identität und seiner Individualität beraubt wird. Vor dem Schlaf sind wir alle gleich.

Und das machst du dann daraus:
Novak sagt dann: Ja, die Entpersonalisierung der Figuren im Angesicht des existentialistschen Elends sozusagen.
Da kracht mir ja der Finger, der das oben schrieb.
Nee, Existenzialimus hat in Horrorgeschichten nichts zu suchen. :D
Sagt Novak, die sich missverstanden zitiert fühlt.

Jetzt im Ernst, ist schon in Ordnung, wenn du das unbedingt rauslesen willst, aber mal in echt, so geschwollen würd ich nie kommentieren.
Forumsregel Nr. 10: wird mit Cybertorte von mind 50 cm Durchmesser geahndet. Ich freu mich schon. Mmmmhh!

 

Hallo Felix-Florian

Deine Idee hat mir gut gefallen.

Vielen Dank, das freut mich.

Begriff "Vorhölle/Limbus" und dazugehöriger Mythos, dazugehörige Steigerung des Grauens / der Qualen

So ganz verstehe ich nicht, was du meinst. Störst du dich an den Begrifflichkeiten und ihrem religiösen Bezug? Letzten Endes ist es die Bezeichnung, die der Erzähler der gesamten Situation gibt.

- Weshalb fährt nicht nur Dein Prot. zur Hölle?
- Was soll sein Schweigegelübde? Er hat seine Frau geschlagen, oder? Weshalb
also das Versprechen zu schweigen?
- Wie kann Dein Prot. so cool an die Sache herangehen, schließlich ist er
auch nur ein Mensch und würde die Höllenqualen nicht ertragen.
- Weshalb müßen die Insassen der Vorhölle das Grauen erträumen?

Ich merke schon, die Geschichte ist bei dir nicht ganz so angekommen wie ich sie gemeint habe. Das ist nicht deine Schuld, anderen Lesern ging es ähnlich - meinen vorherigen Anmerkungen kannst du schon vieles entnehmen, um diese Fragen zu beantworten. Letzten Endes fährt niemand zur Hölle - die Menschen werden wahnsinnig, während sie schlafen, aber warum das passiert und wo sie dann landen, bleibt grösstenteils unklar. Der Pilot gibt durch seinen Traum einen Hinweis, was geschehen könnte.
Der Erzähler hat seine Freundin nicht geschlagen, sondern erwürgt, und daraufhin beschlossen, nichts mehr zu reden, als eine Art Busse. Er ist bereit, jede Strafe für sein Verbrechen zu aktzeptieren, und er begreift die Situation um sich herum - das Sterben der Menschen, wenn sie schlafen - als einen ersten Schritt dieser Strafe. Tatsächlich - so zumindest meine Absicht - hängt beides aber nicht zusammen. Er liefert so nur eine Erklärung für sich selbst, und er geht so cool an die Sache heran, weil das die Strafe ist, die zu ertragen er versprochen hat. Er will sie ertragen, weil er hofft, irgendwie seine Freundin wieder zu treffen.

und stilistisch
- ich hätte die Umgangssprache herausgenommen
- Syntax teilweise unschön

Das mit der Umgangssprache ist immer so eine Sache - den einen gefällts, den anderen nicht. Ich finde nicht, dass ich es hier mit der Umgangssprache übertrieben habe, aber wenn du bspw. die grammatisch eigentlich falsche Genitiv-Verwendung o.ä. ansprichst: Die werde ich drinlassen, weil sie der Situation angemessener klingt in meinen Augen.

Zum zweiten Teil, der teilweise unschönen Syntax, kann ich leider ohne konkrete Beispiele nichts weiter sagen.

Vielen Dank für das Lesen und deine Rückmeldung.

Hallo apollox

Ich sage ganz einfach nur:genial!

Dann sage ich ganz einfach nur: Vielen Dank für deine Rückmeldung und schön, dass dir die Geschichte rundum gefallen hat.

Hallo Quinn

Das freut mich sehr, dass du mir Rückmeldung zu dieser Geschichte gibst. Ich hab ja schon unter deinen Beitrag meiner letzten Geschichte geschrieben, dass ich deine Kommentare sehr schätze und auch viel von ihnen lerne. Gerade deine allgemeinen Anmerkungen unter meiner letzten Geschichte, was Füllwörter, Pronomen und die Verwendung von Standard-Adjektiven angeht, habe ich hier beherzigt.

das ist eine der Geschichten, die sch keine Sekunde damit aufhält, ein Szenario zu erschaffen, in dem sie plausibel ist oder in der sie sinnvoll aufgelöst werden könnte.
Die Geschichte trifft da also genau den Nerv wie damals, als man Cube das erste mal gesehen hat. Das Problem ist: Ich hab Cube halt schon gesehen.

Plausibilität in diesem Genre ist immer so eine Sache, ich finde, im Rahmen der von ihr geschaffenen Voraussetzungen ist sie plausibel. Natürlich gibt es Anlehnungen an andere Geschichten / Filme. Cube hatte ich jetzt weniger im Sinn, ist aber sicher richtig. Night of the living dead wird im Text selbst ja zweimal erwähnt, auch Nightmare on Elm Street. Insofern ist das alles nichts, was man noch nie gelesen oder gehört hätte.

Es ist wirklich sehr gut und spannend geschrieben, ich finde der ganze Text in dieser Form läuft grade. Es gibt aber auch keine Stelle, bei der ich sagen würde. Die gefällt mir jetzt richtig gut. Es gibt keine Figur, bei der ich sagen würde: Der hätte ich gern noch weiter zugehört, die hatte was.

Vielleicht, weil ich bei keiner Figur wirklich stehenbleibe. Das ist der grosse Unterschied zu meinem letzten Text hier (Tiefe Wasser): Da wurde jede Figur erstmal in einem eigenen Absatz eingeführt, es gab komplexe Beziehungen zwischen ihnen, versteckte Konflikte etc. In dieser Geschichte ist alles einfacher: Jede Figur hat eine Rolle, und aus dieser Rolle bricht sie - vom Erzähler selbst am Ende vielleicht abgesehen - auch nicht aus. Es gibt da keine Überraschungen bei den Figuren, keine komplizierten Charaktere, keine innere Wandlung oder dergleichen.

Der Professor, der Pilot, der Autist, die Anwältin, die Tänzerin. Das ist ja fast das Personal aus A Cabin in the woods.

Ich habe den Film leider noch nicht gesehen, kenne aber die Idee und die Art der Umsetzung. Das hier ist ja so ein klassischer Survival-Horror, und innerhalb diesen Regeln bewegt er sich auch. Die Berufe sind da gar nicht so bedeutend, wichtiger sind eben die Rollen. Da gibt es jemanden, der aktiv an einer Lösung arbeitet, jemanden, der sich dagegen sträubt, da gibt es unterschiedliche Ansichten bzgl. des Vorgehens und einen daraus resultierenden Streit. Es gibt Grüppchen-Bildung und Misstrauen untereinander. Das ist in Cube so, das ist in Night of the living dead so, weil es einfach gut funktioniert. Deshalb rückt dann auch irgendwann die "äussere" Gefahr (zumindest teilweise) in den Hintergrund, weil das Konfliktpotential zwischen den Figuren eine eigene Dynamik in die Geschichte bringt.

Deshalb gibt es hier auch diese festgelegten Rollen, deshalb vermutlich gefallen dir auch die Figuren nicht so gut: Man hat das Gefühl, man kennt das alles schon. Mein Ziel bei dieser Geschichte war es, den Leser von Anfang an zu fesseln und praktisch durch die Geschichte zu "jagen", wer den ersten Absatz liest, soll unbedingt auch den zweiten lesen usw. Die Spannung und die Dramatik steht hier im Vordergrund, auch, weil ich hier einen Gegensatz zur letzten Geschichte setzen wollte: Die war viel schwerfälliger, fast schon
überladen, da hab ich ja selbst geschrieben, es ist beinahe zuviel. Hier wollte ich eine Geschichte schreiben, die keinen "Ballast" mit sich rumschleppt, die gleich richtig einsteigt und das Tempo nie rausnimmt.

Sonst frage ich mich: Wo ist die Seele so eines Textes? Wo ist der Spaß darin? Wo ist die zweite Ebene?

Was den Spass angeht: Ich hatte ihn beim Schreiben. Sehr viel sogar, seit langem mal wieder. Für den Leser ist es in erster Linie Unterhaltung. Neulich hat jemand in seiner Kritik auch mal den Autor gefragt: Was hast du eigentlich mit der Geschichte bezweckt, und jetzt sage nicht, du wolltest nur unterhalten. Ich finde, man kann auch eine Geschichte nur deshalb schreiben, weil das Schreiben (und dann hoffentlich auch das Lesen) Spass macht und unterhält.
Was hier schon beabsichtigt war: Der Leser sollte sich fragen, wie er in einer solchen Situation reagieren würde. Das kam ja bei dir auch so an. Und ich fand auch nachher die Deutung des Erzählers mit der Vorhölle, dem religiösen Bezug, die Anspielung auf Dante oder (ein wenig versteckt) auf die Orestie mit den Rachegöttinnen, die zu Wohlgesinnten werden, interessant.
Und auch der Erzähler hatte für mich seinen Reiz: Ein Ich-Erzähler, der kein Wort selbst spricht, der nur beschreibt, ja vielleicht semi-autistisch ist. Das hatte für mich alles seinen Reiz, der dem Text in meinen Augen auch Tiefe gibt. Auch die Erklärung, die ich für das Verhalten des Erzählers und die Tatsache, dass er überhaupt schreibt, liefere, erscheint mir plausibel und passend.

Ich denke, der Text hat gar keine Auflösung, weil man sonst als Leser enttäuscht sein könnte. Hier hätte jedes Ende außer einem brillianten den Leser enttäuscht, deshalb gibt es hier gar kein richtiges Ende, sondern dieses Rauszoomen ins Nichts.

Ja das ist so. Der Text schafft eine Situation, die unweigerlich zu diesem Ende führen muss. Ich habe da auch viel drüber nachgedacht, war mir auch beim Beginn noch gar nicht sicher, wie der Text enden würde. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten:

(a) Das dargestellt Szenario, dass Menschen im Schlaf sterben, ist wirklich so und spielt sich nicht nur in der Vorstellung des Erzählers ab. Dann muss der Erzähler am Ende zwangsläufig sterben.
(b) Der Erzähler bildet sich das alles nur ein. Dann wäre es auf ein Ende ähnlich wie in Identität hinausgelaufen. Das kennt man halt auch schon, und dann würde auch der Traum-Vorwurf von floritiv schwerer wiegen.

Bei (a) gibt es noch etliche Unterarten, zum Beispiel hätte ich mich auch viel mehr auf die Frage konzentrieren können, wie kann man sich überhaupt so lange wachhalten? Welche Schmerzen kann man sich wie noch zufügen?
Aber wie schon gesagt, dann landet der Text schnell in der Torture-Porn-Ecke, und da wollte ich ihn nicht haben. Ich fand das Ende mit der Erklärung des Erzählers dann noch einigermassen originell, sicher nicht brilliant, aber doch etwas, mit dem man nicht unbedingt rechnen würde.

Also ich hab Freunde und Bekannte, die ins Kino gehen würden, um einen Film zu sehen, der nach dieser Geschichte hier gedreht wäre (lesen tun die natürlich nicht). Die kämen raus und wären sicher hochzufrieden.

Ja, zu denen gehöre ich vermutlich auch (mit dem Unterschied, dass ich auch lese). Ich finde das sind alles gute Beobachtungen, was du schreibst, was den technokratischen Horror angeht, das Gedankenexperiment, ich will dem auch gar nicht widersprechen. Es ist Survival-Horror nach Rezept, oder besser, nach klassischen Spannungselementen. Im Prinzip funktionierte Tante Anni genauso, vielleicht sogar noch eine Spur geradliniger als dieser Text hier. Aber es stimmt, da war ich näher dran an den Figuren, da war auch mehr Wärme drin. Hier herrscht die von dir angesprochene Distanz, das Kühle, was aber auch natürlich ein Stück so beabsichtigt war und die Distanz des Erzählers zu den anderen Figuren, seine Teilnahmslosigkeit, unterstreichen soll.

Ich würde mir wünschen, dass es dir gelingt, so eine Geschichte zu erzählen und dabei die Figuren farbiger machst, mehr Wärme in den Text bringst, mehr von dir und es irgendwie schaffst so ein Horrorszenario mit etwas zu verknüpfen, zu dem ich irgendeinen Bezug hab. Die besten Horrorgeschichten haben, denke ich, irgendeine Parallele zum Leben ihrer Leser oder der Welt, in der sie leben.

Vielen Dank für diese Rückmeldung, dem letzten Satz stimme ich uneingeschränkt zu. Auch das Lob, was das Handwerkliche angeht, hat mich wirklich sehr gefreut.

Hallo Maeuser

Schön, dass du noch da bist, ich hatte ja halb befürchtet, du würdest jetzt nur noch Sci-Fi schreiben.

Kann ja alles noch kommen ... vermutlich werd ich mich im Neuen Jahr schonmal in ne andere Rubrik vorarbeiten, aber sicher auch immer wieder gern hierher zurückkommen, wie in ein liebgewordenes Haus mit einem Kamin und einem gemütlichen Sessel.

Spätestens, als du das dann noch mit Schlaflosigkeit kombiniert hast, hattest du mich so was von, denn das finde ich auch ein sehr interessantes Thema in Hinsicht auf Horror, die Verzerrung der Realität und so.

Ja ich war schon länger an dem Thema dran, wusste aber nie so Recht, wie man es in einer Geschichte verarbeiten kann. Ich finde auch, das gibt viel her, wenn man da mal ein bisschen recherchiert, da tun sich schon Abgründe auf, gerade was die Halluzinationen angeht oder auch Folter durch Schlafentzug.

Das Setting ist relativ karg, und die Charaktere haben natürlich jeder seine Funtkion, das haben andere schon gesagt, aber mich hat das auch nicht gestört, es macht den Blick sozusagen frei auf das Wesentliche.

Genau, das ist auch dieses technokratische, was Quinn angesprochen hat, und das Gefühl, dass man die Charaktere alle schon kennt. Aber wie gesagt, ich wollte da ein bisschen weg von so überladenen Figuren wie in meinem letzten Text.

Und was dem Ganzen dann noch mal einen großen Reiz gibt, ist die Perspektive des Protagonisten, das ist natürlich was ganz Spezielles, was dann auch einige Kunstgriffe ermöglicht hat, dass er nur beobachtet, erst nichts zu seiner Frau sagen will usw.

Ich fand es auch spannend, mir da so Gedankenspiele auszudenken wie das Zählen der Konsonanten oder das Kopfrechnen. Schön wenn dir das auch gefallen hat.

Diese ganzen interessanten Sachen hast du dann sehr dicht und spannend entwickelt, man merkt, dass das sehr sorgfältig gearbeitet ist und da eine Menge hintersteckt - ganz großes Kompliment!
Ein Punkt, der mir auch in anderen deiner Texte aufgefallen ist: Ich finde, es gelingt dir sehr gut, Dinge einflechtend zu erklären. Allein die ersten paar Sätze - was da "so nebenbei" an Informationen rüberkommt; großartig.

Wow, sehr schön, das freut mich riesig, wenn das so gut funktioniert hat.

Evtl. einfach "greife ich zu"?

Das hatte ich zuerst, hat sich beim laut lesen aber mit dem "Ich stimme dem zu." kurz vorher gebissen. Und dann sind da auch noch zwei "zu" von Infinitivgruppen in der Gegend - es wäre dann wohl etwas zu viel.

Vielen Dank Maeuser für deinen Kommentar, über den ich mich wie immer sehr gefreut habe!

Ich wünsche euch allen - auch natürlich dir, liebe Novak, trotz des Falsch-Verstanden-Wurdens - einen besinnlichen 4. Advent und falls man sich nicht mehr hört ruhige und erholsame Festtage.

Viele Grüsse,
Schwups

 

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