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Vor dem Finale
Schon beim Zähneputzen spürt Sarah, dass etwas nicht in Ordnung ist. Der Blick in den Badezimmerspiegel zeigt ihr ein längeres Haar im Grübchen unterhalb des Mundes, dann — mit dem Lupenspiegel — ein zweites und drittes. Hexenhaare. Wo die plötzlich herkommen? Dreimal ein kräftiger Ruck mit der Pinzette und der Schönheitsfehler ist behoben. Nicht so einfach löst sich das Problem mit den Augenringen. Sie muss unbedingt der Visagistin eine deutliche Ansage machen, heute Abend, und zwar nicht zwischen Tür und Angel.
Die könnte sich wirklich mehr Mühe geben. Warum macht die so einen Eiertanz um die Neuen?
Sarah fühlt den Groll von gestern hochsteigen. Sie weiß, dass es üblich ist, ein oder zwei Youngster aus der Show „Germany's Next Topmodel“ in der Berliner Fashion Week mitlaufen zu lassen. René hat allen ans Herz gelegt, die beiden jungen Dinger gut zu behandeln.
„Das sind die Stars von morgen“, tönte der Modezar bei der Generalprobe, „und wir wollen doch, dass Heidi zufrieden ist.“
Das gesamte Personal lachte, einschließlich der Beleuchter und Hilfskräfte. Sarah allerdings nur mit leicht angehobenen Mundwinkeln. Sie ist darüber erhaben, sich das Wohlwollen des Meisters zu sichern. Immerhin wird sie in den Medien als seine Muse gehandelt. Und sie erscheint regelmäßig auf den Covern der Modezeitschriften. Gewiss, eine schöne Positionierung, wenn auch nicht die als Lebensgefährtin des Meisters, wie Sarah vor Jahren gehofft hat. Dieser Platz ist von Marc besetzt. Marc der Schöne. Selbst Sarah muss anerkennen, dass Marc in jeder Hinsicht vollkommen ist, nicht nur vom Aussehen her. Er gibt dem Meister, der zu Depressionen neigt, den nötigen Halt im unerbittlichen Kampf auf dem Modemarkt. Und — das schätzt Sarah besonders an Marc — er lässt ihr den Vortritt, wenn sie am Ende der Show als Höhepunkt das Brautkleid präsentiert und mit René an ihrer Seite den Applaus und einen exquisiten Blumenstrauß entgegennimmt. Marc steht dann im Hintergrund zwischen den Models und klatscht rhythmisch, um alle anzuspornen.
Marc ist keine Konkurrenz, es gibt nicht viele, denen ich trauen kann. Hoffentlich bleibt das so.
Sarah lässt sich das Frühstück durch den Zimmerservice bringen. Es besteht aus coffeinfreiem Kaffee und einem Müsli aus Obst mit Dinkelflakes. Nichts darf träge machen oder Blähungen hervorrufen. Sarah ist Hungern gewöhnt. Aber heute Morgen hätte sie sich etwas Belebenderes gewünscht, am liebsten ein Glas Champagner. Nach der Show ist in der Regel eine kleine, private Feier geplant — René, Marc, seine Managerin, vielleicht der Redakteur seines neuen Magazins. Und natürlich Sarah. Sie kommt nie in Begleitung. Da wird es wie immer Pommery Brut Royal geben, ihre Lieblingsmarke.
Die Show beginnt um 19.30 Uhr. Sarah hat noch reichlich Zeit, bis sie am späten Nachmittag in dem alten Fabrikgebäude an der Spree eintreffen muss.
Auch so eine neue Mode, genau wie die Choreografien, denen wir uns neuerdings unterwerfen müssen.
Es gibt schönere und bequemere Lokalitäten für Modeschauen als das dunkle Gemäuer zwischen Glas- und Betonbauten. Da muss mit viel Beleuchtungstechnik gearbeitet werden, um Stimmung zu erzeugen. Und der Beatsound hört sich scheppernd an.
Was für ein Blödsinn. Nichts geht über das Palais am Pariser Platz.
Bei der Hauptprobe hat nicht alles geklappt. Zu viele unerfahrene Hilfskräfte haben Sarahs Geduld strapaziert.
„Mein Platz kann nicht hier mittendrin sein.“ Sarah deutete auf ihren Kleiderständer und den Stuhl. Die Assistentin mit dem Klemmbrett kapierte nicht gleich, worum es ging. „Mein Platz ist immer ganz vorne“, ergänzte Sarah, „also, worauf warten Sie?“
Die beiden Mädchen von GNTM, eine langbeiniger als die andere, kicherten und tuschelten. Sarah erinnert sich an einen Satzfetzen, „... Zeit vorbei“ oder so ähnlich.
Von wegen „Stars der Zukunft“! Die sollen erst mal Disziplin lernen, das hat Heidi, die alte Sklaventreiberin, doch drauf.
Sarah schaut auf die Uhr. Noch zwei Stunden, bis sie von Renés Chauffeur abgeholt wird. Diesen Service genießt sie am meisten. Da kommt sie sich wie seine andalusische Prinzessin vor. So nennt er sie, wenn er die Gäste im Zuschauerraum begrüßt. Lieber wäre es ihr, wenn René sie als rumänische Prinzessin vorstellen würde. Schließlich ist Rumänien ihre Heimat. René weicht aus, wenn sie ihn danach fragt. Überhaupt gibt er sich neuerdings sehr zugeknöpft bei allen privaten Themen.
Prinzessin. Darauf kann ich glatt verzichten, der Titel hat so was Herablassendes an sich. Dann doch lieber Königin des Laufstegs.
Da ist es wieder, das Unbehagen vom Vormittag. Sarah geht unruhig im Hotelzimmer auf und ab. Ein Stapel Modemagazine liegt auf dem Sidebord neben dem Fernseher. Sie hat alle schon durchgeblättert. Das einzige Fenster, vor dem ein kleiner Sessel im Retrolook steht, lässt sich nur durch das Oberlicht öffnen. Auch nachts flaut der Verkehr kaum ab, Hupkonzerte bis in den frühen Morgen sind die Regel. Sarah hat schon wesentlich komfortablere Hotelzimmer gesehen. Aber in Berlin ist gerade die Hölle los, hat die Managerin ihr erklärt und die Achseln gehoben. Den Kolleginnen ginge es auch nicht besser.
Das hilft aber nicht, die Unruhe wächst von Minute zu Minute. In der vergangenen Nacht ist sie zweimal aufgewacht, schweißgebadet, mit rasendem Puls. Und mit der schwachen Erinnerung an einen Traum, in dem es ums Fallen aus großer Höhe ging. Aber wer genau da stürzte, weiß sie nicht mehr. Mit autogenem Training versuchte sie, den Puls zu bändigen. Immerhin musste sie keine Beruhigungstablette nehmen.
Jetzt könnte sie ja jemanden anrufen, aber wen? Es gibt niemanden, dem sie erklären möchte, wie es ihr momentan geht. Vielleicht ihrer Schwester in Bukarest? Aber so besonders innig ist der Kontakt nicht. Ihre Lebenswelten sind inzwischen zu verschieden. Sie hat ihre beiden Nichten zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Hübsch sind sie ja — na ja, nicht beide. Vielleicht ließe sich doch einmal ein Besuch einplanen. Die Mädchen wären bestimmt begeistert.
Übelkeit steigt in Wellen aus dem Bauch in die Kehle. Muss sie sich übergeben? Muss sie sich womöglich krankmelden? Es wäre das erste Mal in ihrer langen Karriere. Jetzt greift sie doch zu einem Tranquilizer. Sie hat ein ganzes Arsenal davon in ihrer Apotheke.
Aufgeben? Niemals! Nicht bei der Berliner Fashion Week! Nein, das ist nur das typische Lampenfieber vor der Show. Ganz sicher.
Reiß dich zusammen, Prinzessin! Du schaffst es!