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Vom Erzählen und Erleben
Gestern besuchte ich die Blinde. Sie bot mir die gleichen Kekse an, die ich nicht mochte, nie gemocht hatte, was sie wahrscheinlich wusste. Sie servierte sie dennoch, nicht aus Bosheit, sondern aus Gewohnheit, und nicht aus Höflichkeit, sondern aus Gewohnheit nahm ich einen, knabberte daran, bis er in Krümeln auf meinem Schoß verteilt war. Sie servierte mir denselben Tee, lauwarm, geschmacklos, weder gut noch schlecht, selbstgepflückte Kräuter aus dem Garten, sagte sie immer, es hätte auch Gras sein können.
Wir schwiegen lange, wie immer, ich beobachtete sie, wie sie in sich hineinhorchte, als würde sie sich selbst beobachten, unschlüssig darüber, was sie sieht. Warum ich sie überhaupt besuchte, hatte sie einmal gefragt, zu einem Zeitpunkt, als ich längst erkannt hatte, dass sie mir nichts von meiner Mutter erzählen konnte, was ich nicht schon wusste.
Weil sie so viel zu erzählen hatte, war meine Antwort. Sie hatte geschwiegen, und ich hatte geschwiegen, und weiter und immer weiter, und in dem Moment, in dem unser Schweigen die Zeit angehalten hatte, der Staub die Uhrzeiger zum Stillstand zwang, die Stille alles leer hielt, da begann sie zu erzählen, nicht um den Raum neu zu füllen, sondern weil das Vakuum es verlangte.
„Die Erde, als sie noch lebte und umherwanderte“, begann sie. Oder: „Das Feuer, als es noch verliebt war und nichts von Unglück und Tod wusste“. Heute erzählte sie vom Meer, „als es den Geschmack des Salzes noch nicht kannte.“
Ich folgte ihren Worten wie ihren Bewegungen, die das Gesagte in Bilder brachten, das Wasser zu Wellen formten, sich in windloser Stille spiegelten, den Stürmen Macht gaben. Vielleicht sind es die Bewegungen, denen ich mehr Beachtung schenke als den Worten, doch sie sind untrennbar verbunden, keine Symbiose von Auge und Ohr, sondern ein anderer, vagerer Sinn, nicht gewohnt, angesprochen zu werden, und deshalb so staunend das Bewusstsein beherrschend.
„Da sagte das Salz: Ich will mit dir eins werden, ich will in dir aufgehen“, doch ihre Hände sagten ein anderes, ein Schnitt durch die Luft, die das Wasser war, eine Vergewaltigung, ein Sich-Ergießen in einen Leib, der zu jung, zu unschuldig für diesen Akt war. So muss es gewesen sein, sagten ihre Hände, während die Worte vom Leben sprachen, das Salz bedeutet.
Und als sie geendet hatte, die Uhrzeiger sich knarrend wieder in Bewegung setzten und ihre Hände müde zu Ruhe kamen, und ich durchnässt war, salzverkrustet, erschöpft vom Kampf mit den Wogen, vom Durst und von Tränen, die sich im Meer verloren, da fragte sie mich, ob ich das Meer kenne, es gesehen, gefühlt, gekostet habe, und ich sagte nein, natürlich nicht, und ich wolle es nicht mehr, denn es mache mir Angst, und sie sagte, das sei gut so. Und dann schwieg sie und ich schwieg und stand irgendwann auf und ging, ohne mich zu verabschieden, wie immer, denn sie hätte mich nicht mehr gehört.
Und wie immer sagte ich mir, es sei das letzte Mal, denn sie machte mir Angst vor Dingen, die jeder Angst entbehrten, das war ihre Art, ihr Wesen, Natur zu mystifizieren, bis sie voller Schrecken und Finsternis waren, und wie sie es erzählte, das ließ nicht nur hören, das ließ wahrnehmen, was in ihrem Inneren war, und es war Angst und Schrecken und Finsternis, und alles, was sie erzählte, entfremdete mir die Welt noch mehr, als sie es schon war.
Und spätestens nach einer Woche sollte ich sie wieder besuchen, aus dem Grund, warum andere Gruselgeschichten lesen oder sehen, um die Welt, wie sie nicht ist, und wie sie nie sein soll, zu erleben.
Aber heute stand ich im Durchzug zwischen Küchenfenster und Terrasse, schloss die Augen und roch den Wind des Meeres, die Frische, in Salz konserviert, das lichtdurchflutete Schimmern des Dunstes, der von den Wellen aufstieg, das alles sog ich mit der Nase ein, dann mit dem offenen Mund, dann mit der Haut, immer mehr Haut, je mehr ich mich meiner Kleidung entledigte, der Wind des Meeres, wie er meinen Sinn, meinen Körper, mein Geschlecht umwehte, streichelte, mich erzittern ließ, so stand ich da im Durchzug meiner Wohnung und spürte den Wind des Meeres, obwohl ich noch nie am Meer gewesen war.