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Von Bangladesch und Darth Vader
Aglio e Olio
“Hallo Jana, ich bin dein Vater.”
So beginnt man keinen Freitag Morgen. Wenn überhaupt, dann gehört das zu einem Montag - wenn der Tag eh schon scheiße ist.
Jana kniff die Augen zusammen. “Mein Vater …”
Er nickte. Halbglatze.
Sie griff sich an den Ärmel ihres unechten Benetton-Sportsackos und fühlte sich plötzlich unwohl.
“Ah ja. Genau. Hören Sie, es wäre nett, wenn Sie jetzt gehen könnten.”
Er sah sie bedröppelt an. Der Mann stank nach Knoblauch. Oder Pizza. Oder Knoblauchpizza.
“Aber Jana, ich …”
“Ja, ich weiß. Mein Vater. Hören Sie, ich muss zur Uni. Gleich. Also, jetzt. Deswegen, wäre es super, wenn Sie … einfach … gehen könnten.”
“Jana, ich …”
Sie schlug die Tür zu.
Sie atmete durch. Ihre Hände stemmten sich gegen die Tür. Dann atmete sie erneut. Laut. Er hörte es. Wahrscheinlich. Sie ging davon aus und duckte sich unter dem Türspion weg.
Nach einigen Sekunden ausharren, schlich sie sich, ging sie, lief sie schließlich, in die Küche. Ihre Toasts waren fertig - gewesen. Jetzt waren sie hart. Sie schmiss sie in den Abfalleimer und tadelte sich im selben Moment über ihre Angewohnheit immer gleich zwei Toasts in den Toaster zu stecken. Und zu toasten. Also der Toaster. So hätte sie es vermeiden können und hätte jetzt noch einen Toast gehabt. Aber nun war die Packung leer. Und zwei Toasts waren im Eimer. Sie steckte den Toaster aus.
Hungrig ging sie ins Bad und prüfte ihr Make-up. Es war ihr Schlafmake-up. Kein Make-up.
Sie zog sich die Wimpern nach. Und etwas Rouge. Und etwas Lippenstift. Zuviel Lippenstift. Sie tupfte sich etwas Lippenstift mit einem Taschentuch von den Lippen. Perfekt.
Dann zog sie sich aus und zog sich neue Sachen an. Nur der BH blieb gleich. Es war ihr einziger. Der andere war kaputt. Und der andere Andere war geklaut. Ob er ihn trug? Dämlicher Jakob. Sie vermisste ihn. Wie es wohl in Bangladesch war? Ob er Inderinnen hübsch fand? Ob er tanzen kann?
Sie wirbelte sich den Schal um den Hals. Dann griff sie nach ihren Schlüsseln, ihrer Tasche, ihrer Jacke. Sie öffnete die Tür und bereute es daraufhin auch sogleich, als der Knoblauchmann immer noch davor stand. Sie erschrak. Er erschrak. “Jana, ich …”, sie drückte ihn beiseite und ging zügig die Treppen nach unten. Er folgte ihr nicht.
Dann ging sie zur Straßenbahn und wartete. Wegen ihm hatte sie die um 09:29 Uhr verpasst. Warum konnte sie nicht um halb kommen. Die Straßenbahn. Halb kommen. Ihr letzter Orgasmus war ewig her. Hatte sie überhaupt je einen gehabt? Und Jakob? Der kam immer. Zu jeder vollen Stunde. Ganz kommen. Komm heim, Jakob!
Sie rieb sich die Hände. Es war kalt. Januar. In Bangladesch sind es bestimmt keine Minusgrade, schätzte sie jedenfalls.
Dann kam die Straßenbahn. 09:34 Uhr.
Ob er wirklich ihr Vater war? Wohl kaum. Ihr Vater musste blond sein. Sie war blond. Ihre Mutter nicht. Musste das so sein? Sie legte ihren Kopf gegen die kalte Scheibe der Straßenbahn. Schläfeneis. So macht man das doch, wenn man Kopfschmerzen hat.
Außerdem roch sie nicht nach Knoblauch.
“Hey Jana. Alles klar?”
Sie sah auf. Philosophie. Phil.
“Hallo Phil.”
“Du hörst nicht zu, stimmts? Über was denkst du nach?”
“Über nichts. Kopfschmerzen.”
Der Professor sprach über die Ästhetik des Seins.
“Jeder Mensch hat zwei unterschiedliche Gesichtshälften, wusstest du das?”
Phil streckte sich.
Sie legte den Kopf schräg. “Tatsächlich?” Ironie.
“Über was soll ich sonst sprechen?”, fragte er resigniert.
“Über mich. Frauen mögen es, wenn man über sie spricht. Also, gut spricht.”
“Du siehst heute natürlich aus. Also … nicht … nicht künstlich.”
Sie sah ihn an. Und er sie. Und er schämte sich.
“Zwei unterschiedliche Gesichtshälften?”, fragte sie ihn, um das Gespräch in annehmbare Bahnen zu leiten. “Also asymmetrisch?”
Assimetrisch. Zahn-Lücke-Zahn. Ihr “Vater” hatte kaum Zähne.
“Ja. Nicht gleich, also, wenn ich ein Foto von deinen Gesichtshälften machen würde, dann …”
“Von meinen Gesichtshälften?”, unterbrach sie ihn, “Warum solltest du nur die Hälfte meines Gesichts fotografieren wollen?”
“Ich meine doch nur … also, zur Verdeutlichung, verstehst du nicht?”
“Ja. Verstehe.”
15.49 Uhr. Sie fuhr zurück. Es war nur unmerklich wärmer geworden.
Als sie vor ihrem Haus war, hoffte sie, dass er nicht länger vor der Tür stehen würde.
“Jana!”
Es pfiff aus der Lücke. Knoblaucharoma.
“Hören Sie, bitte, langsam machen Sie mir Angst!”
Er schüttelte den Kopf. Entsetzen zwischen Halbglatze und Doppelkinn.
“Nein, nein. Keine Angst. Hab keine Angst! Ich bin dein Vater. Dein Papa. Hörst du? Hörst du, was ich sage?”
Sie schüttelte den Kopf und zwang sich ein Lächeln zu dieser Farce.
“Mein Vater ist tot! Und wenn nicht, dann wäre er zumindest kein Pizzaverkäufer. Und kein Knoblauchverkäufer. Und vor allem, verdammt noch mal, wäre er kein zahnloser, fettiger Darth Vader-Verschnitt!”
Das hätte sie sagen sollen, dachte sie. Und dann sagte sie - nichts.
Sie schloss die Tür hinter sich und ließ den Mann stehen. Wie lange er wohl noch durchhalten würde? Wie lange würde er das Spielchen mitspielen, bevor er wütend die Tür aufbrechen würde? Und sie vergewaltigen. Entführen. Ermorden. Pizza servieren. Und sich nicht sicher sein, über die Reihenfolge.
Sie aß ein paar Fischli-Cracker und wunderte sich über deren Geschmack. Dann legte sie sie weg. Jakob mochte keinen Fisch. Sie mochte Fisch. Sie mochte so vieles, was er nicht leiden konnte. Und andersherum genauso. Er mochte Kälte. Sie mochte Wärme. Er mochte Verreisen. Sie mochte Köln. Er mochte Bangladesch. Sie mochte … hasste … Bangladesch.
Er mochte sie. Sie mochte sich nicht.
Während sie von Bangladesch auf die Ästhetik des Seins kam und sich ernsthaft fragte, was die Ästhetik mehr war, als ein assimetrisches Kohlenstoffgebilde mit überflüssigen kleinen Zehen, klopfte es an der Tür.
Sie stand nicht auf. Das war nur er. Und sie rechnete damit, dass es für lange Zeit nur er sein würde.
“Sie sind nicht mein Vater! Hören Sie auf! Gehen Sie! Gehen Sie weg!”
Sie tat das alles ohne groß energisch zu wirken. Er war kein Stalker. Kein Irrer. Eher einer von diesen Leuten, die Obdachlosenzeitungen an Einkaufswägen verkaufen. Man muss an ihnen vorbei. Und man guckt sie nicht an. Und hofft, dass man den Euro passend hat. Denn der Wechselkurs bei Obdachlosenzeitungsverkäufern ist nicht gut.
Jeder Mensch hat zwei Gesichtshälften. Kein Wunder. Jeder Mensch hat auch zwei Elternteile. Zwei Gesichter werden zu einem. Darum auch das mit den Brüsten, dachte sie und wog in Gedanken beide mit den Händen ab. Ob mein Vater Brüste hatte? Hat? Der da draußen hat Brüste. Dick und fettig. Und voller Lücken. Wie ein Leib Schweizer Käse.
Schweizer Brüste. Ihr fielen Bergsteigerwitze ein. Nie fielen ihr Bengalenwitze ein. Es gab nichts zu lachen.
Dann schlief sie auf der Couch ein.
Am Morgen fand sie eine Postkarte vor der Tür liegen. Sie war adressiert an Jana. Sie war Jana. Ihre Postkarte.
“Hallo Jana,
in Bangladesch ist es schön. Hier gibt es viele Menschen. Zu viele. Man kann sie gar nicht alle unterscheiden. Um ehrlich zu sein, sie sehen alle gleich aus.”
Aus zwei wird eins. Und aus einer Millionen wird eins. Sie lächelte. Tränen füllten ihre Augen.
“Ich wollte dir nur schreiben, dass es uns gut geht. Du brauchst dir keine Sorgen mehr machen. Es riecht hier zwar überall streng nach Curry und der Smog kratzt einem im Hals, aber sonst ist es sehr annehmbar.
Liebe Grüße,
dein Papa. Und Jakob. Und dein BH.”
Sie sah sich lange an, wie die Drei unterschrieben hatten. Und sie sah sich das Bild vorne auf der Karte an. Und sie erkannte es nicht. Sie wusste nichts über Bangladesch. Nur, dass es wohl sehr weit weg war. Viel zu weit, als dass sie mal eben vorbei schauen hätte können.
Sie nahm ihr Handy und suchte Phils Nummer. Dann atmete sie tief durch. Sie hörten es. Wahrscheinlich.
“Hallo?”
“Hallo Phillip? Die Kopfschmerzen sind weg. Und ich habe Hunger. Also, hast du vielleicht Lust was essen zu gehen?”
Aus eins wird zwei wird eins.