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Vom Streitacker bis nach Leidenhausen

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23.08.2013
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Vom Streitacker bis nach Leidenhausen

Da die Sitzbezüge hier so frisch sind wie blaue Blümchen, denke ich für einen Moment, es hätte sich sonstwas verändert. Aber nichts ist passiert. Der 152er schleicht auf der gleichen Strecke wie schon Jahrzehnte zuvor, vom Streitacker bis nach Leidenhausen und drin hocken die selben dunklen Gesichter – feindselig auf den ersten Blick, auf den zweiten nur matt.
Sie haben den Notfallhammer abgerissen, sie haben Rechtschreibfehler gemacht im bunten Gekritzel auf den Rückenlehnen, sie bellen einander an; es ist nicht mehr mein Zuhause und ich schaue aus dem Fenster.
Über die Siedlung legt sich bleiern der Himmel, von blauen Flecken durchzogen rückt er an die Hochhäuser und nimmt sich ihre Dächer zur Brust. Ernst pustet er seine Launen gegen die Wäscheleinen, dass die Tücher zappeln und flattern wie angekettete Geister.
Als es anfängt zu dämmern, steige ich aus und gehe zu Fuß. Laufe vorbei an zugemauerten Durchgängen, vorbei an Mädchen mit Kinderwägen, vorbei an schartigen Gestalten, die mich mit Augen anschauen gemein wie Spinnenbeinchen.
Der Asphalt ist Mist und Müll, die Schatten der Stockwerke nehmen mir die Lust, aber dann leuchten und flimmern die Platten aus allen Höhlen, also wird es gemütlich.
Und da ist auch das Haus meiner Eltern. Der alte Rosinsky in seinem Rollstuhl glotzt aus dem Fenster, ich sage ihm Hallo, fünf Jahre ist das her, doch er starrt nur wie blöde.
Ich habe immer noch den Schlüssel, aber ich klingele lieber. Mutti scharrt an der Tür, ich höre eine Kette rasseln. Dass sie jetzt abschließen würden, hätte ich nicht gedacht, ist es denn so finster auf den Straßen geworden?
Bange muss Mutti zumute sein, der Sohnemann lässt sich wieder blicken, aus dem großen Draußen ist er zu Besuch, hat nur kurz telefoniert, dann und dann ist´s soweit und macht daraus keine irre Sache.
Aber sag das einer Mutti mal, keine irre Sache und der Vati ist bestimmt auch schon fahrig gerieben, von dem Geduldhaben in den Nächten auf Wache, dass ja niemand die Tomaten klaut und von den lahmen Tagen zwischen Sofa und Lidl.
Wir umarmen uns, da habe ich kein Problem mit, nur Mutti ist zaghaft aufgelegt, duftet arg nach Zwiebeln und Sehnsucht und kriegt nicht ein Wörtchen gestottert.
Mensch, ist sie alt geworden in den paar Jährchen, ihre Züge schmelzen die Wangen hinunter, die Falten voller Kerben, wie ich sie lieber nicht sehen möchte. Anders schaut Mutti heute und der Rest ist anders, der Flur zum Beispiel scheint mir heute viel enger zu sein, wenn er auch ordentlich ist und nicht ohne Würde. Ein Bildchen haben sie aufgehängt, was Hübsches aus dem Baumarkt, ist ja immerhin ein van Gogh und die Blümchen darauf sind reizend.
„Hallo Mutti, ist doch schön irgendwie“, sage ich laut, denn ich hab´s nicht mit Zittern und da weint sie schon einsam, wie ich ihre Augen kenne.
Vati ist nun auch im Flur, hat seine Weile im Wohnzimmer abgewartet – Trubel ist schließlich Weibersache – und will jetzt seinem Burschen Hallo sagen. Ob er mir die Hand drücken will, bin ich gespannt, stramm wird er kommen oder flockig – da liegen schon seine Arme auf meinen Schultern.
Müder Mann, mein Gott, Scheiße. Der Bart kann sich aber noch sehen lassen, mit einem Schuss Schwarz und auch von der Form – ein properer Spaten. Haare hat Vati noch auf dem Kopf, dicht wie ein Besen, da muss ich mir für die Zukunft ja keine Sorgen machen.
„Junge, du bist es. Wie konnte das nur passieren“, flüstert er heiser, aber ich mag keine Vorwürfe, da muss Vati gleich stocken.
„Mama hat seit gestern gekocht“, will er das ausbügeln.
„Papa hat sich den Tag frei genommen“, fällt ihm Mutti ins Wort.
„War doch alles nicht nötig“, murmele ich und es war auch nicht nötig; lästig irgendwie dieses Aufhebens, dann überlegen sie ewig und ich bin in der Pflicht.
„Ich habe einen großen Salat vorbereitet und noch ein Salätchen mit Eiern und Käse und Mayo vom Feinsten“, Mutti zieht mich in die Küche hinein, hastig ist sie, will gar nicht warten und ich behalte die Schuhe lieber an, so ist es mir wohler.
„Und dann noch einen Auflauf mit Auberginen von den guten und Bortsch, genau wie Oma ihn kochte“, sprudelt sie besorgt, zählt ihre Liebe auf, hat plötzlich Angst vor dem Schweigen, will, dass ich mit den Lippen schmatze.
„Papa sagte ja“, plappert sie weiter, „Fleisch – mach dem Jungen doch mal Golubzy, aber deftig, mit Hack, Kohl und ordentlich saure Sahne, aber ich sage nur, das isst Serjözhenka doch nicht, er mag es lieber gesund und moralisch.“
Vati schaut verlegen, sei ja wohl eine feine Sache mit den Golubtzy, knackt er noch stur mit den Fingern, sonst bliebe doch einer ganz hungrig. Was Oma und Opa schon gut tat, das könne ja nicht schlecht sein.
Ich sehe ihn an, nur was soll ich da sagen, mit Vorvergangenheit fährt Vati jetzt auf, aber die kann er behalten. Die Augenbraue habe ich kurz nicht im Griff, bloß ist alles ja gut gemeint.
Aber die „Grutons fürs Salätchen“, erzählt Vati mir stolz, die hätte Mutti selbst zubereitet. So gekaufte seien wohl reiner Mist. Ach, die Croutons, süß ist das schon, denke ich mir, hab mir auch mal welche gemacht. Eine nette Sache haben wir hier und es schmeckt wirklich feiner.
„Und erzähl doch mal Junge“, lehnt Vati über den Tisch mit seinen zotteligen Pranken, wie ist was gewesen und überhaupt.
Ja, wie ist was gewesen, wo soll ich da anfangen. Immer müssen sie fragen und wissen, mich anschauen mit großen Augen, vielleicht können sie nicht sehen.
Aus dem Topf in den Teller dampfen Muttis warme Mühen, milde wird mir im Bauch, also will ich nicht ätzen.
Mutti lächelt jetzt ängstlich, dass die Mundwinkel zucken, wartet geduldig, wie es dem Söhnchen denn geht. Sie legt mir die Hand auf den Ellbogen, streichelt ein bisschen, doch, wir haben uns lieb.
Nun, wie geht es dem Söhnchen, sie wollen es erfahren, blicken mich an, als brächte ich ihnen das Feuer.
Und ich erzähle gemächlich, wie es bei mir brodelt und sprüht.
Anders sei die Welt heute geworden, überall sei ihr Serjözhenka zuhause, ein Kosmopolit sozusagen, ein Lebemann, wie es sich gehört. Erzählen könne er ihnen, dass die Tomaten im Süden nach glühender Erde schmecken und im Osten nach körnigem Schnee.
Seine eigene Sprache hat er ein wenig vergessen, aber Französisch und Spanisch, das sei ja wohl klar.
In der Hauptstadt habe er studiert, kluge Sachen, versteht sich, am eifrigsten war er im Unterricht über sich selbst. Auch mit den hübschen Mädchen sei es dort bunt gewesen, verrückt und so wunderlich, dass es nun nicht mehr fetzt.
Tja, so ist das gewesen, lecker schmeckt es mir Mutti, gut hast du´s gemacht und wie läuft es bei euch?
Und hier schauen die beiden in alle Winkel und Fenster, wollen kein Salz auf Zucker streuen, denn leiser ist weiser.
Über alles können sie miteinander schweigen, aber ich will jetzt auch was hören, nicht zu viel, bitte schön, aber so grob, hätt` ich Lust.
„Ja, wie soll´s schon gewesen sein“, hüstelt mein Vater verlegen, die Nachtschichten zögen sich lang, aber der Fernseher sei neu. Und beim Friseur sei die Mutti gestern gewesen, hätte jetzt einen Schnitt wie Paris und die Tönung glänze märzjung.
Die Tante sei letzten Frühling gestorben, aber Aeroflot koste teuer, und mit den Zeiten ginge es schlecht. Grüßen hätte sie mich lassen, und küssen, bitte feste, da ist Mutti bei mir und bringt mir den Schmatz.
Flau wird mir im Magen von dem lahmen Leben, von dem Bortsch, von der Tante und auch von Paris.
„Aber wir wollen jetzt nicht von dem Schlechten“, scharf sieht die Mutti, das Söhnchen hat keine Lust.
Also brausen sie von damals, von einstmals, von vordem, als ich noch ein Kind war, ohne Welt und ohne Mädchen und wo sie Taten taten und nicht Bortsch mit Croutons. Ich höre nicht auf die Worte, ich kenne diese Geschichten, der Klang ist aber toll, da rührt sich auch was. Viele Jahre dösten die Töne unter dem Laub begraben, jetzt fiepen sie wieder ganz mutig.
Vati macht den Hausmeister und Mutti den Besen. Eifrig putzen sie vor dem Söhnchen das letzte Familiensilber. Das was wir getanzt haben, kann uns niemand nehmen, sagen sie sich und sehen mich an.
Von Zuhause erzählen sie, von Parks und Paraden, von Defizit und von Glasnost, da haben sie gelebt. Und heute, na wenn schon, heute lebe ja der Sergey, ein Mann sei er geworden und für Verantwortung reif.
Da wird das Tuch rot, was planen bloß die Alten? Verantwortung? Ich? Na für mich allerhand. Ansonsten, ich weiß nicht, das muss man mal sehen, im Moment ist es schwierig, ist nicht die schicklichste Zeit.
Ruhig wird es im Raum, ich beiße mir auf die Lippen, da sind sie, die Ketten, ich hab´s ja gewusst. Während Vati gerade schaut, zupft Mutti fiebrig die Schürze, die Situation ist heikel, jetzt muss sie was tun.
Und sie tut das, was Muttis tun, wenn sie etwas tun müssen, sie sagt mir: „Mein Junge, jetzt nimm doch Salat.“
Sie will ihn mir reichen, doch irgendwas klappt nicht, sie greift nicht gescheit und auf dem Boden ist Matsch.
Da sind die Croutons, vor mir liegt das ganze „Salätchen“, die Tomaten, die Gurken und sonst tolles Zeug. Mutti ist traurig und Vati ist traurig, Mutti greift schnell zum Kehrblech, so was passiert doch schon mal.
Wir essen weiter zu Abend, ohne viel zu reden, während die Küche uns warm und gewöhnlich wiegt. Vati atmet ruhig, Mutti atmet wenig, der Auflauf hat seine Stärken und ich hab meine Schwächen.
Nach dem Süßen und Kakis räuspert sich Vati und brummt leicht verlegen: „Wir haben einen Film von Onkel Pavel bekommen, hast du nicht Lust?“
Mutti schielt neugierig, sie hätte nichts dagegen und ich muss ehrlich sprechen, ich wäre auch dabei.
Der Film ist ganz witzig, über unglückliche Glücksritter und arme Millionäre, über Schicksal, über Liebe und was es sonst noch so gibt. Mutti sitzt neben mir und freut sich, dafür hat Vati die Fernbedienung und streckt sich. Ich ziehe die Schuhe aus und rülpse einen Ton.
Zwei Stunden sind vergangen, die Guten haben am Ende gewonnen, die Musik plätschert zuversichtlich und draußen ist schon Nacht.
Liebe Mutti, lieber Vati, ich flieg dann mal weiter, es saß sich lauschig bei euch und der Bortsch war trés delikat.
Wir drücken uns leise, Mutti gibt mir ein Küsschen. Sie stupst mich feucht unters Auge, wie ihre zwanzigjährige Katze, atmet noch einmal von mir und ich atme zurück.
Vati drückt mir die Schulter und schaut unverzagt: „Das mit der Verantwortung hat ja noch Zeit.“
Und unvermittelt, aus dem Inneren, rückt ihm heraus: „Wir haben mehr Filme von Pavel, komm doch gerne vorbei.“
Ich überfliege die Treppe und durchmesse die Straße, während sich der gleichgültige Wind gegen die Mülltonnen lehnt. Über mir frösteln einsam die Sterne, sie haben heute frei und rein gar nichts zu tun.
Den Hügel hinunter gleitet der 152er von Leidenhausen zum Streitacker. Es ist der letzte heute Nacht und der Nothammer ist futsch. Ich schmeiße mich nach hinten auf die buntgekritzelten Sitze, die Siedlung verdunkelt sich langsam und ich atme wieder allein.

 

Ich liebe diese Internetseite.

Was du da geschrieben hast, Quinn, finde ich bemerkenswert.
Ich gehöre zu den begeisterten Lesern dieser Geschichte und nach deiner Kritik, nein eigentlich ist es eher ein Hinweis auf eine andere Sichtweise, bin ich keineswegs anderer Meinung.

Es gibt so unendlich viele grottenschlechte Texte auf der Welt, dass sich jemand, der sich die Mühe macht, ein wenig sorgfältiger zu formulieren und erfrischendere Begriffe zu finden, so weit von dieser
dumpfen Masse entfernt, dass ich diesem Autoren lieber folge, als den Wortbreiproduzenten.
Ok, das kommt jetzt ein wenig theatralisch daher.

Du hast jedoch mit deinem Feedback ein neues Fenster aufgestoßen und das ist genau das, was ich an uns Wortkriegern so mag. Diese verschiedenen Sichtweisen und Eindrücke, die eine Geschichte bei jedem hinterlässt, faszinieren mich immer wieder. Ich kann einen neuen Blick auf diese Geschichte werfen und finde, deinen Hinweis, hier spricht der Autor und nicht die Figur, feinsinnig.

Der Idealfall ist gegeben, wenn die Figuren und ihre Sprache eine solide Einheit bilden.
Ich gestehe, dass ich darauf noch nie so richtigintensiv mein Augenmerk gelegt habe. Ein weiterer Punkt, den ich in Zukunft dank deines Hinweises beachten werde.

 
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Jo, ich find das auch wichtig, dass es zu diesem Text unterschiedliche Meinungen gibt und dass die auch gut begründet werden. Das war mir auch klar, dass da noch Gegenmeinungen zu kommen werden, weil die Sprache hier so über-stilisiert und künstlich ist - das ist echt nicht jedermanns Sache, was ich auch total nachvollziehen kann.

Aber ich find eben grad nicht, dass das hier völlig sinnfreie Stilkapriolen sind, mit denen der Autor mal zeigt, was er so kann, und die weder zu Inhalt noch zu Erzählerfigur passen. Für mich ist das eine Sprache des nostalgischen Blicks, die verklärt und verniedlicht und damit alles schön auf Distanz hält. Und der Erzähler wird durch diese Sprache, diesen Blick auf seine Vergangenheit charakterisiert - das ist für mich hier auch das primäre Mittel der Charakterisierung, denn sonst erfährt man ja kaum was über den. Der hat sein Väter- und Mütterchen ja quasi in sprachliches Kunstharz eingegossen, diese putzigen kleinen Geschöpfe, und kommt an die Menschen darin nicht mehr wirklich dran. Und an sich selbst in dem Moment ja auch nicht - ich les die Künstlichkeit als Ver- und Entfremdungssymptom, die das Surreale solcher Erfahrungen gut packt. Ich find das auch gut, dass das Bittere da wie so fiese Dornen aus dieser poetischen Blumenwiese rausragt. Also für mich passt die Sprache hier 1a zum Stoff.

 

Hey Quinn,
danke für deinen Kommentar. Ich finds auch gut, dass diese Diskussion geführt wird, ich bin nur überrascht sie unter meinem Text zu finden.

Also ich mag in der Tat solche Highlight-Reel-Texte nicht. Und ich finde eine Sprache, die vom Autor und nicht vom Erzähler ausgeht, hat für mich einen künstlichen Beigeschmack. Das ist um Gottes Willen keine Lehrmeinung, und ich geb zu, dass es ziemlich weit draußen ist, so zu empfinden. Aber das ist auch so ein bisschen ein Steckenpferd von mir, dass ich finde ein Autor sollte sich fragen: Was ist der Stoff, wer könnte den erzählen, wie würde der klingen? Und ich hab das Gefühl, es gibt so diesen Trend: Da ist der Autor, der erzählt den Stoff jetzt so. In "seinem Stil". Und da kann er erzählen, wie sich morgens einer die Zähne putzt, und es ist noch spektakulär.
Ich sehe das ganz anders. Meiner Meinung nach sollte ein Autor immer in den Erzähler einsteigen können, sich mit ihm irgendwo identifizieren. Das schränkt auch die Stoffauswahl erheblich ein. Ich versuche immer aus dem Gefühl heraus zu schreiben, deswegen funktioniert für mich auch der Ich-Erzähler am besten (ich weiß, da bin ich nicht allein). Deswegen ist für mich die Sprache des Erzählers von der Sprache des Autors nicht ohne Weiteres trennbar. Klar, das ist schon eine bestimmte Persona, die man da sprechen lässt, aber in ihr sollte auch ein Stück von dem Autor drin sein, ansonsten hat das Ding keine Seele. Meine Meinung. Ich habe auch herausgefunden, dass es für mich nicht anders funktioniert. Habe auf der Festplatte bestimmt 4-5 Textskelette, wo ich das Thema immer noch gut finde, aber einfach kein Gefühl, keine Stimme für den Erzähler habe. Also lasse ichs.
So vor einem Jahr etwa, ungefähr als ich mit dem Schreiben anfing, habe ich eine Doku über Eminem gesehen, wie der groß geworden ist. Bevor er mit Dre durchstartete, war der in Detroit jetzt kein Unbekannter, dümpelte so im Durchschnitt rum. Als er aber Slim Shady erschaffen hatte, eine Kunstfigur zwar, mit der er aus sich heraus sprechen konnte, da ging es auch los. Da dachte ich mir sofort, das ist der richtige Weg. Ich experimentiere zwar auch viel rum, aber komme immer mehr zu der Überzeugung, dass das für mich die Art ist, wie ich an meine Geschichten herangehen möchte, dass da eben viel auch vom Autor kommt. Finde ich auch ehrlicher so. Ich hab das auch schon anders gemacht, bei Fräulein Wunsch zum Beispiel, aber hier wollte ich nicht vom Stoff an die Geschichte herangehen, sondern von der Figur.
So hatte ich das Gefühl bei dem Text. So ein Budenzauber, so grundlos auch, wo ist das im Text verankert? Warum ist der so? Wo folgt hier die Form dem Inhalt? Was sagt die Sprache über diesen Erzähler? Was ist das für eine Art zu formulieren? Erhöht er sich dadurch? Erhöht er seine Umgebung, seine Geschichte?
Außerdem finde ich hier eben auch, dass die Sprache die Geschichte trägt. Ich ärgere mich fast schon, dass fiz da was dazu geschrieben hat, sie bringt es nämlich auf den Punkt, wie ich das auch sehe. Das ist eine entrückte Situation, eine verfremdete Wahrnehmung, ein unwirkliches Ding, wo der Erzähler nicht hineinfindet und dem er mit Spielereien und Sarkasmus begegnet, gleichzeitig aber nicht die Augen vor der traurigen Realität seiner Eltern verschließen kann, zu denen er ja eine zweischneidige Zuneigung, eine Zuneigung von oben herab, empfindet. Und diese ganzen widersprüchlichen Gefühle sollen durch die gewählte Sprache, durch die Verniedlichungen, durch die Verklärung zur Geltung kommen. Das ist so ein bisschen wie gute Miene zum bösen Spiel machen. Der Erzähler ermöglicht es sich selbst auf diese Weise der Schwere, dem Schmerz, den er über die Kluft, die er zwischen sich und seinen Eltern empfindet, zu begegnen. Er legt sich mit den Manieriertheiten und Verzierungen einen Umhang um, ist auch dadurch stellenweise betont grausam und zynisch, um mit sich selbst noch irgendwie klarzukommen. Das trägt die Sprache schon, finde ich, so entsteht auch der Kontrast zu den wirklich schmerzlichen Momenten.
Bei mir fängt der Text hier wirklich vor meinen Augen an, sich in die einzelnen Stilmittel zu zerlegen, die Manierismen sind ganz klar, da die Inversion, da die Synäthestie, z.B. "märzjung", so Wörter müssen in dem Stil vorkommen, da gibt es irgendwie ein Gesetz dafür.
Keine Ahnung, Quinn, Inversion, Synäthestie, das musste ich erstmal googeln. Ich finde auch den Vorwurf komisch, dass ein Autor bei seinen Formulierungen Stilmittel verwendet. Klar, das sind doch das Werkzeug, was einem die Sprache bietet. Ist hier auch ausschließlich intuitiv eingesetzt, sie haben für mich den Klang ergeben, den ich für die Geschichte haben wollte.
Ich hab zwischendurch angefangen den Text zu deklamieren in so einer Singer/SongWriter-Märchenonkel-Stimme, das ging immer 3 Zeilen gut und dann nicht mehr - da merkt man übrigens auch das Starre des Textes, diese 6-Sekunden-Sätze mit einem 18-Sekunden-Satz als 4. dann. Ich weiß nicht, wann ich das probiert hab, im 2. Drittel oder so - und das ist mir krass aufgefallen.
Ja komisch, ich habs beim Schreiben auch immer wieder deklamiert und als es fertig war auch, bei mir hat das wunderbar funktioniert. 18-Sekundensätze? hmm.. Na ja, bei mir hat sich das in den Klang gefügt.
Erhöht er seine Umgebung, seine Geschichte? Oder ist das ein Autor, der nicht viel hat und viel draus machen will.
Es gibt bei youtube einen bösen Clip: Michael Bay makes himself breakfast oder getting the mail. Wo einfach auf ein Format "Da holt sich einer die Post rein", das riesige Pathos eines typischen Michael Bay-Films gepackt wird, wo die Form die Form ist - und der Inhalt fügt sich dann schon.
Das ist auch so ein Heimspiel für einen Autor, so einen Text vor dem Publikum hier zu spielen, wenn es um Aufbruch und Rückkehr geht, sich aus bescheidenen Anfängen zu erheben, und intellektuell zu werden, wieder zurück zu kommen und sich zu groß für das Kleine zu fühlen, zu anders für die Eltern, zu lebendig für den Stillstand. Es gab mal vor Jahren hier einen Text von Bolderson über die Banalität des Lebens in Routine, wurde begeistert aufgenommen, weil das ein tiefer Trieb in jedem Schreibenden ist, aus der Routine auszubrechen und sich "mit Höherem" zu beschäftigen. So wie es auch ein typischer Trieb des Schreibenden ist, aufzubrechen und auf (Geistes-)Reisen zu gehen.
Ja, auch hier sehe ich das halt komplett anders. Das kann jetzt sehr gut sein, dass es nicht dein Thema ist, aber zu sagen, der Autor hat hier keinen Stoff und dann so Michael Bay Vergleiche, das kann ich nicht nachvollziehen. Ich finde, es ist eine grundlegende soziale Thematik, das Sich-Entfremden von seinen Eltern und alles was damit einhergeht. Hier noch verstärkt durch die Immigration. Das mag jetzt kein neuer Stoff sein, aber ich finde ihn wichtig und die Auseinandersetzung damit schwierig. Mich interessiert auch die Komplexität der Haltung, die man dazu einnimmt und das ganze emotionale Gemengelage. Für meine Verhältnisse ist es Stoff genug.
Zu sagen, es wäre ein Heimspiel, weil ich hier für Schreibende schreibe, finde ich auch komisch. Ich denke, diese Entfremdung ist in den meisten emanzipierten Lebensentwürfen ein Thema, bei den Immigranten ist es noch viel krasser, weil da wirklich Weltbilder kollidieren. Ich habe den Text auch zwei Freunden von mir zum Lesen gegeben, einem Geschwisterpaar, auch Immigranten und ganz sicher keine Leute, die mich mit Samthandschuhen anfassen. Beide haben mit Schreiben nichts zu tun, er ist Unternehmer, sie Architektin, und beide haben mir gesagt, dass ich deren Empfinden in dem Umgang mit ihren Eltern komplett eingefangen habe. Ich habe da jetzt andere Vorwürfe bezüglich des Textes gehört, dass der den Ist-Zustand konserviert, z.B. statt ihn mal aufzubrechen, hat auch T. Anin sowas in die Richtung angedeutet, aber zu sagen, der Text gibt nur das Lebensgefühl eines Schreibenden wider finde ich nicht berechtigt.
Ja, insgesamt danke ich dir für deinen Kommentar, ich fand es auch wirklich gut, über diese Dinge noch einmal nachzudenken, gerade auch was das Verhältnis Autor-Erzähler anbetrifft. Schade natürlich, dass es nicht deins war, vllt nächstes Mal.
Grüße,
randundband

 
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Hallo RandundBand,

ich habe selbst eine gute Verbindung in Richtung Osten, mir sind die Familienverhältnisse, die Du da beschreibst nicht fremd. Wenn ich es richtig verstanden habe, geht die Fahrt des Protagonisten irgendwo in Köln heim zu seinen Eltern, die russische Einwanderer sind.

Um es kurz zu machen (das klappt am Ende doch nicht), hat mir die Geschichte nicht so gefallen, wie Dein Weltempfänger. Das sind aber eben primär ganz persönliche und private Gründe, weshalb ich mich gefragt habe, ob es Dir überhaupt etwas nutzt, wenn ich kommentiere. Aber vielleicht kannst Du trotzdem was damit anfangen.

Punkt 1 – Literarische Sozialstudie, da lasse ich eigentlich die Finger von. Wie gesagt, ganz persönlich nicht mein Ding, weil: ist meist melancholisch im unguten Sinne, dreht sich um die winzige Achse der Selbstreflexion, bläst Alltagstrivialitäten metaphorisch auf. Von diesen Punkten ist auch Deine Story nicht ganz frei, und das macht es mir schwer so etwas zu lesen.

Ich fasse mal Deinen Einstieg zusammen:

Schleichen auf der gleichen Strecke wie schon Jahrzehnte zuvor, Streitacker, Leidenhausen, dunkle Gesichter, feindselig, matt, sie bellen einander an, bleierne Himmel, Hochhäuser, angekettete Geister, zugemauerte Durchgänge, Mädchen mit Kinderwägen, schartige Gestalten, gemein wie Spinnenbeinchen, Asphalt, Mist und Müll, Rollstuhl, starrt nur wie blöde …

Da kommt Freude auf. Versteh mich nicht falsch. Ich mach mich nicht lustig über depressiv machende Lebenssituationen oder Lebensumstände, aber finde den Kult darum falsch. Die Diskussion hatte ich schon mal mit Jimmy. Es macht mich elend, so etwas zu lesen oder anzusehen. Nicht, weil es hart oder düster wäre oder weil Tristesse darin vorkommt (das kann man in der richtigen Dosierung und Mixtur ertragen), sondern weil es so eng, so klein, so melancholisch verzagt, so mutlos und ohne Perspektive ist. Ich habe immer das Bedürfnis, das Fenster zu öffnen, um Luft rein zu lassen, wenn ich so etwas lese.

Punkt 2 – Wo ist die Geschichte? Bei Filmen oder Texten dieser Art denke ich immer, der Autor drückt sich vor der Mühe, einen Plot zu entwickeln. Es stimmt zwar, dass man die Segmente Hinfahrt, Treffen mit Eltern, Abschied/ Rückfahrt formal als Geschichte betrachten kann, aber was passiert während der gesamten Zeit außer einer melancholischen Begegnung mit der persönlichen Vergangenheit bzw. Herkunft repräsentiert durch die eigenen Eltern?

Punkt 3 – Eine unnatürliche Sprache, das klingt jetzt hart und muss erklärt werden. Vorneweg, ich finde es toll, wie gut Du mit Sprache umgehen kannst. Das, was Du schreibst, klingt bewusst so geschrieben. Aber in meinen Ohren hat es auch einen erzwungenen Charakter, denn "Bange muss Mutti zumute sein …" – das ist ja nicht einfach nur Schriftsprache im gehobenen Tonfall, sondern schon etwas anderes, da steckt eine besondere Art von Design drin, fast etwas Lyrisches. Hin und wieder mache ich das auch bei meinen Texten, aber im Fall Deiner Geschichte ist das beinahe der Standard. Als würde einem Mousse au Chocolat statt zum Desert bereits als Hauptgang gereicht. Schwer verdaulich, finde ich.

Fazit: Für meinen persönlichen Geschmack ist diese Geschichte trist, engbrüstig, sauerstoffarm. Ich sehe keine Entwicklung, nur das Schmoren in abgestandenem Saft. Die Sprache ist mir zu künstlich. Trotzdem fand ich es interessant zu lesen, weil Du Deine Techniken ja bewusst einsetzt und damit auch Wirkung (z.B. Beklemmung zu erzeugen) erzielst. Und wenn Du genau diese Wirkungen beabsichtigst, dann macht es aus Deiner Perspektive Sinn.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,

Um es kurz zu machen (das klappt am Ende doch nicht), hat mir die Geschichte nicht so gefallen, wie Dein Weltempfänger.
Das ist natürlich schade. Der Weltempfänger ist da ja aus der gleichen Ecke wie diese Geschichte, ich sehe das zumindest so. Hab noch eine hier auf der Seite, "Weg, dort, nach Hause und wieder zurück", die drehen sich alle irgendwo um das Thema Auswanderung, auf meiner Festplatte habe ich noch einiges in die Richtung, jedenfalls versuche ich von allen Seiten dran zu arbeiten und hoffe es irgendwann zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen.
Das sind aber eben primär ganz persönliche und private Gründe, weshalb ich mich gefragt habe, ob es Dir überhaupt etwas nutzt, wenn ich kommentiere. Aber vielleicht kannst Du trotzdem was damit anfangen.
Ja, ich fürchte, das gerät jetzt so ein bisschen zu einer Auseinandersetzung um die "richtige" Lebensphilosophie, die sich dann auch darin widerspiegelt, was man schreibt. Ich finds aber wichtig, dass es auch solche Kommentare gibt, die lassen einen ja auch immer sich selbst, zumindest auch als Autor hinterfragen. Jedenfalls habe ich mir nach deinen Anmerkungen nochmal einige Gedanken gemacht, bin vllt etwas abgeschweift und wenn sich dann im Folgenden Dinge wiederfinden, die etwas abseits von den von dir angesprochenen Punkten liegen, so sind sie jedenfalls alle durch deinen Kommentar angestoßen worden.
Literarische Sozialstudie, da lasse ich eigentlich die Finger von. Wie gesagt, ganz persönlich nicht mein Ding, weil: ist meist melancholisch im unguten Sinne, dreht sich um die winzige Achse der Selbstreflexion, bläst Alltagstrivialitäten metaphorisch auf. Von diesen Punkten ist auch Deine Story nicht ganz frei, und das macht es mir schwer so etwas zu lesen.
Ja, Achillus, ich fürchte, hier kommen wir nicht überein. Ich finde literarische Sozialstudien so mit das Interessanteste zu lesen. Das ist die Art von Literatur, die mir am meisten gibt, die mein Verhältnis zu der Welt mit am stärksten prägt, die für mich Zusammenhänge aufdeckt, nach denen meine Umgebung funktioniert usw. Es wäre auch mein Traum, in diesem Bereich etwas längeres und kluges zu schreiben, nur fehlt mir im Moment wohl noch der tiefergehende Blick sowie die Lebens- und Schreiberfahrung.
Auch was gute und ungute Melancholie sein soll, liegen wir wohl sehr fern voneinander, gleich wie bei dem Verständnis von dem Achsenradius der Selbstreflexion, genauso wie bei der Bedeutung des Alltags.
Man ist natürlich bei der Selbstreflexion schnell dem Vorwurf ausgesetzt, bloße Nabelschau zu betreiben, aber ich habe doch sehr die Hoffnung, dass meine Texte im Allgemeinen, wie auch diese Geschichte im Besonderen über diesen Zweifel erhaben sind. Wenn du, wie du es zutreffend formulierst
einer melancholischen Begegnung mit der persönlichen Vergangenheit bzw. Herkunft repräsentiert durch die eigenen Eltern
als auf der
winzige Achse der Selbstreflexion
befindlich bezeichnest, dann kann ich dem einfach nicht zustimmen. Das ist doch das Kernbedürfnis des Menschen auf der Suche nach seiner Identität. Ich habe da vor ein paar Tagen bei Marc Augé ein Zitat von einem französischen Historiker Pierre Nora gelesen, der bringt das eigentlich ganz genau auf den Punkt, was ich meine:
"Was wir in der Anhäufung (...) all der sichtbaren Zeichen dessen, was einmal war, suchen, ist unser Anderssein und im Schauspiel dieses Anderssein das plötzliche Aufscheinen einer unauffindbaren Identität. Nicht mehr eine Genese, sondern die Dechiffrierung dessen, was wir sind, im Lichte dessen, was wir nicht mehr sind."
Augé kommentiert es mit " Wir erleben auch, dass sie gewisse Themen bevorzugen, die als "anthropologisch" bezeichnet werden (die Familie, das Privatleben, die Orte des Erinnerns). Forschungen dieser Art treffen den Geschmack des Publikuns und kommen seinem Bedürfnis nach alten Formen entgegen, als verrieten diese alten Formen uns Heutigen, was wir sind, indem sie zeigen, was wir nicht mehr sind."
Ja, das ist auch für mich eben ein riesiges Thema, vllt kann man das nicht so leicht nachvollziehen, wenn man diesen harten Bruch nicht mitgemacht hat, den eine Immigration nach sich zieht. Ich hab da früher auch viel weniger drüber nachgedacht, aber die letzten paar Jahre hat mich das irgendwie total eingeholt. Diesen Zustand zu erfassen war mir einfach wichtig und ich würde mir wünschen, irgendwann ein großes Bild davon zu machen und so ein Stück der Gesellschaft zu erfassen.
Und diese Dinge lassen sich eben vor allem in alltäglichen Momenten erfassen, der Alltag ist die stärkste Konstante und prägt das Bewusstsein, anders als die außergewöhnlichen Momente, zwar schleichend, dafür aber, durch sein Wesen der Wiederholung am intensivsten. Das finde ich nicht trivial.
Da kommt Freude auf. Versteh mich nicht falsch. Ich mach mich nicht lustig über depressiv machende Lebenssituationen oder Lebensumstände, aber finde den Kult darum falsch. Die Diskussion hatte ich schon mal mit Jimmy. Es macht mich elend, so etwas zu lesen oder anzusehen. Nicht, weil es hart oder düster wäre oder weil Tristesse darin vorkommt (das kann man in der richtigen Dosierung und Mixtur ertragen), sondern weil es so eng, so klein, so melancholisch verzagt, so mutlos und ohne Perspektive ist. Ich habe immer das Bedürfnis, das Fenster zu öffnen, um Luft rein zu lassen, wenn ich so etwas lese.
Ja, auch hier Achillus, befinden wir zwei uns an entgegengesetzten Polen der (Selbst-)reflexionsachse. Ich habe da auch einen Freund, der viel frische Luft braucht, der mit der konzentrierten Schwere nicht klarkommt. Ohne dich da jetzt konkret einzubeziehen, ich kenn dich ja gar nicht, aber ich denke mir immer, das sind so Leute, die es keine zehn Minuten in dem Altenheim ertragen, in das sie ihre Eltern gebracht haben.
Ich habe wirklich ein anderes Verhältnis dazu. Es gibt nun mal Situationen ohne Perspektive, das sind echte Situationen, echtes Leben, ganz nah am Kern des Menschen dran. Das interessiert mich viel mehr als pure Fiktion mit einem ausgeklügelten Abenteuerplot. Das mag nette Unterhaltung sein, aber berühren, bewegen tut mich das nicht. Ich vergesse so ein Zeugs auch sofort, von Literatur erwarte ich, dass sie mir was zum Denken gibt. Das sind natürlich ganz persönliche Grundeinstellungen, ja vielmehr wahrscheinlich sogar bestimmte Phasen, in denen solche Dinge einem besonders nahe gehen, aber erlaube mir auch hier ein Zitat aus Milan Kunderas "Unerträgliche Leichtigkeit des Seins."
" Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich?
Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, presst uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde, desto wirklicher und wahrer ist es.
Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, dass der Mensch leichter wird als Luft, dass er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, dass er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.
Was also soll man wählen (...)
Sicher ist nur eines: der Gegensatz von leicht und schwer ist der geheimnisvollste und vieldeutigste aller Gegensätze."
So, keine Zitate mehr. Ich labere eh schon zu viel.
Wo ist die Geschichte? Bei Filmen oder Texten dieser Art denke ich immer, der Autor drückt sich vor der Mühe, einen Plot zu entwickeln.
Na ja, hier stimme ich dir eingeschränkt zu. Mir war es wichtig, den Ist-Zustand einzufangen und zu zeigen, dass es daraus keinen Ausbruch gibt. So wie das eben manchmal ist. Der Protogonist ist von dieser Ausweglosigkeit geflüchtet, kann sich aber im Inneren nicht davon befreien. Ich hätte hier schon gerne eine Entwicklung eingebracht, aber jede Wendung war mir einfach falsch vorgekommen, als würde ich aus dramaturgischem Zwang etwas auflösen, was sich nicht auflösen lässt.
Eine unnatürliche Sprache, das klingt jetzt hart und muss erklärt werden. Vorneweg, ich finde es toll, wie gut Du mit Sprache umgehen kannst. Das, was Du schreibst, klingt bewusst so geschrieben. Aber in meinen Ohren hat es auch einen erzwungenen Charakter, denn "Bange muss Mutti zumute sein …" – das ist ja nicht einfach nur Schriftsprache im gehobenen Tonfall, sondern schon etwas anderes, da steckt eine besondere Art von Design drin, fast etwas Lyrisches. Hin und wieder mache ich das auch bei meinen Texten, aber im Fall Deiner Geschichte ist das beinahe der Standard. Als würde einem Mousse au Chocolat statt zum Desert bereits als Hauptgang gereicht. Schwer verdaulich, finde ich.
Ja, der Text ist sehr stilisiert, die Sprache ist hier irgendwo auch Protogonist. Aber mit ihr verfolgte ich die Absicht, eine Stimmung zu erzeugen, die Erzählerfigur in ein bestimmtes Licht zu rücken. Ich habe da eigentlich meine Gedanken dazu in der Antwort an Quinn zusammengefasst, ich kopiere das einfach mal hier rein:
Das ist eine entrückte Situation, eine verfremdete Wahrnehmung, ein unwirkliches Ding, wo der Erzähler nicht hineinfindet und dem er mit Spielereien und Sarkasmus begegnet, gleichzeitig aber nicht die Augen vor der traurigen Realität seiner Eltern verschließen kann, zu denen er ja eine zweischneidige Zuneigung, eine Zuneigung von oben herab, empfindet. Und diese ganzen widersprüchlichen Gefühle sollen durch die gewählte Sprache, durch die Verniedlichungen, durch die Verklärung zur Geltung kommen. Das ist so ein bisschen wie gute Miene zum bösen Spiel machen. Der Erzähler ermöglicht es sich selbst auf diese Weise der Schwere, dem Schmerz, den er über die Kluft, die er zwischen sich und seinen Eltern empfindet, zu begegnen. Er legt sich mit den Manieriertheiten und Verzierungen einen Umhang um, ist auch dadurch stellenweise betont grausam und zynisch, um mit sich selbst noch irgendwie klarzukommen. Das trägt die Sprache schon, finde ich, so entsteht auch der Kontrast zu den wirklich schmerzlichen Momenten.
Ich würd nichts Längeres in einer solchen Sprache schreiben, aber ich fand sie für diesen kleinen Ausschnitt am geignetsten. Es ist auch gar nicht so, als würde ich das vorher konzipieren. Ich versuche mich meistens in die Gefühlslage einer Geschichte, die ich gerne erzählen würde, zu versetzen und wenn es mir gelingt, wenn ich mich damit irgendwo identifizieren kann, dann kommt ein bestimmter Ton von alleine, wie auch hier. Und dann arbeite ich ihn aus.
Gut Achillus, schade auf jeden Fall, dass dir das nicht so zugesagt hat, ich danke dir aber trotzdem für deinen Kommentar.
Grüße,
randundband

 

Hallo RandundBand,

vielen Dank für Deine ausführliche Antwort, über der ich sicher noch ein wenig sitzen und grübeln werde. Nur ein Punkt ganz kurz: Die Melancholie und Perspektivlosigkeit die ich in dieser Art Text kritisiere ist meiner Ansicht – und hier bin ich Konstruktivist – eben nicht die tiefere Wahrheit, die uns Menschen etwas zur Conditio humana enthüllt. Sie ist die Entscheidung eines Individuums, sich gehen zu lassen. Ich spreche jetzt nicht von Dir, nur um sicherzugehen.

Das Depressive dieser Art von Sozialstudien hat viel weniger mit wahrem Menschsein zu tun, als phantastische Geschichten der Marke Ilias oder Odyssee. Nur als Beispiel: Indianische Geschichten, die auch über die Vernichtung der indigenen Kultur durch die Weißen reflektieren, sind häufig viel weniger melancholisch. Melancholie, Depression, Beklemmung sind persönliche Entscheidungen und insofern auf einer individuellen Eben zwar authentisch, aber durchaus nicht alternativlos oder in einem höheren Sinne wahr.

Ich habe einige Leute auf Krebs- und Intensivstationen kennengelernt, die diese Sozialdramas als "Weicheiprosa" bezeichnen. Ich glaube deshalb nicht, das nun gerade Empfindsamkeit die Vorbedingung für das Arbeiten in Altenheimen darstellt.

Alles in allem ist mir aber wichtig, dass Du weißt, wie sehr ich Deine Arbeit auf einer handwerklichen Ebene schätzen kann. Schön, dass Du trotzallem was mit meiner Kritik anfangen konntest.

Beste Grüße
Achillus

 

Hey Achillus,
ich habe mir irgendwie schon gedacht, dass so etwas in der Art als Antwort kommt.
Ich persönlich schätze es sehr, wenn Menschen schwierige Lebenssituationen mit Leichtigkeit und Humor nehmen ohne die Tiefe des Problems zu verkennen oder dieses zu verunglimpfen. Eine Wahrheit gibt es sowieso nicht.
Übrigens, Depression ist keine persönliche Entscheidung, sondern eine Krankheit.
Bei Melancholie halte ich das für eine Veranlagung, sicher auch durch Erziehung evoziert, bzw. verstärkt. Auf jeden Fall auch durch die Lebensumstände in der westlichen Gesellschaft bestärkt. Indianer haben auf jeden Fall andere Probleme gehabt, vor allem aber ein anderes Selbstverständnis, als über ihr Sein zu sinnieren. Ist ja kein Geheimnis, dass hier das Individuum das Maß aller Dinge ist, da reflektiert man auch über sich selbst wie verrückt. Ob gut oder schlecht, keine Ahnung, unter den gegebenen Umständen auf jeden Fall menschlich.
Manche brechen dann an bestimmten Umständen, die anderen werden an den gleichen Umständen stärker. Wenn man den Kaputten begegnet bzw. wenn man sie in seinem Umfeld hat und versucht sie zu "retten", lebensbejahende Haltung, positives Denken und so Zeugs, dann kommt da nie was raus. Mittlerweile habe ich mit diesem Motivationscoaching echt ein Problem. Als ob man wirklich nachvollziehen könnte, was da los ist, also ob man an ein paar Schrauben drehen könnte und alles wäre in Ordnung. Das ist doch Quatsch. Dann leben die halt mit ihrem Drama. Das ist echt und mir persönlich fällt es schwer, ein solches fremdes Drama mit Leichtigkeit zu nehmen, es geht ja nicht um mich, sondern ich sehe dieses Drama eben in seiner Schwere existieren. Da will ich als Autor eben das Gefühl einfangen, was ich sehe oder wie ich mir das zumindest vorstelle. Das ist der Blickwinkel der Betroffenen, literarisch durch Sprache verfremdet, aber ein solcher, der real existiert.
Aber irgendwo hast du natürlich Recht, ich hadere da selbst viel mit der Frage, ob dieser Blickwinkel der "wahrere" ist, weil er allen Gefühlen auf den Grund geht, weil er ihre Untiefen auslotet und im Bezug auf das Leben aus dem Vollen schöpft, wo das Schlechte überwiegt, eben aus dem Schlechten. Oder ist das nur selbstmitleidige Scheiße. Ich habe keine Ahnung. Ich mag helle, leichte Menschen, die aber gleichzeitig einen Sinn für den Ernst haben um mich herum auf jeden Fall lieber. Diese Diskussion erinnert mich immer an den Zauberberg, wo Hans Castorp denkt, dass die Krankheit, das Leid, den Menschen veredeln würde. Und dieser Hans Castorp ist mir so unsymphatisch.
Wie du siehst, schwanke ich selbst. Wie man es als Autor macht, ist auf jeden Fall ganz schwierig. Diese Geschichte hier ist auf jeden Fall aus einer Stimmung heraus entstanden, die melancholisch und schwer war. Dasselbe mit Leichtigkeit zu sagen, wäre mir, glaube ich, nicht gelungen.
Ja Achillus, danke nochmal für deine Rückmeldung, stoßen bei mir viel an, deine Einwände.
Und ich freue mich sehr über das Lob fürs Handwerkliche, ist toll zu hören, jetzt muss ich noch plotmäßig mehr daraus machen.
Grüße,
randundband

 

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