Von Schulkindern und -eltern
Zwei Tage nach Ende der großen Ferien werden wir morgens um sieben wach. Der Wecker, gestern abend extra weit weg gestellt, damit wir nicht verschlafen, klingelt erbarmungslos. Heute ist ein wichtiger Tag.
Morgens um sieben war bisher eigentlich immer noch Schlafenszeit, brauchte doch bisher keiner von uns vor acht Uhr aufstehen. Doch heute und wahrscheinlich ab heute wird das anders, denn für unsere Tochter beginnt „der Ernst des Lebens“.
Alle sind wach, also meine Frau und ich, nur die Hauptperson schläft noch. Kein Wunder, konnte sie doch gestern abend vor lauter Aufregung nicht einschlafen.
Um neun Uhr ist Schulgottesdienst, also noch genügend Zeit um in aller Ruhe Kaffe zu trinken. Unsere Tochte ist aufgestanden und direkt hellwach, wäscht sich sofort, ist in Null Komma Nichts angezogen - „FERTIG!“
Wir treffen die Großeltern vor der Kirche. Mein Gott, denke ich, wie lange war ich schon nicht mehr hier?
Alle sind aufgeregt, ich auch und dennoch bemerke ich andere Eltern die noch nervöser scheinen. Der eine hat hektische Flecken im Gesicht, die nächste Mutter streicht ihrem, stolz den Tornister tragenden Sohn unablässig über den Kopf. Fotoapparate klicken und Videokameras surren. Ein Vater bekommt von der ganzen Zeremonie gar nichts mit, aber er kann sich später ja alles ganz genau im Fernseher angucken.
Der Gottesdienst war gar nicht so blöd denke ich im Hinausgehen. Könnte man auch mal so wieder machen; doch jetzt rüber zur Schule.
Der Videovater wäre beinahe vor ein Auto gelaufen. Na klar, ein Auge am Sucher und das andere zugekniffen, da ist das Gesichtsfeld deutlich verengt.
Die einundvierzig i-Dötze, von mindestens fünfmal so vielen Erwachsenen begleitet sind aufgeregt, Eltern und Großeltern womöglich noch mehr. Den meisten geht bestimmt die eigene Schulzeit durch den Kopf, sie sehen sich selbst in ihrem Kind.
Der eine mag sich noch an den Rohrstock erinnern können, während der nächste vielleicht daran denkt wie es war als er zum ersten Mal an die Tafel mußte. Anekdötchen aus der gehassliebten Schulzeit werden zum Besten gegeben.
Die Tür geht auf, Geschiebe, Gedrängel!, ja so ist Schule von innen: Es riecht nach Bohnerwachs.
Die Kinder bekommen einen Extraplatz, denn die vierte Klasse hat ein kleines Theaterstück eingeübt, doch vorher betritt eine Frau das Podest, der man von weitem ansieht, daß es eine Lehrerin ist. „Wie meine alte Deutschlehrerin“, denke ich und sofort fallen mir meine Aufsatzfünfen ein und diese nervtötenden Zeichensetzungsregeln. Ich fühle mich beinahe wie ertappt. Nur nicht auffallen, die sieht so aus als würde sie mich gleich drannehmen. - Glück gehabt! Nur ein paar organisatorische Dinge hat sie mitzuteilen, daß die Kinder nach der Aufführung eine Stunde in die Klassenräume gehen, verbunden mit der Bitte an die Eltern nicht zu stören und auch nicht vom Pausenhof aus durch die Fenster zu fotografieren. Unser Videopapa wird ganz hektisch.
Nach der gelungenen Aufführung die die frischgebackenen Schüler mit einer Art Kasperletheaterbegeisterung verfolgt haben, geht’s in den Klassenraum. Ja, jetzt riecht’s nach Bohnerwachs und Kreide!
Unsere Tochter hat schnell einen Platz gefunden und sitzt mit glühenden Backen auf dem Stuhl.
Die Klassenzimmertür schließt sich und die Eltern haben „Pause“. Ich rauche eine Zigarette auf dem Schulhof. Das habe ich nicht mehr seit meiner Entlassungsfeier getan, doch diesmal drücke ich die Kippe aus und werfe den Stummel in den Mülleimer.
Es klingelt! Die Klassentür geht auf und, ja, da sind sie alle wieder. Glücklich, strahlend fällt uns unser frischgebackenes i-Männchen (der sollte man i-Weibchen sagen?) in die Arme: „Wir haben schon unseren Namen in das Buch schreiben dürfen!“
Tumultartige Umarmungen, vor dem Auge des Kameravaters surrt das Tele schon wieder, auch wir machen Fotos: mit der einen Oma, mit der anderen, mit Vater und Mutter, mit beiden Omas und die Hauptperson immer mit dem gleichen stolzen Gesichtsausdruck, der dicken Zuckertüte im Arm und der Gewißheit jetzt ein richtiges Schulkind zu sein!
Herzlich willkommen im fliegenden Klassenzimmer, im Club der toten Dichter und der Feuerzangenbowle.
Auf dem nach hause Weg präsentiert Anna stolz ihren Stundenplan: Wir müssen viermal die Woche zur ersten Stunde aufstehen!
Na denn,
Glück auf!