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Vorhölle
Immer wieder schlägt die Anwältin ihren Kopf gegen die Wand.
Ich kauere auf meinem Stuhl und beobachte sie. Jeder Aufprall tönt dumpf, überhaupt klingt alles seit zwei Tagen tonlos. Seltsam, wie sich die Sinne verändern.
Die Kopfstöße der Anwältin sind nicht hart genug für ernste Verletzungen, deshalb schreitet der Professor nicht ein. Ich frage mich, ob sie sich gleichmäßig bewegt und überprüfe das. An der Wand hängt eine Uhr, eine von den alten, deren großer Zeiger mit jeder Bewegung klackt. Ich habe eine Strichliste angelegt, um die Minuten zu zählen. Jedes Klacken führt zu einem Strich, fünf Striche bilden ein Gatter, zwölf Gatter eine Zeile, und nach zwölf Zeilen ist eine Seite gefüllt. Ich habe keine Minute verpasst und sieben Seiten voller Striche.
Insgesamt sind wir fünf. Bevor das Sterben begann, kannte keiner den anderen.
Die Kopfstöße der Anwältin erfolgen unregelmäßig.
Wir befinden uns in einem Einkaufszentrum, genauer gesagt im Aufenthaltsraum für Mitarbeiter der Elektronikabteilung und sind im Augenblick zu dritt. Der Professor sitzt an einem Funkgerät und wechselt Kanäle, auf denen niemand mehr sendet. Die Fernseh- und Radioprogramme fielen zuerst aus, kurze Zeit später die Internetverbindungen, anschließend der Strom. Der Professor hat ein spitzes Kinn – ich glaube nicht, dass ich ihm unter normalen Umständen trauen würde. Aber er klingt, als hätte er einen Plan, und im Notfall hören wir Menschen auf den mit dem Plan. Seine fünf Regeln prangen wie die Gesetze der Animal Farm an der Wand. Er sagt, wenn wir diese Regeln befolgen, überleben wir.
Der Pilot und die Tänzerin sind nebenan in einer Art Ruheraum; dort steht ein Bett. Alle vier bis sechs Stunden gehen sie dahin. Auch dafür habe ich eine Strichliste, hauptsächlich, weil mich das Zählen beschäftigt. Das Stöhnen der beiden dringt zu uns; es klingt immer mehr, als würden hungrige Wölfe um Futter kämpfen. Jeder hat seine Art, mit der Situation umzugehen.
Die Anwältin hat sich beruhigt. Sie befolgt die vierte Regel am häufigsten von uns – seit wir hier sind, war sie über dreißig Mal duschen. Gemäß zweiter Regel dürfen wir uns nicht zu sehr aufteilen. Am riskantesten ist die Benutzung der Toilette, deshalb gehen der Pilot und die Tänzerin auch dort zusammen hin. Wir anderen sind noch zu stolz dafür.
Jeder hat seine Art zu überleben.
Ich führe Listen und schreibe.
Worüber ich schweigen werde: meine Frau. Ihr Name war Rebecca. Mehr werde ich über sie nicht erzählen.
„Was schreiben Sie da die ganze Zeit?“
Die Anwältin will reden. Ihr vom Duschen aufgequollenes Gesicht schwebt wie ein Lampion vor meinem, ihre Haut wirkt im grellen Licht durchsichtig. Die letzte Regel befiehlt, den Raum maximal zu erhellen.
„Sind wohl Schriftsteller, hm?“ Sie trinkt mit Guarana-Pulver versetztes Wasser und raucht Kette. Der Bluterguss auf ihrer Stirn erinnert an einen untergründigen Vulkan.
Die Uhr klackt, und ich mache einen Strich.
„Und was sollen die ganzen Listen?“
Geplatzte Adern quellen durch das Weiß ihrer Augen, bilden rote Flüsse und münden in den Pupillen.
„Mein Mann hat auch geschrieben. War so’n Horrorfan. Hat ständig diese Romero-Filme geschaut und so. Kennen Sie die?“
Sie langweilt mich, und als Ablenkung zähle ich die doppelten Konsonanten ihrer Wörter.
„Er war Lehrer, hat aber von einer Karriere als Autor geträumt. Also hat er ein Buch geschrieben, über sechs Jahre lang. Hat es an Verlage geschickt, Absagen bekommen und umgeschrieben. Und so weiter. Sechs Jahre, immer dasselbe Buch, können Sie sich das vorstellen?“
Meine Augen ruhen auf ihren Lippen.
„Es hieß Fasten und war scheußlich. Es ging um vier Menschen, die sechzig Tage in einem Raum verbringen müssen und nichts zu essen kriegen. Jeder hat ein Skalpell, und das einzige, was sie essen dürfen, sind ihre Körperteile. Aber niemand darf die eigenen essen. Diese vier Menschen können nur überleben, wenn sie sich gegenseitig mit Teilen ihres Körpers füttern. Was halten Sie davon?“
Ich sage nichts, denke dreizehn und zähle weiter.
„Jeder hat ihm gesagt, was das für ein Schund ist, aber er wollt’s nicht einsehen. Hat ständig von der psychologischen Komponente geredet. Es geht nicht um Blut, hat er gesagt. Es geht darum, dass diese Menschen in etwas festsitzen, was der Psychologe Doppelbindung nennt. Wenn man überleben will, braucht man die anderen – aber wenn die überleben sollen, stirbt man selbst. Das macht einen wahnsinnig, hat mein Mann gesagt, und man wird verrückt, lange bevor man verhungert oder verblutet.“
Sie bläst Rauchschwaden in die Luft. Ich bin mit dem Zählen durcheinandergekommen.
„Was ist aus ihm geworden?“, will der Professor wissen.
„Aus wem?“
„Ihrem Mann. Was ist mit ihm passiert?“
Die Anwältin lacht oder hustet. Fährt sich mit der Hand durchs splissige Haar. „Wir werden krepieren. Jeder von uns. Die da drüben können ficken, bis sie schwarz werden, aber auch sie gehen drauf.“
Der Professor schüttelt den Kopf, murmelt von seinen Regeln.
„Das hier“, sagt die Anwältin. „Das kann keiner überleben.“ Sie klingt heiser. „Wir verrecken hier, alle zusammen.“
Der Minutenzeiger klackt. Nächster Strich. Mich beschleicht der Verdacht, einen vergessen zu haben, und das finde ich beunruhigender als alles andere.
Der Pilot hat einen Entschluss gefasst.
„Wir verschwinden, sie und ich.“ Er nickt in Richtung der Tänzerin, hält ihre Hand, die wie eine Klaue aussieht. In den letzten beiden Tagen ist diese Frau um Jahre gealtert, ist vertrocknet, vielleicht wegen der vielen vergossenen Tränen. „Wer mitkommen will, kann das ja tun.“
„Lassen Sie das“, sagt der Professor. „Sie bleiben hier. Wir können nur gemeinsam überleben.“
„Bringt doch nix. Wir wollen probieren, andere Menschen zu treffen. Vielleicht ist ja jemand dabei, der weiß, wie –“
„Andere Menschen?“ Der Professor springt auf, Speicheltropfen sprenkeln den Tisch vor ihm. „Wie denn? Draußen, in den Straßen? Niemand, der bei Verstand ist, verschwendet unnötig Kraft. Wenn was passiert, erfahren wir es hier drin zuerst. Wir haben CB-Funk. Einen Computer. Fernsehen.“
„Ist doch alles tot. Kapieren Sie nicht, dass das ein Wettkampf gegen die Zeit ist? Den können wir nur verlieren.“
„Meine Worte“, sagt die Anwältin. „Auf den Trichter bin ich schon vor Stunden gekommen.“
Die Tänzerin schwankt, und bevor sie umkippt, drückt sie der Pilot an sich.
Der Professor schüttelt den Kopf, und ich frage mich, worum es ihm geht. Vielleicht steht er auf die Tänzerin und ärgert sich, dass ihm die Idee mit dem Nebenzimmer nicht als sechste Regel eingefallen ist. Viel Licht, duschen, zusammenbleiben. Das waren die Vorschläge dieses Theoretikers, der Pilot war da pragmatischer. Und so schnell, wie die Tänzerin mitgemacht hat, ist ihre Berufsbezeichnung höchstwahrscheinlich ein Euphemismus.
„Wenn Sie da rausgehen, sind Sie allein. Und vermutlich in ein paar Stunden tot.“
„Hör nicht auf ihn“, sagt die Tänzerin, die vor Erschöpfung in abgehackten Sätzen spricht. „Er hat schon vor zwei Tagen gesagt. Dass Hilfe kommt. Lass uns abhauen.“
Der Pilot blickt zwischen der Tänzerin und dem Professor hin und her, fährt mit der Hand über sein zerknittertes Gesicht, schlottert – eine Nebenwirkung des Ephedrins. „Herrgott, ich weiß doch auch nicht. Mir platzt gleich der Schädel.“
„Hören Sie“, sagt der Professor, „ich weiß, was Sie meinen. Und Sie haben recht. Wir können so nicht ewig weitermachen. Wenn es so weitergeht, halten wir keine zwei Tage mehr durch. Aber es gibt eine Möglichkeit, wie wir unsere Zeit verlängern können.“
Es ist anstrengend, gleichzeitig der Unterhaltung und dem Minutenzeiger zu folgen.
„Mir ist das gestern eingefallen. Und ich hätte es früher vorgeschlagen, wenn der Plan nicht einen großen Nachteil hätte.“
„Und der wäre?“, fragt der Pilot.
„Dass wahrscheinlich einer von uns dabei sterben wird.“
Die Anwältin pfeift durch die Zähne. „Schlau“, sagt sie.
„Was meinen Sie?“, wiederholt der Pilot, wütend wie ein Schüler, der an der Division scheitert.
„Er meint“, sagt die Anwältin, „wir sollen schlafen.“
Kurze Stille. Das verbotene Wort ist gefallen.
Die Tänzerin reißt ihre Augen auf, abgelagerter Schleim zieht Fäden vor ihren Pupillen. „Nein. Bitte nicht. Haben Sie gesehen. Was passiert. Wenn sie schlafen?“
Der Professor nickt. „Ich weiß, was passiert. Meine Idee –“
Der Körper der Tänzerin bebt, sie reißt sich vom Piloten los. „Haben Sie es. Gesehen?“
„Hören Sie mir doch zu. Meine Idee ist, dass wir nur für kurze Zeit schlafen. Ein paar Minuten. Das machen wir abwechselnd, immer länger. Und so finden wir raus, wie lange es geht, bis – bis – nun, bis –“
„Nein.“ Die Tänzerin kotzt dem Professor die Worte ins Gesicht. „Niemals. Niemals.“
„Und wenn wir das wissen?“, will der Pilot wissen.
Der Professor zuckt mit den Schultern. „Dann kennen die Übrigen die Grenze, bis zu der Schlaf möglich ist. Wir müssen das versuchen, wenn keine Hilfe kommt. Wir können ja nicht ewig wach bleiben.“
Bis auf das Schluchzen der Tänzerin wird es still, und ich schaue in alle vier Gesichter.
Papieren, sumpfig. Wie aufgeweichte Masken.
Der Professor schreibt Zahlen von 1 bis 5 auf Zettel, faltet sie identisch zusammen und legt sie vor sich auf den Tisch. „So ist es fair. Die Nummern sind die Reihenfolge, in der wir schlafen. Nummer 1 fängt an, und so weiter. Es sei denn, jemand möchte freiwillig beginnen.“
Keine Wortmeldung. Der Kopf der Tänzerin pendelt hin und her, sie flüstert Unverständliches.
„Ich schlage vor, wir arbeiten uns in Schritten von fünfzehn Minuten vorwärts. Weniger ist sinnlos. Wenn alles gut geht, haben wir am Ende fünfundsiebzig Minuten geschafft. Das rettet unsere Leben.“
Weder seine Stimme noch seine Körpersprache strahlen Zuversicht aus. Er fällt immer mehr in sich zusammen, steht und sitzt mit jeder Stunde buckliger. Vermutlich weiß er, dass wir den Versuch nach der Nummer 1 abbrechen werden.
„Also, was ist? Ich weiß nicht, was wir sonst tun sollen. Wenn jemand eine bessere Idee hat, wäre jetzt der passende Moment dafür.“
„Ich mach da nicht mit“, sagt die Tänzerin, die Haut weiß, den Blick auf den Fußboden gerichtet. „Ich werd nicht schlafen. Nicht eine Sekunde.“
Der Pilot legt einen Arm um ihre Schulter. „Lass es uns versuchen, ja? Früher oder später schlafen wir eh ein, also lass es uns kontrolliert machen. Vielleicht hat er recht. Vielleicht dürfen wir einfach nicht zu lange schlafen.“
Die Tänzerin weint. „Ich kann nicht mehr. Versteh das halt. Ich kann. Nicht mehr.“
„Letale familiäre Insomnie“, sagt die Anwältin. „Kennen Sie das? Die Betroffenen erreichen die Tiefschlafphase nicht mehr. Anfangs sind sie nur müde. Können sich nicht mehr richtig konzentrieren. Schon einfache Handgriffe machen Probleme. Ähnlich wie bei uns jetzt. Mit der Zeit kommen Halluzinationen dazu. Die Betroffenen denken, sie würden träumen, dabei sind sie hellwach. Irgendwann können sie gar nicht mehr schlafen. Sie krampfen. Machen sich in die Hose und so. Am Ende fallen sie in ein Koma, und das war’s.“
„Woher wissen Sie das alles?“, fragt der Pilot und wird ignoriert.
„Es dauert ein Jahr oder so. Heilung gibt’s keine. Wenn wir nicht wenigstens einen leichten Schlaf kriegen, werden wir denselben Verlauf in sieben Tagen durchmachen. Wollen Sie das? Wenn die ersten Halluzinationen kommen, ist es zu spät. Dann können Sie nichts mehr frei entscheiden.“
Die Tänzerin hat ihre Kopfschwingungen eingestellt und blickt die Anwältin stumm an.
Der Professor nimmt die Zettel in die Hand. „Ich stimme dem zu. Jetzt haben wir noch die Wahl. Es wäre fahrlässig, die nicht zu nutzen.“
Er hält mir die gefalteten Zettel unter die Nase. „Ziehen Sie.“
Ohne zu zögern greife ich in seine Hand. In meinem Kopf ertönt ein Sirren, und drei neugierige Augenpaare sowie meins schauen auf den auseinandergefalteten Zettel. Er zeigt die 4.
Die Anwältin zieht als Nächste.
Um mich abzulenken, multipliziere ich vier wieder und wieder mit sich selbst.
Die Anwältin stöhnt, während Zahlen mein Bewusstsein fluten. Auf ihrem Zettel steht die 3.
„Jetzt Sie“, sagt der Professor und hält der Tänzerin die Zettel hin. Sie weicht zurück, dreht sich weg wie ein Kind, das nicht essen will.
„Ich ziehe“, sagt der Pilot. Seine Hände zittern, er bekommt den Zettel kaum auseinander. „Zwei“, ruft er, als ich bei der ersten fünfstelligen Zahl ankomme, deren Multiplikation mit vier mich vielleicht überfordert. Ich kann nicht sagen, ob der Pilot erleichtert oder ängstlich klingt.
„Und jetzt Sie“, wiederholt der Professor zur Tänzerin. In seiner offenen Hand liegen noch zwei Zettel. Einer davon ist das große Los.
Die Zahlen in meinem Kopf fallen in ihre Ziffern auseinander. Mir wird schwindlig.
„Nein.“
„Ziehen Sie! Wir haben gemeinsam entschieden. Keiner drückt sich.“
Sie schüttelt den Kopf. Ich frage mich, wie aus diesen kleinen Augen so viele Tränen fließen können. „Bitte.“ Sie blickt uns reihum an, am Ende den Piloten, doch niemand kann ihr helfen. Niemand will es.
„Gut, dann eben so“, sagt der Professor und wirft ihr einen Zettel in den Schoß. Er öffnet den eigenen, betrachtet ihn lange und zeigt ihn in die Runde: 5.
Die Tänzerin springt von ihrem Stuhl auf, der ungeöffnete Zettel fällt auf den Boden. „Nein“, schreit sie. „Das ist – das ist Betrug. Ich wollte den nicht.“
„Ich hab Sie zweimal gefragt, und Sie wollten nicht ziehen. Jetzt ist entschieden. Sie fangen an.“
„Nein! Das war Absicht! Das war Absicht! Damit Sie als Letzter dran sind.“
Sie legt beide Arme an den Körper, geht in die Hocke und brüllt. Ihr Gesicht läuft dunkelrot an, der Schrei wird wie ein Querschläger von den Wänden zurückgeworfen. Die Anwältin hält sich die Ohren zu, ruft: „Hören Sie auf.“
Stattdessen wird die Tänzerin noch lauter. Der Pilot macht einen Schritt auf sie zu, nennt ihren Namen, und in diesem Moment blitzt ein Gegenstand in ihrer Hand auf. Ich erkenne das Messer erst, als sie es über ihre Kehle zieht und der Schrei in ein Gurgeln übergeht. Blut quillt über ihren Körper. Alle brüllen und taumeln durch den Raum wie Planeten, deren Umlaufbahnen zusammenbrechen, weil ihre Sonne stirbt. Erst als die Tänzerin niedersackt, wirft sich der Pilot auf sie, hält ihren Kopf und weint. Es klingt leise und weit entfernt.
Ich habe das Bild vor Augen, wie er im Nebenzimmer mit ihrem besudelten Körper kopuliert. Eben sind wir Zeugen geworden, wie sich ein Mensch aufschlitzt, um nicht schlafen zu müssen. Wie weit mag dann ein anderer gehen, um wachzubleiben?
Wie ein Leichnam liegt der Pilot auf dem Sofa.
„Ich kann unmöglich einschlafen“, sagt er.
Gemäß meiner Liste ist die Tänzerin seit sieben Stunden und zweiundzwanzig Minuten tot. Es wurde diskutiert, ihre Leiche aus dem Aufenthaltsraum zu schaffen. Als die Anwältin den Einwand brachte, das Blut und sein metallischer Geruch würden davon nicht verschwinden, wurde es für einfacher befunden, dass die Lebenden statt der Toten den Raum wechseln.
Jetzt sind wir in der Leseecke einer Buchhandlung. Ich vermisse das Klacken des Minutenzeigers und muss die Uhr an der Wand noch aufmerksamer beobachten.
„Wie erkennen Sie, ob ich schlafe? Ich meine, braucht man dafür nicht irgendwelche Geräte, die Gehirnströme oder so was messen?“
„Ja“, sagt der Professor. „Nur erstens haben wir solche Geräte nicht hier, und zweitens wüsste auch keiner von uns, wie man die anschließt und auswertet. Wir machen das auf die Hausfrauenart: Ich hebe Ihren Arm in die Luft, wenn er zurückfällt, definieren wir das als Schlaf. Was Besseres weiß ich nicht.“
Durch den Tod der Tänzerin rückte jeder von uns in der Liste um einen Platz nach vorne.
„Eine Viertelstunde, ja? Dann wecken Sie mich auf, versprochen?“
Der Professor nickt. „Natürlich. Wie abgemacht. Wenn wir alle an der Reihe waren, haben wir eine Stunde geschafft. Das reicht. Wenn wir uns abwechseln, kann jeder von uns alle drei Stunden eine Stunde schlafen. Später können auch zwei gleichzeitig schlafen.“
„Warum erst später?“, will die Anwältin wissen.
„Die Regeln gelten erst mal weiterhin. Je größer die Gruppe der Wachen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass einer einschläft.“
„Wir könnten Wecker stellen.“
„Klar. Wenn Sie Ihr Leben einem Wecker anvertrauen wollen.“
Die Anwältin schweigt, und wir warten. Ich spüre, wie meine Gedanken entfliehen. Um mich zu konzentrieren, gehe ich eine alphabetische Liste aller Fremdwörter durch, die mir einfallen.
Absolution. Agitation. Agonie.
Wir stehen vor dem Sofa wie vor dem offenen Sarg einer Aufbahrung.
Erinyen. Euphemismus. Exegese, Exodus.
Gleichzeitig führe ich meine Minutenliste fort, und nach siebzehn Strichen schließt der Pilot erstmals die Augen. Als der Professor drei Striche später den Arm des Piloten hebt, bleibt das Körperteil in der Luft hängen, und der Pilot öffnet die Augen wieder.
Limbus. Linguistik. Liquidierung.
Das Spiel wiederholt sich.
„Warum machen Sie ständig diese Striche?“, fragt mich die Anwältin zwischen Okklusion und Omnipotenz.
Nach dreizehn Gattern – fünfundsechzig Strichen – fällt der Arm des Piloten auf das Sofa zurück.
„Schläft er?“, fragt die Anwältin.
Die geschlossenen Lider des Piloten zucken nicht mehr, er atmet tief.
„Ja“, sagt der Professor. „Halten wir fest: Es ist vier Uhr einunddreißig. Um sechsundvierzig wecken wir ihn auf.“
Wir starren auf den schlafenden Körper; ich bereite mich innerlich auf das vor, was gleich geschehen wird.
Zwei Minuten vergehen.
Niemand spricht ein Wort.
Drei Minuten.
Nach fünf Minuten sagt die Anwältin: „Er schläft wie ein Baby. Das ist gut, oder? Wir wissen, dass fünf Minuten gut sind.“
Der Professor nickt. „Ja. Wahrscheinlich sind auch zehn Minuten gut. Ich vermute, es hängt mit der Schlafphase zusammen.“
„Aber die sind immer unterschiedlich. Man kann nicht sagen, nach wie vielen Minuten welche Phase kommt.“
„Stimmt. Das kann man nicht.“
„Was bringt uns dann die Zeit?“
„Einen Anhaltspunkt. Mehr nicht. Aber je genauer wir diese Zeit kennen, desto besser. Ich schlage vor, wir lassen ihn einfach schlafen, bis wir den genauen Zeitpunkt wissen.“
Die Anwältin versteht erst nach einem Augenblick. „Was? Sie wollen ihn nicht wecken?“
Der Professor schüttelt den Kopf. „Überlegen Sie. Er schläft jetzt. Wir können am meisten von ihm lernen, wenn wir warten, bis es – losgeht.“
„Aber das können wir nicht machen. Wir können ihn nicht einfach sterben lassen.“
„Warum nicht? In den letzten sechs Tagen sind so viele Menschen gestorben. Was macht er für einen Unterschied? Abgesehen davon, dass sein Tod möglicherweise unser Leben rettet?“
„Wir wären dafür verantwortlich. Das ist der Unterschied.“
„Wir waren uns doch einig, dass bei dieser Aktion jemand stirbt, oder? Er -“ hier zeigt der Professor auf den Piloten - „war sich des Risikos bewusst. Wir alle waren das. Und überlegen Sie mal, dass Sie als Nächste dran sind.“
Die Anwältin beißt auf die Unterlippe. „Aber das heißt doch nicht, dass wir ihn jetzt absichtlich ermorden können.“
„Das tun wir nicht.“
„Doch, wenn wir ihn nicht wecken, tun wir genau das.“ Sie blickt mich an. „Was meinen Sie denn dazu? Warum reden Sie die ganze Zeit kein Wort, verdammt noch mal?“
Sechs Minuten.
Der Pilot zuckt, in seinem Gesicht treten Adern hervor.
„Um Himmels willen, es geht los.“
„Warten Sie“, sagt der Professor und packt die Anwältin am Arm. „Das kann nicht sein. Nicht jetzt schon. Das ist zu früh.“
Derartiges habe ich noch nie gesehen: Die Haut des Piloten ergraut, und wäre sein Körper nicht angespannt, könnte man ihn für tot halten. Plötzlich reißt er die Arme hoch, knallt mit dem Rücken auf das Sofa und würgt. Dickflüssiger Saft – Speichel oder Erbrochenes – läuft aus seinem Mund. Er stöhnt durch die zusammengepressten Zähne.
Wir alle weichen zurück, dieses Mal auch ich.
Als aus seinen verkrampften Fäusten Blut tropft, nimmt die Anwältin ein Glas mit Wasser vom Tisch und schüttet den Inhalt in das Gesicht des Piloten. Sofort schlägt er beide Augen auf, blickt um sich wie ein panisches Tier.
„Ganz ruhig“, sagt die Anwältin. „Sie sind wieder wach. Sie sind wieder bei uns. Ganz ruhig.“
Der Pilot richtet sich auf und versucht zu sprechen, rutscht dabei halb vom Sofa. „Die Gräber“, keucht er. „Haben Sie die Gräber gesehen?“
Niemand antwortet.
Dann öffnet er den Mund und beginnt zu schreien.
Der Pilot umkrampft eine dampfende Tasse Kaffee. Seine Haut wirkt runzliger, die Haare grauer, vielleicht täusche ich mich auch. Bedauerlicherweise ist auf mein Kurzzeitgedächtnis kein Verlass mehr. Ich blättere meine Seiten durch, finde aber nirgendwo eine Beschreibung des Piloten.
„Im Traum stand ich auf einem Feld. Es hat geschneit, und überall lag Schnee. So weit ich sehen konnte war alles weiß. Eine Winterlandschaft. Weit und breit kein Baum. Kein Haus.“
Er macht lange Pausen, das ermöglicht mir, seine Erzählung im Wortlaut mitzuschreiben.
„Ich war allein. Nicht nur an dem Ort, sondern allein auf der Welt. Ich war der letzte lebende Mensch.“
Die Anwältin und der Professor sehen verwirrt und erschöpft aus.
„Ich bin über dieses Feld gegangen, ich meine, was macht man, wenn man das Gefühl hat, der Letzte zu sein? Ich weiß nicht, wohin ich wollte. Einfach weg von da. Dann bin ich zu den Gräbern gekommen.“
Pause.
„Es waren vier Kreuze aus Holz, die im Schnee steckten. Ich hab mich noch gefragt, ob die Leichen beerdigt sind, oder ob sie – na ja, nur unter dem Schnee liegen. Erst da hab ich das Schild gesehen. Da standen zwei Wörter drauf: Beweihwassern verboten. Noch nie haben mir zwei Wörter so viel Angst gemacht, und ich weiß nicht, warum, vielleicht wegen dem Gegensatz, das Schild und die Kreuze, ich meine, das passt doch nicht, oder? Mir ist klar geworden, dass vor mir die letzten Menschen begraben liegen, also abgesehen von mir. Und ich hab mich gefragt, ob ich derjenige war, der sie begraben hat. Aber dann hab ich plötzlich – diese Gestalt gesehen.“
Pause. Ich stelle mir vor, wie verschiedene Prominente das Wort beweihwassern aussprechen.
„Es hat ausgesehen wie etwas, das vorgibt, ein Mensch zu sein. Wie irgendein Ding, das sich als Mensch verkleidet und ein schlechtes Kostüm gewählt hat. Sein Gesicht war – irgendwie verrutscht, also die Augen und die Nase waren nicht in der Mitte. Die Arme und Beine waren viel zu lang für den Körper, und die Haut war übersät mit Beulen. Erst dachte ich an eine Krankheit, bis mir klar wurde, dass diese Beulen – dass sie nur die Umrisse von seiner wirklichen Gestalt waren. Unter dem Menschenkostüm. Ist schwer zu beschreiben. Jedenfalls wusste ich, dass es hier nicht her gehört. Also, ich meine nicht nur in meinen Traum, sondern – in meine Vorstellung, meine ich.“
Pause.
„Das Ding hat meinen Namen gesagt. Ich wollte schreien, wegrennen, aber das ging nicht. Und es hat gesagt: 'Sieh genau hin', und dabei auf die Gräber gezeigt. Dann bin ich aufgewacht.“
Nach langem Schweigen sagt der Professor: „Ihnen ist klar, dass das kein Traum gewesen ist. Sie haben fünf Minuten geschlafen, da ist ein solcher Traum unmöglich.“
Der Pilot nickt. „Ist mir klar. Dieses Ding, dieses als Mensch Verkleidete – das hat einen Weg in unseren Kopf gefunden, wenn wir schlafen. Vielleicht ist das eine Erklärung für alles.“
„Wie meinen Sie das?“, fragt die Anwältin. „Es kommt wie Freddy Krueger in den Traum und tötet uns?“
„Wie wer?“ Das kommt vom Professor.
„Nein. Das ist kein Traum. Das Ding will uns bloß – etwas zeigen, aber das kann es nur, wenn wir schlafen. Und was wir gezeigt bekommen, macht uns wahnsinnig und treibt uns direkt zu dem, was wir tun.“
Erneute Stille. „Was zeigt es uns?“, fragt die Anwältin. „Sie wissen das, oder?“
Der Pilot nickt.
„Was ist es?“
Der Pilot kämpft mit sich, versinkt mit den Blicken in der Tasse. Er sagt: „Ich glaube, das Jenseits. Das Ding zeigt uns, wo wir hinkommen, wenn wir sterben. Und den Anblick kann kein Lebender ertragen.“
„Wo waren Sie, als alles anfing?“
Wieder spricht die Anwältin mit mir. Sie hängt in einem der Sessel, die Augen kaum geöffnet. Ich führe meine Liste noch aufmerksamer, mir ist nur die mit den Minuten geblieben. Wir haben die Buchhandlung mit Taschenlampen ausgeleuchtet. Trotzdem ist es düster hier, die Regale werfen lange Schatten. Hin und wieder erspähe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung, aber wenn ich länger auf die Stelle blicke, ist alles ruhig.
Der Professor blättert in einem Buch über Medizin. Er reibt sich ständig die Augen. Mir fällt auf, wie spindeldürr seine Arme geworden sind.
„Ich hab gearbeitet in der Nacht“, sagt die Anwältin. Ihr Blick schwebt an die Decke. „Musste einen Antrag vorbereiten. Ich hab gern nachts gearbeitet. Wenn man alleine ist, seine Ruhe hat. Gegen drei war ich fertig. Ich hab meinen Wecker auf sieben gestellt, ich weiß noch, wie ich mich geärgert hab, dass es bloß vier Stunden Schlaf sind. Bin noch eine Weile wach gelegen, und um kurz vor halb vier sind die Sirenen losgegangen.“
Der Pilot sitzt abseits auf dem Boden. Es ist dunkel da, man kann kaum sein Gesicht erkennen. Er verstößt gegen eine Regel, ich weiß nicht mehr welche, aber solange er sich nicht bewegt, ist er wach. Also am Leben.
„Sie haben nicht mehr aufgehört, das weiß ich noch. Im Gegenteil, es sind mehr geworden. Hab aus dem Fenster geschaut, den Fernseher eingeschaltet. Später konnte man sich zusammenreimen, dass es überall auf der Welt zur selben Zeit begonnen hat. Bei uns war es mitten in der Nacht, was für ein Segen. Ich hab Bilder aus den USA gesehen. Also, nachdem dort bekannt war, was in Europa passiert ist.“
Immer wieder klopft sie mit ihrer Hand auf die Lehne, beide Beine sind vom Restless-Legs-Syndrom befallen.
„Und Sie? Warum haben Sie mitten in der Nacht nicht geschlafen?“
Ich drehe mich weg. Mein Handgelenk schmerzt. Ich suche nach einer Beschäftigung für meinen Verstand, doch mir fällt keine mehr ein.
„Sie sind nicht stumm. Sie können reden, aber Sie tun es nicht. Schreiben Sie auf, warum nicht.“
Es aufschreiben. Warum mir das nicht früher eingefallen ist? Auf der anderen Seite – ich hätte ohnehin nichts zu sagen gehabt.
Ich reiße einen Zettel aus meinem Block, schreibe vier Wörter: Ich habe es versprochen.
Die Anwältin runzelt die Stirn. „Sie haben versprochen, nicht zu reden? Wem denn?“
Neuer Zettel, ein Wort: Rebecca.
„Wer ist das?“
Nein, darüber schreibe ich nicht.
„Und was sollen die ganzen Listen? Warum machen Sie diese Striche?“
Ich überlege einen Moment. Ich könnte schreiben: Weil man das hier nicht als Ganzes ertragen kann. Oder: Ich ertrage diese Hölle nur in Teilen. In ganz kleinen Häppchen. Aber sie würde nicht verstehen. Dazu müsste sie wissen, was mit Rebecca passiert ist.
Ich wünschte, das Gesicht des Piloten sehen zu können. Die Schatten zwischen den Regalen machen mich nervös. Immer wieder ist da ein Huschen, und ich habe das Gefühl, wir sind nicht alleine.
Plötzlich greift die Anwältin mein Handgelenk, rückt mit ihrem Gesicht ganz nah an mich heran. „Ich hab mir überlegt, dass dieses Ding aus dem Traum, wie hat er es genannt, dieses – als Mensch Verkleidete, wenn es uns wirklich das Jenseits zeigt, vielleicht ist das wunderschön? Vielleicht sterben wir nicht, weil wir uns fürchten, sondern weil es zu schön ist? Weil es das Paradies ist?“
Sie sucht Trost in der Vorstellung, zu schlafen.
„Was glauben Sie?“, fragt sie. „Kann das sein?“
Wieder schaue ich zum Piloten. Er lehnt an einem Regal, das Gesicht im Dunkeln, aber der Körperhaltung nach sieht er mich direkt an.
Die Anwältin folgt meinem Blick. „Was ist da?“
Seine linke Hand liegt auf dem Boden neben ihm.
Der Pilot, schreibe ich. Warum starrt er mich an?
Sie rückt von mir ab, öffnet mühsam ihre Lider. Ihr Gesicht zerfließt vor meinen Augen. „Er ist verschwunden. Vor langer Zeit.“
Ich sehe die Finger seiner linken Hand.
„Was immer Sie dort sehen, es ist nicht da.“
Die Finger sind gekrümmt. Sie haben vier Gelenke.
„Gehen Sie hin. Das Trugbild wird sich auflösen.“
Nein. Ich nähere mich nichts mit solchen Fingern.
Ich schließe meine Augen. Öffne sie. Sehe, wie der Professor in seinem Buch blättert und die Anwältin in ihrem Sessel versinkt. Der Körper am Regal ist verschwunden. Ich frage mich, ob ich mir die Bewegungen in den Schatten auch nur einbilde.
„In diesen Zombie-Filmen hat jemand mal gesagt: Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Toten auf die Erde. Ich glaube, wenn wir uns weigern zu schlafen, kommen unsere Albträume in die Wirklichkeit.“
Ich blicke lange an die leere Stelle neben dem Regal. Irgendwann habe ich eine weitere Minute überlebt. Ein neuer Strich als Nachweis für einen überstandenen Abschnitt – zwar nur einen kleinen, dafür einen, den ich ertragen konnte.
Meine Hand zittert. Ich denke an das letzte Mal, als meine Hand zitterte, und denke an Rebecca.
Die Augen der Anwältin fallen zu.
„Was ist die früheste Erinnerung an Ihre Kindheit?“ Sie stellt so viele Fragen.
„Meine ist, wie ich als kleines Mädchen in meinem Bett liege. Meine Mama hat sich immer über mich gebeugt und mir einen Kuss gegeben. Wir hatten ein Ritual. Ich konnte nie schlafen ohne dieses Ritual.“
Der Professor beobachtet sie wie ein Löwe die Antilope an einem Flussufer.
Ich weiß, worauf er wartet.
„Das Ritual ging so: Sie hat mich gefragt: 'Von was träumst du heute Nacht?' Und ich hab immer geantwortet: 'Von der Mama.' Es war eine Kleinigkeit. Ich wollte von ihr träumen, weil ich dann sicher war. Im Schlaf.“
Meine Mutter hat gesagt, man schaut mit den Augen, nicht mit den Händen.
Die Anwältin bleibt still. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Atem geht gleichmäßig.
„Wehe, Sie wecken sie“, sagt der Professor. „Lassen Sie sie schlafen. Wir müssen herausfinden, wie lange es geht. Dann können wir uns abwechseln.“
Ich glaube, er hat den Verstand verloren. Er hat sich zu sehr damit beschäftigt, diese Situation zu überleben anstatt zu akzeptieren. Das galt für alle. Ihr Fehler war, zu weit in die Zukunft zu denken, an die nächsten Tage, die nächsten Wochen – anstatt an die nächste Minute.
Ich kann nicht sagen, wie lange es dauert. Ich bin mit meinen Strichen durcheinander, habe manchmal zehn, manchmal elf Gatter pro Zeile. Ich nehme mir vor, das in Ordnung zu bringen.
Als ich mich frage, ob die Anwältin bei den Gräbern angekommen ist, bäumt sich ihr Körper auf.
„Lassen Sie sie“, schreit der Professor, „ich will sehen, was passiert.“
Ich schreite nicht ein. Nicht, als sie zu schreien beginnt und sich die Haare in Büscheln ausreißt. Nicht, als sie aufspringt und die Augen aufschlägt. Sie wirkt wach, aber ihre Augen sind leer, haben etwas gesehen, das ihren Verstand vernichtet hat, so wie Tageslicht die Aufnahmen von alten Filmen löscht.
Während ihr Kreischen die Welt erfüllt, zerkratzt sie sich das Gesicht. Ein fauliger Gestank zieht durch den Raum, als sie ihren Darm entleert. Dann packt sie ihre Zunge, zieht sie heraus und beißt hinein. Ich kann meinen Blick nicht abwenden, nicht mal, als sie die Zunge abbeißt und wie ein faules Stück Fleisch auf den Boden klatschen lässt.
Der Professor neben mir übergibt sich.
Die Anwältin – das, was von ihr übrig ist, dieser verstümmelte, Blut spuckende Haufen – bohrt sich die Finger in die Augen, und hier höre ich auf. Ich muss nicht schreiben, was anschließend geschieht. Aber sie schreit nicht mehr, das ist vielleicht noch wichtig, jetzt lacht sie, und als sie zusammenbricht, lachend, da überlege ich, ob sie das Paradies gesehen hat.
Meine Mutter hat gesagt, man schaut mit den Augen, nicht mit den Händen.
Ich habe mit meinen Händen nicht nur geschaut, sondern auch gesprochen.
Die Lichter der Taschenlampen werden schwächer.
Ich denke an die Anwältin, aber ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht. Wenn ich daran denke, sehe ich Rebecca, wie sie nach Hause kommt, sehe die Lügen unter ihrem Rouge, rieche den Verrat unter ihrem Parfüm. Alles, was mich an sie denken ließ, war plötzlich vergiftet.
Der Professor hat eine neue Methode entwickelt, um wach zu bleiben. Das sollte ich noch erwähnen, der Vollständigkeit halber. Er hat seine Regeln den dezimierten Empfängern angepasst und aus fünf eine gemacht.
Ich wollte mit Rebecca reden. Normal reden. Ganz vernünftig. Hab auf sie gewartet und mir die Worte zurechtgelegt. Hab alles aufgeschrieben, um nichts zu vergessen. Aber als sie vor mir stand, konnte ich mich nicht erinnern, und sie hat gelacht und –
Schmerzen, hat er gesagt. Der Professor. Das ist seine einzige Regel. Man bleibt wach, wenn man sich Schmerzen zufügt. Er hat fast normal ausgesehen, als er das gesagt hat. Dann hat er einen Hammer geholt.
Als ich vor Rebecca stand und ihr Lachen in meinem leeren Kopf hallte, da war mir klar, wenn ich jetzt nichts sage, verliere ich sie endgültig. Ich musste Worte finden, aber weil meinem Kopf keine einfielen, haben meine Hände gesprochen.
Der Professor hat sich mit dem Hammer die Füße zertrümmert. Immer wieder hat er auf den Spann und die Zehen geschlagen, bis alles blau und blutig war. Gekeucht hat er dabei, nur gekeucht, nicht geschrien.
Ich hab versprochen, nicht mehr zu reden. Als ich vor Rebecca kniete, hab ich versprochen, nie mehr ein Wort zu sagen. Ich schwor – als ich vor ihr kniete, da schwor ich, jede Strafe anzunehmen. Alles würde ich akzeptieren, durch jeden einzelnen der neun Höllenkreise würde ich gehen, wenn ich am Ende wieder mit ihr zusammenträfe.
Kurze Zeit später hörte ich Sirenen.
Es hatte begonnen.
Und hier endet es. Erstmal.
Die Lichter erlöschen, der Vorhang fällt, und ich sehe Bewegungen zwischen den Regalen. Es sind Schatten. Ich höre ihr Flüstern.
Vielleicht war ich es, der alles auslöste, als ich vor Rebecca kniete und um Strafe bettelte. Vielleicht kommen die Schatten, weil ich der Letzte bin, der Schuldige, vielleicht haben sie darauf gelauert. Ich bin als Einziger übrig, seit der Professor in die Dunkelheit gekrochen ist, um Propofol zu suchen.
Vielleicht war dies nur die Vorhölle, der Ort der Unschuldigen. Ich bin bereit, mich von den Schatten an die Hand nehmen und in die inneren Kreise der Verdammten führen zu lassen. Bis in das Innerste der Hölle würde ich schreiten, bußfertig, und vielleicht – nur vielleicht – kann ich aus allem geläutert hervorgehen, vielleicht werden meine Begleiterinnen dann zu Wohlgesinnten und ich sehe Rebecca wieder.
Ich hoffe, dass es so kommt, dass dies nur der Anfang war und nicht das Ende, denn schlimmer als der Tod ist nur der sinnlose Tod. Ich sitze hier, allein, flehe Gott um meine Strafe an und bete, dass ich mir die Schatten nicht nur einbilde. Der als Mensch Verkleidete war die Erklärung des Piloten, die Schatten sind meine – wir werden sehen, wer Recht behält. Ich lege meinen Stift jetzt nieder und warte, wer zuerst kommt: der Schlaf oder die Schatten.
Ich glaube, sie flüstern meinen Namen.
Bei Gott, ich hoffe, sie beeilen sich.