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Vor Anantapur
Ich sitze neben einem Mann, der auf einem Stück Holz kaut. Hinter der Sonnenbrille sehe ich alle, aber sie mich nicht. Der Zug rumpelt, tuckert, schnauft, nach Anantapur, noch zwei Stunden vielleicht, das kann man berechnen. Ich halte meine Haare mit einem Tuch bedeckt, doch meine bleichen Hände liegen vor mir auf dem Tisch wie zwei Beweisstücke. Ich lese vom zunehmenden Mond bei Tagore, aber habe das Gefühl nur die Hälfte zu verstehen. Wenn überhaupt. Hinterm Fenster eine blaue Weite, die Sonne drückt sich durch horizontale Schichten wie in einem Cocktailglas. Hier werde ich unsichtbar, höre den Mann neben mir schnarchen, das angesabberte Stück Holz in der Hand, und beschließe, dir einen Brief zu schreiben.
Wenn man sich konzentriert, dann braucht alles ein bisschen länger. Ich erinnere mich an dein Gesicht, aber das Mädchen, das ich vor ein paar Jahren war, habe ich schon vergessen. Du bist jetzt eine Brücke für mich, ein Archiv, mein Tagebuch. Was ich in dir nicht finde, existiert für mich nicht. Halte mich nicht für selbstsüchtig, das hier ist für dich, ich brauch es nicht mehr, also lass ich es los. Behalte diese Erinnerungen oder mach damit, was du willst. Sie gehören jetzt dir. Und um noch etwas vorwegzunehmen: Wir werden uns nie wiedersehen.
Es war schwül und Sommer. Die Süße klebte wie Honig an den Fensterscheiben. Du trugst lange Haare und ich nicht, weil ich das albern fand und langhaarige Mädchen für angepasst hielt; vor allem aber mich selbst, wie du weißt. Wir tauschten Namen aus, als hätten wir uns dazu verabredet. In dem Kino, in dem immer nur alte Streifen liefen, trafen wir uns, fuhren Papierbötchen auf einem mit Wasserstoffsulfid verseuchten See und bezeichneten uns als romantischen Sondermüll. Kurz: Wir lernten uns kennen. Bis dahin wusste ich nicht, wie das ist, einen besten Freund zu haben, wie schön. Wir kochten Spaghetti und hielten uns für erwachsen; schauten Stummfilme in Farbe und verrieten uns unsere Wünsche und Ängste. Schliefen wir bei dir, beachteten deine Eltern dich. Bis sie begriffen, dass da nichts lief, außer Freundschaft eben. Ich hab sie von Anfang an gehasst. Ob du eine Schwuchtel bist, hat dein Vater dich gefragt, weil wir nichts miteinander hatten und er das komisch fand. Ich hab dir angeboten, zu sagen, dass wir ein Paar sind. Du hast mit dem Kopf geschüttelt und von da an haben wir uns nur noch bei mir getroffen. Meine Eltern haben uns behandelt, als wären wir Geschwister. Sie liebten dich, genau wie ich.
Wie verstört du warst. Du hattest deinen ersten feuchten Traum und stottertest und deine Zunge war wie taub und dann musste ich es aussprechen, weil du dich so geschämt, es aber nicht ertragen hast, auch nur ein Mal ein kleines Geheimnis ganz allein für dich zu behalten. Du hast mich angestiftet. Alles habe ich ausgespuckt, wir haben uns ausgezogen voreinander, ohne uns jemals zu berühren. Vom Tennistrainer wusstest du und dass ich diesen Sport verabscheute und doch gute Miene machte, weil ich ihn übers Netz hinweg riechen konnte, und es war ja nicht undenkbar. Er hat die Zeichen nicht gesehen oder hat sie nicht sehen wollen.
Was dich angeht, bin ich mir sicher, deine Talente haben sich entfaltet, wie man so schön sagt. Nur, dass du kein Priester geworden bist, hoffe ich, was nicht heißt, dass ich mir dich nicht im Talar vorstellen kann. Du hast gezeichnet, gemalt, Isländisch gelernt und Alemannisch. Auch wenn du dich nicht sehr leiden konntest, muss dir aufgefallen sein, dass andere stolz darauf waren, mit dir befreundet zu sein. Alle, außer deinen Eltern.
Die Zeit des Dornröschenschlafes, in dem sich unser schönes und hässliches Städtchen befand, und wir uns mit ihm, beendete unsere Freundschaft nicht. Im Gegenteil glaube ich, dass wir noch tiefer schliefen, weil es sich zu zweit so schön träumen ließ. Du lerntest Tamara kennen, die du, warum auch immer, mochtest. Die unter Essstörung litt und die einzige Person war, die ich kannte, die nichts wollte, außer sehr guten Noten, die sie ihren Eltern zeigte, die ihr rieten, Freunde zu treffen, die Tamara nicht hatte. Bis sie uns kennenlernte. Sie war die einzige, die vom Gewitter, das uns zwei letztlich auseinandergebracht hat, verschont blieb. Kein Wunder, wenn du mich fragst.
Allein im Dunkeln bist du nie gern gewesen. Du bist nie gern allein gewesen. Immer mussten andere dir zeigen, was dein Wert ist, weil du dir selbst nicht geglaubt hast. Nur, wenn wir zusammen waren. Ich hab dich oft stundenlang im Arm gehalten. Schöner, trauriger Junge. Du hast dich an meine Brust gedrückt, die Augen geschlossen. Hast gelächelt und ich hab gelächelt. Zweihunderteinundachtzig Porträts und meine Haare sind immer länger und länger geworden.
Nach Tamara lernten wir Ben, unseren zweiten gemeinsamen Freund kennen. Für dich eine Vaterfigur, für mich der Beweis, dass ich scheinbar doch in der Lage war, Freundschaften zu schließen, und das mit uns nicht einfach nur ein mehr oder weniger glücklicher Zufall war. Richtig Freunde haben. Mit sechzehn, wir waren wirklich spät dran. Vier Seelenkrüppel aus der Ostprovinz. Du wolltest verlassene Kirchen sehen. Nach Zeitz sind wir gefahren, nach Bernburg und Meilendorf, haben Picknick gemacht auf einem Altar. Es war das beste Jahr jemals. Das Gewitter aber lag schon in der Luft.
Zu ihrem Geburtstag überraschten wir Tamara im Biologie-Club. Du hattest sie gemalt, aber es war eines deiner schlechtesten Bilder. Ben schenkte ihr einen goldenen Kuli und ich ihr ein Buch über Entspannungstechniken. So hatte es etwas vom Besuch der heiligen drei Könige. Tamara war das Jesuskind und freute sich wie eines. Aber nur eine Dreiviertelstunde lang, drei Stück Kuchen, die wieder im Klo landen würden. Tamara musste ‚weitermachen‘. Man sei ehrgeizig. Man habe Pläne. Man trinke Sekt nur am Wochenende. Tamara konnte nicht loslassen, nicht verlieren, nicht nicht Tamara sein. Ich wusste, dass die Wege sich trennen.
Deine Eltern waren nach wie vor ein Thema. Zu deinem Siebzehnten hatte deine Mutter dir gesagt, dass sie besser nicht mit dir schwanger geworden wäre. Du hast sogar genickt, meintest du. Wie konntest du nach allem immer noch ein guter Sohn sein wollen? Kurz habe ich überlegt, ob du dir diese Sachen einfach ausdenkst, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand wirklich so bösartig sein kann. Aber welchen Grund hättest du schon gehabt? Ein Märtyrer warst du, ein dummer, und wenn es etwas bringt, nutze ich diese Gelegenheit gerne, um dich hiermit heilig zu sprechen. Mein Freund St. Omer, der Talentierte, der sich seinen Eltern zum Fraß vorwarf und oft bei uns zum Pizzaessen vorbeikam, der mein Bruder wurde und ich seine Schwester. Es hat mich in der Brust gezwickt und wenn du nicht hingesehen hast, habe ich manchmal geweint. Selbst wenn man einen Menschen mag, kann es sein, dass man ihn in der Ostprovinz zurücklassen muss. Es tut weh, falls dich das tröstet.
Ben für seinen Teil hat sich aufgelöst wie eine Aspirintablette. Manchmal muss man gar nicht viel sagen. Jedenfalls hat er es nicht geschafft, sich zu trennen. Die Spielsachen, die Kleinodien, in denen er sein fünfzehnjähriges Ich konservierte, wurden Stück um Stück zum Museum aufgebaut, dessen Direktor und alleiniger Besucher er selbst war. Als Einzelgänger ist er geboren und wird, das hoffe ich, von Zeit zu Zeit noch Gäste in sein Museum locken. Sei mir nicht böse, aber er ist dir nur ein Vater gewesen, weil das die einzige Rolle ist, bei der man im Grunde bei sich selbst bleibt. Schwer war es nicht, ihn loslassen, aber das zu hören, würde ihn sehr kränken.
Meine Haare waren gerade schulterlang, als du mich gezwungen hast, dir deine abzurasieren. Auch die Nachrichten wurden immer absurder: Ein Mensch aus Arizona behauptete, aus einer anderen Zeit hergereist zu sein, in Mülheim-Kärlich wurde ein Atomkraftwerk mit einem Kühlturm verkauft, der höher war als der Kölner Dom, und in Bayern entdeckten sie eine neue Flusskrebsart. Zum Glück wohnten wir alle im dritten oder vierten Stock. Als im Juni die Elbe überlief und das Hochwasser kam, bekamen wir alle zwei Tage schulfrei. Die hast du bei uns verbracht. Du musstest jetzt nicht mehr vierundzwanzig Stunden am Tag guter Sohn spielen. Vielleicht noch achtzehn, aber das war ein Fortschritt. Wir schauten Filme von Sagan oder lasen uns Comics vor, bis die Welt wieder in Ordnung war.
Deine Bilder verkauften sich auf Facebook wie sonst was. Das hielt zwei sogenannte Eltern nicht davon ab, sich für ihren Sohn zu schämen. Ein Künstler, so eine Vergeudung. Doch wenigstens fiel dir auf, dass deine Mutter einmal erwähnt hatte, sie habe Glasmalerin werden wollen; bevor deine Fruchtblase und damit ihr Traum geplatzt ist. Große Kirchenfenster. Sie hätte das gekonnt. Stattdessen war sie selbst zu einer Art Marienbildnis geworden. Nur der Heiligenschein fehlte noch. Du hast gelernt, dir selbst zu vertrauen. Immerhin wurdest du mit Komplimenten bombardiert. Omer hier, Omer dort. Die MZ hat über dich geschrieben und eine Galeristin aus Frankfurt machte dir eine Art kapitalistischen Heiratsantrag. Ich glaube, nein zu sagen, war nicht die schlechteste Entscheidung, ein wichtiges Signal vielleicht sogar, und eine Ausstellung in der Schirn sprang trotzdem heraus.
Irgendwie hattest du den Braten gerochen. Vielleicht hatten das alle, außer mir. Dieser Braten war mein Tennislehrer. Ob kurze Haare oder lange, ob St. Omer oder nicht. Zweimal die Woche ging ich zum Tennis und zog meinen Rock immer höher. Du musst ihn fragen, Ari, sagtest du. Aber wenn er schon die Zeichen nicht sieht! Er sieht sie, aber er will, dass du den ersten Schritt machst, wie man so schön sagt. Vielleicht hätte ich auf dich hören sollen, bevor es zu spät war. Aber wer hätte schon mit diesem Gewitter gerechnet? Ich nicht.
Es war die REM-Phase des Dornröschenschlafes. Die Augenlider zuckten kurz, aber zum Aufwachen reichte es nicht. Tamara und Ben hätte kein stampfendes Nilpferd aufgeweckt. Wie sonst auch zog Ben es vor, in verklärter Weise von seiner Vergangenheit zu sprechen. Er war nie gemobbt worden, hatte sich nie glatte, statt lockigen Haaren gewünscht, hatte nie kleiner und hagerer sein wollen, weil das seinem Schönheitsideal entsprach. Vor allem aber hing Ben zu null Prozent an seinem fünfzehnjährigen Ich und trauerte dem Mädchen, das ihm damals einen Korb voll Scheiße gegeben hatte, in keiner Weise nach. Es war alles in Ordnung. Niemand brauchte sich Sorgen machen.
Tamara ging vollständig darin auf, Teil von etwas zu sein. Als solcher wurde sie allseits geschätzt. Teil des Freundeskreises, Teil der Klassengemeinschaft, Teil des Biologie-Clubs, Teil der Familie. Man werde sich das Leben schon verdienen. Man arbeite hart und nachts und sei seines eigenen Glückes Schmied. Ein stummer Applaus für Tamara, ein Lächeln, ein süßer Traum. Hach! Auch für sie hast du auf Café Keese gemacht. Sie wollte ja so gern, aber die Potenziellen waren ihr dann doch immer zu langweilig. Dann lieber solo. Irgendwann kommt er schon, während eines Doktorandenseminars oder einer ungezwungenen Betriebsfeier. Go for it!
Und dann, als wirklich niemand damit rechnete, kam der vierzehnte April. Du musst ausnahmsweise bei dir zu Hause gewesen sein. Was Ben machte, wusste ich gar nicht mehr so richtig. Tamara arbeitete wahrscheinlich. Es gab eine Warnung und kurz hatte ich den unverfänglichen Gedanken, solche Wetteranomalien könnten theoretisch auch etwas mit dem Klimawandel zu tun haben. Weil das aber niemand aussprach, war wahrscheinlich noch genug Zeit, um an andere Möglichkeiten zu glauben. Ein feuchter Blitz, dann kam die ganze Soße herunter. Hast du so etwas schon mal gesehen, Ari, hast du?, fragte mein Vater. Ich hab so was noch nie gesehen, Ari, noch nie.
Es war das Wunder, auf das niemand gewartet hatte. Blitzkaskaden färbten den Himmel, Fensterscheiben platzten und wir hörten unsere Stimmen nicht mehr. Ich dachte nicht an dich, Omer, nicht an Ben oder Tamara. In meinem Kopf schlug jemand Tennisbälle. Gelb und feucht. Du hast davon in den Nachrichten gelesen: Tennistrainer (36) zu Asche verbrannt. Aber Omer, ob du mir glaubst oder nicht, ich habe es gewusst. Ich habe es in diesen Minuten vorhergesehen. Der Rest ist dir bekannt, aber nicht die Konsequenz. Du hast mir geglaubt, aber ich hab dich belogen. Im Tennisrock bin ich zum Galgenberg. Die Bäume um mich herum haben gebrannt. Ich habe mir gesagt, wenn mich der Blitz trifft, dann sterben wir im selben Moment. Es waren hunderte und ich die Bergspitze. Doch sollte ich verschont bleiben, hau ich hier ab, lass euch alle zurück, egal, ob du einer von denen bist.
Warum hat es den Tennistrainer getroffen und nicht deine Eltern? Die Welt ist schlecht. Während ich dort stand und auf meinen Blitz wartete, verprügelte dich dein Vater. Dass du endlich rauskommst, Schmarotzer. Wir trafen uns vor meiner Haustür. Abgesehen vom Platzregen und kniehohen Wasser war es ein unauffälliger Freitagabend. Wir waren durchnässt bis auf die Knochen, wie man so schön sagt. Die Blitze zuckten in der Ferne und aus deiner Nase und deinem linken Auge blutete es. Der vierzehnte April war dein Einzugsdatum bei uns und so manches unbekümmertes Seelchen wird dieses Jahrhundertwetter aus den Träumen gerissen haben. Vielleicht hat Ben sich endlich als den Einzelgänger erkannt, der er nun einmal ist. Tamara dürfte, wenn überhaupt, festgestellt haben, dass es keine Rolle spielt, was die Zeitläufe so bringen. Man gehe seinen Weg. Man verfolge ihn strammen Schrittes. Zumindest du bist in jener Nacht deinen Rabeneltern davongeflogen. Aber was ist mit mir?
Nach Anantapur sind es immer noch zwei Stunden. Der Zug ist steckengeblieben, worin auch immer. Der Mann kaut wieder auf seinem Stück Holz. Auch ich habe Appetit bekommen. Mit der Mittelmäßigkeit ist es ein Kreuz, das sage ich dir, und das schleppe ich jetzt woanders mit mir herum. Nur um eines will ich dich noch bitten: Komm niemals her! Du würdest mich bereits nach kurzem Suchen finden. Bleib, wo du bist, wenn du jemals mein Freund St. Omer warst. Erzähl ihnen, ich sei gestorben, im Zug stecken geblieben, ein bengalischer Tiger, denk dir das Dramatischste aus.