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Vor dem Sturm (korrigierte Fassung)
Vor dem Sturm
Ich habe ihn immer nur lachen gesehen, wenn ihm etwas misslungen ist, sodass ich das Gefühl nicht loswerde, er sei verbittert.
Meist schweigend, wandelt er durch die klimatisierte Galerie und überprüft die Anordnung seiner Gemälde.
Ich beobachte ihn eine Weile nach meinem Kommen, wie er angewurzelt vor einem seiner Bilder steht, mit einem Schulterzucken die Betrachtung beendend sich umdreht.
„Du.“, sagt er tonlos, mich kurz ansehend, nur sehr kurz, bis er sich, mir den Rücken erneut zugewandt, vor das nächste Bild stellt.
„Ein bisschen schief noch.“, sage ich und empfinde meine in diesem sonst leeren Raum widerhallende Stimme als unangenehm.
„Hm...“, macht er, zuckt wieder die Schultern, macht einen Schritt vor und rückt es, beide Hände an das Bild legend, zurecht.
Als er einen Schritt nach hinten macht, fällt das Bild von der Aufhängung.
Das Großformat verliert durch den Aufprall seinen auseinanderplatzenden Rahmen.
Eine seltsame Stille herrscht- bis die nächsten fünf Minuten von einem hysterischen Lachen gefüllt werden- seinem mich verstörenden Lachanfall.
Das Gefühl festzustecken und nicht weiterzukommen, verstärkt sich auf meinem nicht enden wollenden Weg. Die vor mir unter der Sonne flirrend liegende Straße mutet albtraumhaft an.
Seine Ausstellung vor drei Tagen hat keine stürmenden, aber doch bestärkenden Kritiken in den Kulturteilen der Tageszeitungen bekommen.
Zudem haben sich Interessenten für einige seiner Gemälde bei meinem Vater gemeldet.
Ich habe nichts mehr zu denken. Ich kann mich dadurch nicht von dem Weg der vor mir liegt ablenken.
Der Weg ist schrecklich. Ich warte ungeduldig auf das Ziel.
Es scheint ihn nicht zu interessieren, was die Leute sagen.
Auf einmal ist er verschwunden, und mein Vater, in einem Gespräch, bittet mich, ihn zu suchen.
Ich stelle fest, dass man zu schnell dramatisiert. Draußen steht er, an die Wand gelehnt und raucht.
„Mein Vater wollte, dass du dabei bist, wenn deine Sachen gezeigt werden...“
„Ach...“, sagt er, und zuckt die Schultern, „Komme gleich.“
Er wirkt unglücklich. Mir kommt der Vergleich mit einer Prostituierten. Jeder liebt gerne, aber wenn es das einzige ist, das du tun kannst, um an Geld zu kommen, dann tust du’s nicht mehr gerne.
Ich lehne mich neben ihn gegen die Wand.
„Na ja... ich wollte in meinen Sommerferien auch was andres machen, als in der Galerie meines Vaters aushelfen.“
„Hm... tut mir wirklich leid...“, murmelt er, schmeißt die Zigarette auf den Boden, und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Ich hab nur noch zwei Mal in meinem Leben Sommerferien.“, sage ich, „Dann ist alles aus- dann muss ich studieren und arbeiten...“
„Was wird da drin geredet, he?“
Ich blicke auf, er sieht mich fragend an. Ich fühle mich von dem Gedanken, dass er mich sieht, seltsam peinlich berührt. Mir fallen meine letzten Worte ein, alles, was ich bisher zu ihm gesagt habe, war dummes Gerede. Ich habe vor ihm noch nie etwas... was soll ich ihm denn sagen? Ich spüre Redebedarf, aber habe keine Inhalte vorzutragen.
Ich überlege zu lange, und seine Fragestellung nimmt wieder Gleichgültigkeit an, er klopft mir im vorbeigehen auf die Schulter.
Ratlos weiß ich nicht, was anzufangen mit meinem Gehirn, das überschwemmt wird von einer Gefühlscollage, die ebenso vielseitig und kreativ zu sein scheint, wie es seine Gemälde sind.
In der Kühle des Treppenhauses eile ich mit neuer Kraft, die meine sonstige Anspannung hinter einen leichten Vorhang verschwinden lässt, die Stufen hoch, nicht wissend, in welchem Stockwerk ich endlich halt machen darf, da ich ihn noch nie besucht habe.
Schon nach dem Zweiten außer Atem, werde ich langsamer und gehe den Dritten hoch, um ihn dann endlich in seiner Wohnungstür stehen zu sehen.
Lächelnd und schwer atmend bleibe ich auf der obersten Stufe stehen, und halte den Packen Tageszeitungen hoch.
„Du. Komm rein.“, er dreht sich Schulter zuckend um und geht in die Küche, in die ich ihm folge, die Wohnungstür hinter mir und vor der kälteren Treppenhausluft schließend.
Die Wohnung ist hell, aber unaufgeräumt.
Im Flur stehen Kartons um deren Boden sich Staub gesammelt hat, ein Blick in das als Atelier fungierende Wohnzimmer mit Südfenster weist nicht weniger unübersichtliche Strukturen auf.
Ich setze mich ihm an einem schwarzen Esstisch gegenüber und schiebe die Zeitungen in die Mitte.
„Ich hab die Artikel rot markiert. Und irgendwo ist ein Zettel mit Namen und Telefonnummern, von Leuten, die gerne eines deiner Werke kaufen möchten.“
„Hm...“, sagt er, rührt in seinem Kaffee, und zuckt schon wieder mit den Schultern.
Er hat diesen Tic, den er versucht zu unterdrücken und dem er versucht, wenn er ihn nicht mehr unterdrücken kann, eine Funktion zu geben.
Ich muss wieder lächeln.
„Willst du vielleicht was trinken?“, fragt er, auf seinen Kaffee zeigend.
„Hast du vielleicht ein Wasser?“
Etwas schwerfällig erhebt er sich und bringt mir in zähem Tempo ein Glas und eine Flasche Wasser, um zurück auf seinen Stuhl zu fallen, als hätte er eine schwere Arbeit verrichtet.
„Bist du nicht an den Kritiken interessiert?“, frage ich, während ich mir Wasser einschütte, darauf bedacht, nichts in einem Moment der vergessenen Konzentration zu vergießen.
Er macht ein leidendes Gesicht und kratzt sich umständlich, den rechten Arm von hinten um den Kopf legend, an der linken Schläfe, dann stöhnt er auf.
„Ne.“
„Bist ja immer noch da.“
Überrascht über seine Wiederkehr sehe ich ihn an, spüre wieder Verwirrung, Scham über einen bestimmten Drang in mir, den ich bisher noch nie Gelegenheit hatte auszuleben.
Mit einem Sektglas, wie es sie obligatorisch zu solchen Anlässen gibt, stellt er sich an seinen vorigen Platz neben mich.
„Und, Erkundungen eingeholt?“, frage ich, und ahnte sein Schulterzucken voraus, für dessen Auftreten ich ein Gefühl entwickelt habe.
„Na ja... hab mich kurz blicken lassen und bin dann ab, um meine Zufluchtstätte besetzt vorzufinden.“
„Soll ich gehen?“, frage ich leise.
„Quatsch. Und dich da rein schicken?“
Er trinkt sein Glas aus und gibt es mir, „Hier, ich schick dich doch da rein. Hol zwei davon. Bist schon sechzehn, oder?“
Als hätte er mich mit dem Glas geschnitten, sehe ich ihn verletzt an, „Ja.“, fauche ich und mache mich auf den Weg.
Ich sitze ihm gegenüber und beobachte seine Abwesenheit. Beobachte schweigend sein In-Den-Kaffee-Starren und habe dabei ein heißes Gefühl im Kopf und ein Empfinden von platzenden Äderchen in meinem Gesicht.
Es ist seltsam, dass man bei der Betrachtung eines anderen Menschen so stark auf sich selbst zurück geworfen wird, und selbstvergessen ist nur er, in sich gekehrt.
In seiner Entrücktheit wirkt er mir so vertraut, so natürlich, dass ich mich sicher fühle.
Ich habe die Ahnung einer offenen Möglichkeit, nur wage ich es nicht, diese in Worte zu fassen. Es erscheint mir zu fragil.
Auf einmal streckt er seine Hand aus dem Umfeld seiner körperlichen Lethargie und legt sie auf die Zeitungen in der Mitte vom Tisch, um sie über die glatte Oberfläche zu sich zu ziehen.
Er seufzt auf, dann fragt er, als würde es ihm Schmerzen bereiten, was es vielleicht auch tut, „Wo sind die Namen der Interessenten?“
Weil ich den Zettel einfach irgendwo zwischen eine Zeitung gesteckt habe, greife ich rüber, ziehe das Bündel erneut über den Tisch, und fange unter seinem wartenden Blick zu suchen an.
Auf einmal wird mir etwas klar. Ich blicke kurz auf und sehe ihn an, versuche noch zu lächeln, aber es geht nicht.
Ich kann nur eines tun: Den Zettel mit den potenziellen Geldgebern suchen. Die etwas von ihm wollen, dass er am Liebsten nicht hergäbe, die jedoch besitzen, was er brauch.
Ich habe die Ahnung eines Gefühls der Erniedrigung, einen andren nicht brauchen zu wollen, aber auf ihn angewiesen zu sein.
„Hier ist er.“, sage ich, und halte ihm den gelben Zettel hin.
Einen Moment auf das Streifen seiner Finger bei der Übergabe gehofft, kommt es schließlich nicht dazu.
Ich vermiss etwas, das ich nie besessen habe.
Mit zwei Gläsern die ich zwischen meinen feuchten Fingern am dünnen Stil halte, kehre ich zurück.
Es weiter oben grob mit der ganzen Hand umfassend lässt er es meinen Fingern entgleiten.
„Warum willst du eigentlich nicht mit den Leuten sprechen?“
Wieder nutzt er die Gelegenheit zur Erleichterung seines Tic-Dranges.
„Ich hab über vier Jahre Kunst studiert, und in dieser Zeit genug Kritik bekommen. Ich warte nicht mehr auf die Absolutionen solcher Leute...“
Er sieht mich aus seinem Glas trinkend an. Das Abendlicht ist Weichzeichner für sein kantiges, unrasiertes Gesicht.
Er sieht ehrlich und niemals spöttelnd aus. Er ist mit einer intuitiven und natürlichen Wahrnehmung in seinem Leben, in seinen Bildern.
Die Jungs in meinem Alter, die ich kenne, sind von falschen Idealen geprägt, die sie nie selbst erdacht haben- und diese Ideale beschränken sich darauf, wie eine Frau für sie auszusehen hat. Sie sind überhaupt noch nicht in einem Stadion des Bewusstseins über die Dinge, die sie tun, angekommen, das sie zu einer Wahrnehmung befähigen würde.
Ich trinke in einem Zug mein Glas aus, und warte schweigend neben ihm.
Ich warte auf Mut. Auf Mut in Form von Promille in meinem Blut.
Meinen Finger ausstreckend, berühre ich ihn vorsichtig am Arm.
„Was ist?“ Erwartungsvoll sieht er mich an und seine vollkommene Echtheit lässt meine Schulterblätter sich zusammenziehen, meine Bauchmuskeln sich anspannen- und mich schreien wollen. Innerlich brülle ich und renne gegen alle Wände.
„Kann ich dir irgendwann beim Malen zuschauen?“
Sein Tic- Seine Gleichgütigkeit.
„Arbeitest du gerade an einem Bild?“
Er blickt auf, und sieht mich ein wenig entgeistert an, als hätte ich irgendetwas abwegiges gefragt. Zugleich bekomme ich das Gefühl, unverschämt oder falsch gefragt zu haben.
„Nein, nicht so richtig.“
Nun gäbe es eigentlich keinen Grund für weiteres Verweilen, ich könnte gehen, ihm seine Ruhe lassen, und den Rest der Arbeit muss er sowieso mit meinem Vater absprechen.
Es ist eine Art der Panik, eine Kurzschlussreaktion- aber eigentlich auch eine Art der Unterbewussten Umkehrung einer anderen Frage, da ich sein Begehren auf das Bildermalen übertragen habe.
„Willst du mich malen?“
Diese Zeit bis zu einer Antwort, der Moment des Aussprechens der Frage, in der mich Gedanken bestürmen, was ich bei welcher Reaktion tun würde, die Angst, die peinigende Angst und der Gedanke an die nachhaltige Scham bei Verneinung...
„Jetzt?“, mit gehobenen Brauen sieht er mich an, sein „Jetzt?“, mehr wie eine freundliche Aufforderung formulierend, die ihre Bejahung zu dem was sie fordert aus der logischen Schlussfolgerung zieht- er komprimiert seine Worte.
Ich stehe auf, und sehe ihn an, aber meine Kurzfassungen funktionieren nicht so wirkungsvoll wie seine.
„Ja.“, sage ich, „Warum nicht?“
Er erhebt sich, diesmal lockerer als vorher, motivierter und weniger schwerfällig.
„Weißt du...“, sagt er, ins Wohnzimmer gehend, „Es kann ganz entspannend sein einfach mal was belangloses wie ein Landschaftsbild oder ein Porträt zu malen. Sich immer Ideen ab zu ringen führt geradezu zu physischen Schmerzen.“
Im Wohnzimmer hockt er sich vor eine Kiste und kramt in ihr, hält einige Momente später ein Bündel Pinsel in der Hand, deren Borsten er, wie entrückt blickend, über seine Finger streichen lässt.
Bei dem Gedanken an dieses Gefühl, bei Betrachtung des Bildes, das er abgibt, wünsche ich mir nichts mehr als einen Platz in seinem Leben zu haben.
Und dieser Wunsch manifestiert sich in meiner plötzlich in den Raum gestellten Frage: „Kannst du mich nackt malen?“
Ich bin im Hier und jetzt. In keinem Traum, in keiner Erinnerung die ich ändere- die Gegenwart ist gerade weicher Ton, der von mir geformt wird.
Nach einigen Sekunden frage ich mich, ob er mich gehört hat, als ich erneut etwas sagen will, steht er auf, geht an ein Regal, und legt die Pinsel an eine Stelle, von der er einen Bleistift und einen Block nimmt.
„Was ich mache...“, er dreht sich um, und sein Blick trifft mich, denn es ist unwahrscheinlich, dass er mich nicht gehört hat, „... ist zuerst eine Skizze.“
Aber er sieht mich an wie immer, nickt mir einmal zu, und stellt sich dann an die Staffelei, auf die er eine Leinwand setzt, die er von einer Reihe anderer ausgesucht hat.
„Hm... die müsste passen.“, sagt er, und als er sich umdreht, sieht er mich verwundert an.
„Was ist? Ziehst du dich aus?“
Mir ist plötzlich schlecht und schwindlig. Ich weiß nicht, wie ich seine Reaktion interpretieren soll.
Ich bin vollkommen kopflos, ich will lachen und weinen gleichzeitig und da steht er, während ich mich schäme. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, da werde ich mich vor jemandem entkleiden müssen- Das ist der einzige Gedanke, das einzige Argument für mein momentanes Dasein, das ich dem innerlichen Geschrei entnehmen kann. Diese Stimme, die das brüllt, ist am lautesten.
Eine Welle von Übermut, eine Alles-Oder-Nichts-Reaktion die nun stattfindet, lässt mich in einem Durchgang meine Kleider von mir nehmen, bis ich nur noch die Unterwäsche trage.
Und als ich da stehe und kurz davor bin, meinen BH zu öffnen, wird eine andere Stimme in mir vernehmbar.
Bei der ganzen Sache geht es gar nicht um ihn. Er ist nur die Personifikation meiner Angst und die praktische Gelegenheit, diese zu überwinden und mich selbst zu beweisen.
Ich tue es, stehe da, sehe auf den Stoffberg vor mir und blicke auf.
Er steht am Regal, mir den Rücken zugewandt und lässt sich wieder von seinem Borstenspiel einlullen.
Meinen Blick spürend, vielleicht auch nur die Zeit abschätzend, dreht er sich um, „Fertig? Dann setz dich irgendwohin.“
Für ihn ist das normal. Man studiert Kunst und lernt Aktmalerei am echten Menschen.
Ich versuche mich in sein Gefühl zu versetzen, etwas von seiner Gleichgültigkeit anzunehmen, dennoch habe ich das Gefühl zu zittern, als ich mich auf das Sofa setze und die Beine an meinen Körper winkle, den Kopf auf ein Knie lege, während meine Arme die Beine zusammenhaltend umschlingen.
Sich einen Stuhl nehmend und vor mich stellend, sitzt er einen Meter entfernt von mir und kratzt mit dem Bleistift in der Stille dieses heißen Sommernachmittags die Formen meines Körpers und Gesichts auf weißes Papier.
Irgendwann weicht die Hitze aus meinem Körper, hinterlässt Müdigkeit und keine Kraft mehr, darüber nachzudenken, was er gerade eingängig betrachtet, um es dann in Malstriche umzuwandeln.
Als eine kurze Panik sich wieder in mir breit machen will, findet diese jedoch keine vernünftige Erklärung mehr. Jetzt hat er es gesehen, jetzt ist es egal. Du hast kein Geheimnis mehr. Es liegt alles vor ihm und ich bin trotzdem noch Ich.
„Fertig.“, sagt er, sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn wischend.
Als er aufsteht, stehe ich ebenfalls auf, anfangend, mich wieder anzukleiden.
„Ich werd dann gleich anfangen mit der Grundierung, um dann...“, ich höre ihm kaum zu, aber als ich wieder aufblicke, hat er Farbtuben in der Hand und riecht an ihnen.
Er sieht mich an, wie ein begeistertes Kind und hält mir eine hin.
„Die ist neu. Riech mal.“
Ich lächle und fühle mich erleichtert- ich weiß nicht, worin dieses Gefühl, das ich jetzt habe, gründet, aber ich bin nicht mehr gehetzt, irgendein Druck hat sein Ventil gefunden- da war etwas, das ich loswerden musste und mit meinen Kleidern habe ich es abgelegt.