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Vor dem Fest
Meinen Vater, der in der Einfahrt stand, hielt ich zuerst für den Typen, der die Zeitungen austrägt. Seine Haare hingen ihm bis zu den Schultern, der Bart lang und grau. Ich parkte vor dem Neubau gegenüber und ließ alles im Kofferraum.
„Willste bei den Stones einsteigen?“
Er lachte. „Haste kein Gepäck?“
„Hol' ich nachher.“
„Erst mal 'n Bier?“
„Bier ist gut.“
Ich öffnete das Tor und mein Vater sagte: „Weißte noch, wie de da runter bist? Mit der Stirn voll auf den Asphalt. Waren sogar im Krankenhaus.“
„Ja“, sagte ich. „Ist sicher was in meinem Hirn kaputt gegangen damals.“
Mein Vater schüttelte den Kopf. „Red nich.“
„War nur Spaß. Sind die beiden Mädels schon da?“
„Nicole ja“, sagt er. „Julia ist noch unterwegs. Haben eben angerufen. Stehen vor Leverkusen.“
„Ist ja immer Stau bei denen.“
„Bier is' im Eisfach. Gehen wir rein.“
Die Küche war dunkel und kühl. Sie hatten alles renoviert, es sah ungewohnt aus. Mein Vater nahm zwei Sünner aus dem Eisfach und öffnete sie mit einem Löffelstiel. Wir lehnten gegen die Spüle und tranken.
„Wo is'n die Mutter. Und Julia?“, fragte ich dann.
Mein Vater trank noch etwas vom Bier und sagte: „Im Wohnzimmer.“
„Ist da dicke Luft oder was?“
„Nee, alles in Ordnung.“
„Dann sag ich mal Hallo.“
„Mach das.“
Meine Mutter saß auf dem alten Sessel neben dem Kamin. Sie lächelte und umarmte mich. Sie hatte sich kaum verändert. Es war, als hätte ich sie erst gestern gesehen.
Für einen Moment standen wir so da, dann fragte sie: „Bist du gut angekommen?“
„Ja, alles gut, danke.“
Im Halbdunkel saß meine Schwester Nicole und rauchte eine Zigarette.
Ich sagte: „Hi, Nicole“, aber sie schwieg, und meine Mutter warf mir einen Blick zu, den ich gleich verstand.
Mein Vater saß jetzt am Küchentisch. Er grinste verlegen.
„Wasn mit der Nicole passiert?“
Er legte den Zeigefinger über die Lippen und bedeutete mir, die Tür zu schließen. „Sie meint, es sind die Drüsen.“
„Die ist ja echt das Dreifache!“
Er zuckte mit der Schulter. „Ich sach da nix mehr zu. Gibt nur Ärger.“
„Hab' schon verstanden. Lieber Schnauze halten.“
Er nickte. „Schon den Teich gesehen? Auch alles neu gemacht.“
„Nee, noch nicht. Aber lass mal gucken. Kann ich auch gleich eine rauchen.“
Drei Zigaretten später saßen wir immer noch auf den Rattanstühlen und sahen den Kois zu.
„Willste noch 'n Bier?“, fragte mein Vater.
„Soll ich holen?“
„Mach ich schon“, sagte er.
Ich drückte die Zigarette auf einer Untertasse aus, die er aus dem Verschlag geholt hatte. Er blieb eine Viertelstunde weg. Das Bier, das er mitbrachte, war eiskalt.
„Wie läuft's in Berlin?“
„Kennst das doch“, sagte ich.
„Von der Hand in den Mund.“
„So ähnlich.“
„Brauchste denn Geld?“
„Nee, lass mal. Alles okay.“
Wir schwiegen wieder und tranken das Bier.
Dann fragte ich: „Wo is' 'n eigentlich der Marco?“
Mein Vater räusperte sich. „Kannste dir doch denken, oder?“
„Nee, wie, was denn?“
„Will ja nix sagen, aber ich kann das schon verstehen.“
„Ach, die haben sich getrennt meinst du?“
„Er hat sich getrennt.“
„Ah, okay.“
Ein silberfarbener SUV bog in die Einfahrt.
„'s die Julia“, sagte mein Vater.
Ich erkannte ihr Gesicht hinter der Scheibe, auch das von Thomas, ihrem Mann.
„Haben die im Lotto gewonnen?“
„Die kaufen alles auf Raten“, sagte mein Vater. „Auto, Fernseher, Klamotten, schlimm. Denen wächst das über'n Kopf.“
„Hast du mal mit ihnen drüber gesprochen?“
„Thomas meint, sei alles unter Kontrolle.“ Er sah mich an. „Die Mia weiß schon gar nicht mehr wohin mit dem Kram. Hauen Geld raus, was sie noch gar nicht verdient haben.“
„Könnte mir nicht passieren.“
„Wieso?“
„Bin nicht kreditwürdig.“
Wir lachten, dann sagte mein Vater: „Gib mir auch mal 'ne Lulle.“
„Sicher?“
„Werd' morgen Siebzig, ich denk, ich kann das ganz gut alleine entscheiden.“
Ich reichte ihm Schachtel und Feuerzeug, er zündete sich eine an, ließ den Qualm ganz langsam durch die Nase entweichen. „Ja“, sagte er, „manchmal vermisse ich das.“
Julia und Thomas begutachteten das Blumenbeet, das meine Mutter neu angelegt hat, Mia winkte uns zu. Mein Vater seufzte, als sie näher kam.
„Ihr fangt ja früh an mit dem Saufen“, sagte sie und zeigte auf die Flasche in meiner Hand. „Gib mir auch mal 'n Schluck.“
Ich starrte auf ihren nackten Bauchnabel und sagte: „Deine Mutter dreht mir den Hals um.“
„Und du willst mein Onkel aus Berlin sein?“ Sie machte eine abfällige Handbewegung und verschwand im Haus.
„Mia“, sagte ich, „Wahnsinn.“
Mein Vater lehnte sich zurück und sagte: „Da haste wohl Recht.“
„Die feinen Herren lassen es sich gut gehen“, sagte Julia und gab meinem Vater einen Kuss auf die Stirn. Sie hatte sich eine dieser modernen Sonnenbrillen ins Haar gesteckt.
„Schön, dass du es geschafft hast“, sagte Thomas und gab mir ganz förmlich die Hand. „Deine Kiste da draußen?“
„Von 'nem Kumpel geliehen.“
„Dachten wir uns schon“, sagte Julia.
Ich sah auf den SUV, sagte aber nichts.
„Walkabouts“, Thomas schüttelte den Kopf und zeigte auf mein T-Shirt, „fand ich auch mal geil.“
Julia fragte mich: „Wie alt bist du nochmal?“
„Alt genug.“
Sie lächelte schief und sagte: „Naja.“
„Wir gehen mal rein, Hallo sagen“, sagte Thomas und winkte lässig mit zwei Fingern.
Mein Vater nahm meinen Blick auf. „Ich hab' nicht darum gebeten, dass meine Tochter den heiratet“, sagte er. „Mich hat ja keiner gefragt. Hab' ich schon beim ersten Mal gesehen, was das für einer is'.“
„Der hat nicht mal 'n Schatten“, sagte ich. „Und Julia sieht mittlerweile aus wie 'ne Tussi aus einer dieser Kochsendungen.“
„Komm, sie ist deine Schwester“, sagte mein Vater und hob die Augenbrauen.
„Gerade deswegen ja.“
„Weißt du noch, wie sie diesen Typen verprügelt hat, der Nicole nich in Ruhe lassen wollte?“
Ich lachte. „Jürgen Reis hieß der. Klar erinnere ich mich. Nicole hatte sich von dem getrennt, weil der eifersüchtig wie sonst was war, und dann hat er sich vors Auto geworfen.“
Mein Vater nickte. „Nicht vor's Auto - auf die Haube. Hier in der Einfahrt war das.“ Er zeigte auf den Carport. „Hat ihn 'n ganzes Stück mitgenommen, die halbe Straße runter.“
„Dann kam Julia, die ist ihm hinterher.“
„Mit dem Gitter vom alten Grill, der schon auf'm Sperrmüll stand – hat ihm eingeschenkt wie Sonny Liston.“
„Stimmt“, sagte ich. „Der hat geblutet wie sonst was.“
Ein Jahr später hat es Julia nach dem Feuerwehrfest mit Jürgen Reis auf dem Rücksitz seines Asconas getrieben. Ich habe damals ein Telefonat mitgehört, in dem sie die ganze Sache einer Freundin erzählt hat. Ich kenne seine Schwanzlänge und weiß auch, dass sie danach drei Tage lang wie John Wayne gegangen ist.
„Weißt du, was der heute macht, der Jürgen Reis?“, fragte ich und nahm den letzten Schluck Bier.
„Maler“, sagte mein Vater. „Selbstständig, kleine Firma, zwei Wagen hat der glaube ich. Sein Sohn ist letztes Jahr verunglückt.“
„Ach, verdammte Scheiße. Wie das?“
„Bei Hölscher unten am Neubau. Der Junge mit der Schubkarre auf der Planke unterwegs, kippt das Ding.“
„Und er hat nicht losgelassen?“
Mein Vater schüttelte den Kopf. „Aus'm dritten Stock. Hals gebrochen, alles vorbei.“ Er sah mich an. „Siebzehn Jahre.“
„Scheiße.“
„Kannste laut sagen.“
„Wie alt ist Mia jetzt eigentlich?“
„Fünfzehn.“
Mit Fünfzehn bin ich von zu Hause abgehauen, die Polizei hat mich ein paar Wochen später an der dänischen Grenze aufgegabelt. Ich hatte meinem Vater dreihundert Mark geklaut und bin nachts zur Raststätte Siegburg. Ein ungarischer Kraftfahrer nahm mich bis Hamburg mit. Paar Tage trieb ich mich bis zum Morgengrauen am Bahnhof herum. Einmal verlangte ein Junkie meine Schuhe, fuchtelte mit einem rostigen Schraubenzieher herum. Ich lief weg, und er machte nach ein paar Metern schlapp. Auf der Fähre nach Rodby hat mich die Schmiere dann gekascht.
Mein Vater sagte: „Mit fünfzehn haste den Teppich im Partykeller abgefackelt.“
„Stimmt“, sagte ich, ich lachte, weil ich etwas anderes erwartet hatte. „Hole mal grad meine Sachen aus dem Auto.“
Mein Vater streckte die Beine aus und nahm sich noch eine Zigarette aus der Schachtel. „Kannst in dein altes Zimmer“, sagte er. „Ist noch alles da.“
Ich nickte und ging los. Der Rucksack im Kofferraum wirkte in diesem Moment noch kleiner und schäbiger.
Das große Townes van Zandt Poster hing noch über dem Bett, die leeren Plattenhüllen von Whiskeytown und Chuck Prophet in der Wandschräge. Ich setzte mich an den Schreibtisch, öffnete die Schubladen. Sie waren leer, da war immer noch der Geruch nach Papier, Tinte, Dope. Auf dem Bett lagen ein paar frische Handtücher, ich nahm eins in die Hand, faltete es auseinander. Auch das Waschmittel hatte sich nicht verändert.
Meine Mutter klopfte gegen den Türrahmen. „Die Handtücher sind für dich.“
„Hab ich mir schon gedacht, danke dir.“
„Mehr hast du nicht?“, fragte sie und zeigte auf den Rucksack.
„Bleib ja nur 'n paar Tage, was brauch ich da groß?“
Sie nickte. „Und schmal biste geworden.“
„Nennt man Idealgewicht.“
„Idealgewicht“, wiederholte sie. Sie sah mich an. „Biste noch mit der zusammen - hier die mit den vielen Tätowierungen?“
„Schon was länger nicht mehr.“
Sie schüttelte den Kopf. „Wie kann sich ein so schönes Mädchen nur so verschandeln?“
„Keine Ahnung.“
Sie lächelte. „Naja, in Berlin ist so was normal, da gibt’s eben 'ne Menge verrückte Leute.“
„Ja“, sagte ich. „Mehr als hier auf jeden Fall.“
„Wenn du dich frisch machen willst“, sagte sie und zeigte auf die Badezimmertür gegenüber. „Kennst dich ja aus.“
„Ja, danke dir.“
Als sie gegangen war, legte ich mich aufs Bett und schloss die Augen. Die Freundin mit den Tätowierungen hatte ich Anfang des Jahres in den Tannenhof nach Brandenburg bringen müssen. Wir saßen in dem gleichen geliehenen Wagen, mit dem ich gekommen war, hörten Bottle Rockets, rauchten eine Zigarette nach der anderen. Irgendwann wurde es dann doch Zeit. Zwischen uns war schon ein paar Monate lang nichts mehr gelaufen, aber ich konnte sie nicht einfach so verlassen, das hätte sich falsch angefühlt. Auf der Treppe drehte sie sich noch einmal um, lächelte, winkte mir zu. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört.
Ich stand auf und ging runter in die Küche. Das Haus war leer. Mein Vater saß immer noch vor dem Teich mit den Koi, die Augen geschlossen. Ich setzte mich neben ihn.
„Sind ausgeflogen“, sagte er. „Noch 'n paar Sachen für morgen besorgen.“
„Dachte ich mir, ist so ruhig.“
„Hab' mir 'nen neuen Dreher gekauft“, sagte er und öffnete ein Auge. „Steht unten im Partykeller. Und die Monolith auch.“
„Hast schwer aufgerüstet, ja?“
„Noch nicht ausgereizt – können wir nachholen, ist ja keiner da.“
Im Partykeller war es kühl und roch muffig. Mein Vater schaltete die Stereoanlage an, legte eine Scheibe von Rory Gallagher auf und drehte das Volumen hoch. Dann holte er zwei Schnapspinnchen und eine Flasche Zinn 40 aus dem Kühlschrank. Wir standen vor den Boxen, hörten die komplette erste Seite von Deuce - für jeden Song ein neuer Schnaps. Nachdem der Tonarm zurückgeschwenkt war, setzten wir uns auf die Hocker vor der Theke und starrten auf die halbleere Flasche.
„Leg mich mal was hin“, sagte mein Vater. „Will nachher beim großen Fressen fit sein.“
Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Was wegpacken kannste jedenfalls immer noch ganz gut.“
Er lachte. „Bin ja auch im Training.“
Wir gingen hoch. Er legte sich auf die Couch im Wohnzimmer, machte den Fernseher an, die Zusammenfassung des Spieltags lief, Fortuna Köln gegen Bayer Leverkusen war grade dran. In der Küche trank ich zwei Gläser Leitungswasser hintereinander, suchte in den Schubladen nach Aspirin, fand aber keine. Das Wetter hatte aufgeklart, Sonnenschein, blauer Himmel. Ich nahm einen der Haustürschlüssel aus der Glasschüssel auf der Kommode und packte die Zigaretten ein.
Wo früher die KEPEC war - eine Fabrik für Chemikalien, die nach faulen Eier stank - stand jetzt ein REWE-XXL. Der Parkplatz umfasste einen ganzen Straßenblock, war bis auf ein paar Autos aber leer. Ich ging über den Parkplatz, schnippte die Zigarette in eines der Beete und las die Zettel auf dem schwarzen Brett. Jemand verkaufte einen gebrauchten Kinderwagen, ein anderer bot handwerkliche Dienste an.
„Machst'n du hier, Jimmy?“
Ich las noch einen der Zettel auf dem schwarzen Brett, da wollte einer für einen VW Polo noch fünfhundert Euro haben, Baujahr 1999, Farbe wie buntes Bonbonpapier.
„Dachte, bist in Berlin jetzt, Alter?“
Ich drehte mich um. „Frank“, sagte ich und hob meine Hand zu einem müden Gruß. „Wie isset?“
„Jut“, sagte er. „Bei dir, Jung?“
„Mein Alter hat morgen Geburtstag, Siebzich wird der, deswegen bin ich da.“
Er nickte. „Läuft bei dir, hab ich gehört. Berlin und so, geile Stadt, wa?“
„Klar, Mann, kein Vergleich zu dem Kaff hier“, sagte ich, er sah über meine Schulter und nickte abwesend. „Und bei dir? Schön, dich mal wiederzusehen, Frank, echt!“
Er zuckte mit der Schulter. „Muss gehen, ne?“ Dann grinste er. „Biste denn noch was hier?“
„Paar Tage nur.“
„Ach so“, sagte er. „Sonst hätten wir ma einen durchziehen können oben beim Tom.“
„Gibt’s das Baumhaus noch?“
„Klar“, sagte er und hob seine Augenbrauen. „Beste Zeit meines Lebens, Sommer '94.“
Ich lachte, beugte mich nach vorne und fragte: „Haste was da? 'n kleines Pickelchen nur – hätt' total Bock, mir einen zu buffen heute Abend.“
„Gehen wir da rüber“, sagte Frank. Wir blieben zwischen zwei Autos stehen, dann holte er einen Plastikbeutel aus der Jackentasche und öffnete ihn.
„Reicht das?“
„Alter!“, sagte ich und sah auf das Stück Dope in meiner Hand. „Reicht dicke! Was kriegste dafür?“
„Guck ma lieber, dass de vorbei kommst. Tom is meistens auch da. Kurbeln wir einen, quatschen was, verhaften paar Bierchen.“
„Klar“, sagte ich. „Gerne. Und vielen Dank.“
„Kein Ding. Lass dich blicken.“
Ich sah ihm nach, wie er in den Gängen vom REWE-XXL verschwand und ging über den Parkplatz wieder zurück.
Julia stand am Herd und legte fein zerhackte Tomatenstückchen auf Weißbrothälften.
„Focaccia“, sagte sie und verdrehte die Augen.
„Kenn ich“, sagte ich. „Schmecken scheiße.“
Sie boxte mir in die Seite und sagte: „Mach dich mal nützlich, du faule Sau. Kannst die Paprika da schneiden.“
Ich nahm ein Messer aus dem Block und begann, die Paprika zu zerteilen. Julia öffnete den Kühlschrank und nahm die Flasche Weißwein heraus. Sie schenkte sich ein Glas ein, nippte daran und sagte: „Musstest du dich mit dem Alten besaufen?“
Ich nahm ihr das Glas aus der Hand, trank einen guten Schluck und sagte: „Musst du grad sagen.“
Wir machten weiter, sie schnitt Käse zurecht, spießte ihn mit Oliven und Weintrauben auf, ich schnitt die Paprika in schmale Streifen.
„Wo ist der Rest“, fragte ich dann.
„Mutter und Nicole sind spazieren – keine Ahnung, im Wald oder so, Thomas sieht Bundesliga mit Papa, und Mia sonnt sich draußen.“
Ich sah sie an, sie nickte, schnitt dann eine Grimasse und sagte: „Hab's auch gesehen, klar, bin ja nicht blind.“
„Was ist da passiert?“
Sie pfiff leise durch die Zähne. „Freßattacken würd' ich sagen, die Nicole war doch schon immer labil.“
„Labil“, wiederholte ich. „Ja, keine Ahnung.“
„Damals, als die ihre Prüfung hatte, da ist ihr doch schon das Auge weggeklappt, weil die so nervös war. Weißte nicht mehr?“
„Welche Prüfung?“
„Na, ihre beschissene Gesellenprüfung – und hier, ich meine, jetzt in allen Ehren und so, aber Friteuse? Das is' wirklich nicht so anspruchsvoll, dat ist ja keine Raketentechnik.“ Sie hantierte mit dem Messer, schnitt Schalotten zu Würfel, gab sie in die Schüssel zu den Avocados, nahm den Mörser, zerstampfte alles zu einem Brei, schmeckte mit Salz, Pfeffer und einem Schuss Honig ab.
„Mir hat sie immer die Spitzen geschnitten, als ich noch lange Haare hatte“, sagte ich.
„Keine Kunst“, sagte Julia und zuckte mit der Schulter. „Sag mal dem Rest Bescheid, Essen ist fertig.“
Mia lag auf einem Sauna-Tuch hinter dem Haus. Es war gerade frisch gemäht worden, das Gras zu einem großen Haufen zusammengekehrt. Sie hatte Kopfhörer in den Ohren und rauchte eine Zigarette. Ich stieß mit dem Fuß gegen ihren.
„Essen ist fertig.“
Sie nickte. „Komme gleich.“
„Weiß deine Mutter, dass du rauchst?“
„Hat dich gar nicht zu interessieren.“ Sie zog an der Zigarette, ließ den Zeigefinger der anderen Hand zwischen dem Bikini auf ihrer nackten Haut herabgleiten. „Wie is'n Berlin so?“
„Kommt drauf an“, sagte ich. „Was du so vorhast.“
Ihr Finger blieb kurz oberhalb des Beckenknochens stehen, fuhr dann langsam unter das Bändchen, das den Tanga zusammenhielt. „Was ich so vorhabe“, sagte sie, sie grinste und nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette.
„Wie gesagt, Essen ist fertig.“
Mein Vater und Thomas saßen immer noch vor dem Fernseher.
„Wie sieht's beim FC aus?“
„Spielen um die Champions League Plätze“, sagte mein Vater, und Thomas lachte laut auf. „In zehn Jahren nicht!“
„Ach, Thomas ist ja 'n Bayernfan, stimmt.“ Ich sah meinen Vater an und grinse.
„Sympathisant“, sagte Thomas, „nur Sympathisant, ja.“
Wir setzten uns an den Tisch im Wohnzimmer, vor den Schrank mit dem belgischen Bleiglas. Meine Mutter hatte gedeckt, Wildrose, Stoffservietten, das volle Programm. Julia holte Mia. „Wo is'n die Mama?“, sagte sie und goss sich Wein nach. „Immer noch mit der Nicole weg?“
Mein Vater sagte: „Ich weiß es wirklich nicht.“
Julia ging zurück in die Küche, kehrte mit den Focacce zurück, die sie auf einem Tablett angerichtet hatte.
„Mia, holst du noch den Käse, bitte?“, sagte sie und riss ihr unvermittelt die Kopfhörer aus dem Ohr. „Ich rate dir, es heute gar nicht erst zu probieren, alles klar?“
Mia winkte ab und stand auf. Julia blickte einmal in die Runde, keiner sagte etwas. Sie hatte sich viel Mühe gegeben, die Käsespieße mit Trauben und Oliven, die Focaccia, Melonen mit Parma-Schinken, Fingerfood - alles wirkte wie aus der Werbung für ein neues Restaurant.
„Magst du eigentlich Kochsendungen?“, fragte ich, Thomas stöhnte auf, Julia zuckte mit der Schulter und sagte: „Du magst Musik, die kein Schwein kennt.“
Ich hob meine Hände und sagte: „Schon gut.“
Mia brachte den Käse, dann saßen wir da, warteten.
Nach einer Viertelstunde kamen Nicole und meine Mutter. Sie setzten sich an den Tisch, als sei nichts gewesen.
„Können wir jetzt endlich?“, sagte Julia und nahm sich ein Stück Melone.
„Das sieht alles sehr gut aus“, sagte meine Mutter. Thomas versuchte uns ein amerikanisches Craft-Bier mit Kaffeearomen schmackhaft zu machen, das er mitgebracht hatte, aber mein Vater meinte, wenn er Kaffee trinken wolle, tränke er eben Kaffee und kein Bier. Ich probierte die Focaccia und lobte Julia überschwänglich. Mia aß einen Käsespieß und durfte danach Weinschorle trinken, die Julia ihr mixte. Nicole starrte die ganze Zeit auf den leeren Teller, der vor ihr auf dem Tisch stand. Manchmal sah es so aus, als ob sie sich gleich etwas von einem der Tabletts nehmen würde, dann zuckten ihre Finger kurz oder sie schürzte die Lippen. Meine Mutter legte ihr schließlich die Hand auf den Arm und drückte ihn leicht, aber Nicole hob nur ihr Kinn und trank einen Schluck Mineralwasser.
Wir sprachen über die Feier, wer alles kommen würde, über die Onkel und Tanten, die ich alle seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, die alten Freunde meines Vaters – alles Verbrecher, wie meine Mutter meinte. Es klang nach einer tollen Feier mit vielen guten Leuten. Gegen zehn Uhr verabschiedete ich mich und ging auf mein Zimmer. Ich setzte mich aufs Bett, holte das Dope raus, suchte die OCBs. Es war ein richtiger Brocken, anderthalb Gramm, weich, geschmeidig, die Oberfläche schön ölig, der Geruch intensiv und süß. Ich rollte den Joint holländisch, brannte das überflüssige Papier ab, dichtete die Naht mit Spucke. Nach den ersten Zügen spürte ich die Wirkung, legte mich hin, genoss die Stille, wie mein Körper auf das Dope reagierte. Dann ging mein Mobiltelefon.
Ihre Stimme klang leise und brüchig. „Du weißt, von wo ich anrufe, oder?“
„Ich habe dich hingefahren.“
„Ach ja“, sagte sie und hustete.
„Wie geht’s dir?“
„'s Essen is' beschissen“, sagte sie. „Und mir ist ständig kalt.“
„Scheiße.“
„Die Leute sind auch zum Kotzen.“
„Bist nicht wegen den Leuten da.“
„Jaja“, sagte sie, „schon klar.“ Ich hörte sie so atmen, als läge sie direkt neben mir. „Und bei dir?“
„In meiner alten Heimat, in meinem alten Zimmer, mein alter Herr feiert morgen seinen Siebzigsten.“
„Familienfeier“, sagte sie leise.
Ich schloss die Augen und zog am Joint. „Ich mach's Beste draus.“
Sie hustete wieder, dann sagte sie: „Hör mal, ich glaub, ich komm nicht mehr zurück – also du weißt, wie ich das meine, ja? Nicht mehr zurück nach Berlin. Brauch einfach was Abstand, war alles was viel. Mein Körper rebelliertund so, weißt was ich meine. Vielleicht 'ne Zeitlang nach Hause. Hab deswegen schon mit meiner Mutter telefoniert, ihr macht's nicht aus. Is' Scheiße wegen der Wohnung und der Kohle, die ich dir noch schulde, aber ….“
„Kein Problem“, sagte ich. „Das geht vor.“
„Geld kriegst du, sobald ich flüssig bin, okay?“
„Okay.“
„Okay“, sagte sie. „Ich muss, die sind was streng hier, von wegen ab zehn Uhr Ruhe und so.“
„Klar. Schlaf gut.“
Sie sagte: „Du auch“, und legte auf.
Ich holte meinen MP3-Player aus dem Rucksack. 1000 Dollar Car war unser Song gewesen. Vor mir hatte sie mit einer Frau in einem kleinen, kalten Loch in Friedrichshain gelebt. Sie hatten einen Futon, einen Kleiderständer, ein hellblaues Kanapee und ein riesiges Charles Bukowski Poster. In ihrem Kühlschrank Rosè und Jelzin, den sie immer mit Orangensaft verdünnten. Sie war schmal, fast schon abgemagert, hatte schlanke Hände, lange Finger, die sie immer nachlässig lackierte. Wir hatten uns auf einer Open Scene für Singer-Songwriter kennengelernt, ihre Freundin war mit einem Gitarristen aus Texas dort, der angeblich an einer Albumproduktion von Lucinda Williams beteiligt gewesen war. Ich spielte ein paar meiner Songs und ließ mich danach draußen am Kiosk volllaufen. Später am Abend sprach mich an und meinte, meine Sachen würden sie an den frühen Chris Knight erinnern. Ich glaubte ihr kein Wort, aber sie schrieb mir ihre Nummer mit Edding auf den Unterarm.
Gegen zwei Uhr morgens wachte ich auf. Im Haus war es ruhig, alle schienen zu schlafen. Mein Mund war trocken vom Dope. Ich stand auf, ging pissen, dann ganz vorsichtig die Treppe runter in die Küche. Das Licht ließ ich überall ausgeschaltet, ich tastete mich langsam vorwärts. Nachdem ich die Kühlschranktür aufgezogen hatte, erkannte ich zuerst nur ihre Umrisse, stieß dabei gegen die geöffnete Geschirrspülmaschine.
„Nicole“, flüsterte ich.
Sie tauchte den Löffel in den Kartoffelsalat, der vor ihr auf dem Tisch stand. Sie saß hinten in der Ecke neben der Kaffeemaschine. Ich nahm eine Flasche Mineralwasser und schloss den Kühlschrank wieder.
„Hast du 'ne Zigarette da?“ Der Löffel kratzte am Plastik, dann schob sie die Schachtel über den Tisch, ich sah das Logo in der Dunkelheit schimmern. „Macht dir was aus?“
Sie schüttelte den Kopf und aß weiter den Kartoffelsalat, sie aß den ganzen Eimer. Als ich die Zigarette ausgedrückt hatte und schon aufgestanden war, sagte sie leise: „Jimmy.“ Ich hörte es in ihrer Stimme. „Alles gut“, sagte ich und nahm sie in den Arm, ihre Tränen liefen an meinem Arm herunter, tropften auf den Boden. Sie weinte, und ich hielt sie, bis sie damit fertig war. Dann reichte ich ihr ein Küchentuch, das über dem Stuhl hing, und sie lächelte und wischte sich das Gesicht trocken. „Geh schlafen“, sagte ich, als ich auf der Treppe stand und streichelte ihr noch einmal über den Kopf.
Ich pulte den toten Joint aus dem Aschenbecher und zündete ihn noch einmal an. Drei, vier Züge tat er es noch, ich behielt den Rauch solange in den Lungen, wie es ging. Danach legte ich mich wieder hin. Ich starrte auf die rot glühenden Ziffern auf dem Radiowecker: 3.25, 4.40. Mein Vater schnarchte, die Betten knarrten, in einem Rohr gluckerte Wasser und Luft. Um sechs Uhr stand ich auf, ging ins Badezimmer. Ich putzte mir die Zähne, rasierte mich, putzte mir noch einmal die Zähne. Der Duschstrahl war kräftig, ich stellte das Wasser so heiß ein wie möglich, benutzte das Duschgel meines Vaters, Moschus und Menthol.
Früher kamen Typen aus der Oberstufe zu mir, um mich nach Nicole auszufragen. Einer, Roland Jenning, wartete immer vor meinem Schließfach. Sein Vater war Bulle, aber kein Dorfsheriff, sondern was Höheres, immer bei den fiesen Sachen dabei – Leichen, Mord, Raubüberfälle. Roland war ein großer, athletischer Typ mit blonden, kinnlangen Haaren und einem zuckersüßen Lächeln - einer von denen, die mit Mädchen niemals Probleme haben. Es hieß, er habe die schärfsten Bräute flachgelegt, nur Nicole fehle noch auf seiner Liste. Er ging die ganze Sache Generalstabsmäßig an, fragte mich, in welche Disco sie geht, was sie für Musik mag, welches Parfüm. Wir hatten ziemlich schnell ein Tauschgeschäft am laufen - Infos über Nicole gegen ein paar Details von Verbrechen, mit denen sein Vater beruflich zu tun gehabt hatte. Nicole stand auf Sisters of Mercy und Fields of Nephilim, trug hautenge, schwarze Kleider und hatte sich die Haare grellrot gefärbt. Nach der Schule hing sie vor dem Kaufhof mit ein paar älteren Typen ab - sie rauchten Zigaretten, tranken Bier und Rotwein aus Kartons. Sie dachte keine Sekunde an jemanden wie Roland Jenning, aber davon ließ er sich nicht beirren, er ließ nicht locker. Irgendwann im Sommer fuhr er dann mit dem Rad ans Siegufer, wo Nicole und die anderen auf einer Insel mitten im Fluss rumhingen und kifften. Das Wasser an der Stelle war zwar nur bauchtief, doch es gab Untiefen, alte Bombenlöcher, Strudel. Wer den Stein geworfen hat, ist nie rausgekommen, jedenfalls hat er Roland Jenning an der Schläfe erwischt, er muss sofort bewusstlos gewesen sein. Sie haben ihn ein paar hundert Meter weiter aus dem Wasser gezogen, sein Körper hatte sich am Wehr in einer der Schleusen verfangen. Er hat es überlebt, aber sein Gehirn war minutenlang ohne Sauerstoff. Nicole hat ihn einmal im Heim besucht, sie hat sich als seine Verwandte ausgegeben. Er lag im Bett, war an ein Beatmungsgerät angeschlossen und vollkommen weggetreten - nur noch Gemüse, wie Nicole erzählte.
Ich spürte noch den Luftzug, als sie die Tür zur Dusche aufzog. Sie drückte sich gegen mich, streichelte über meinen Bauch und ließ die eine Hand tiefer gleiten.
„Lass das besser“, sagte ich, Mia lachte nur.
„Hast du Schiss?“
„Nein.“
„Wärst nicht der Erste, keine Sorge“, sagte sie und wog meine Eier in ihrer Hand.
„Warst zu viel im Internet, das ist alles.“
Sie drückte mit zwei Fingern auf meinen Damm und strich mit dem Daumen über die Eichel. „Da lernt man 'ne ganze Menge.“
„Nein“, sagte ich und drehte mich um. „Lass das.“
Ihr Haar war nass und dunkel, lag wie eine Maske am Kopf an. Sie legte die Hand auf meine Brustmitte, beugte sich nach hinten, lehnte sich gegen die Kacheln und stellte ihre Ferse in die Seifenablage. Blut strömte in meinen Unterleib, und sie öffnete den Mund, leckte sich über die Lippen und sagte: „Na also.“
Sie krallte sich an meinem Oberarm fest und presste mir ihr Becken entgegen. Nach zwei Stößen packte ich sie am Hals und drückte sie gegen die Duschwand. „Du bist ja irre“, sagte ich und schnappte mir im Rausgehen ein Handtuch. Ich schloss die Zimmertür ab, stand da, hörte auf das Rauschen des Wassers. Sie blieb noch zehn Minuten unter der Dusche, ging dann wieder auf ihr Zimmer, ich hörte, wie sie mit Julia und Thomas sprach, ihren Eltern. Meine Knie zitterten, und ich wartete darauf, dass irgendetwas passiert, dass jemand an meine Tür klopft oder sonst was, aber nichts geschah, nichts.