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Virus
„Du bist so schön wie am ersten Tag“, flüsterte Harold. Er legte die Haarbürste auf das Bett und betrachtete seine Natascha. Sie hatte einen fleckigen Hautausschlag mit kleinen Einblutungen in ihrem Gesicht, das ein wenig angeschwollen war. Ihre Augen standen offen, aber die Hornhäute waren eingetrübt. Die Augäpfel waren eingefallen und der Blick stumpf ins Leere gerichtet. Er zog ihr das blau melierte Nachthemd mit dem Aufdruck `Kiss me Goodnight` über. Das trug sie am liebsten in ihrer Freizeit und auch beim Frühstück hatte er sie oft darin bewundert. Auf dem Nachttisch standen noch das Wasserglas, zwei leere Röhrchen Schlafmittel und die fünf ausgetrunkenen Fläschchen mit Antidepressiva.
Harold wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Er beugte sich vornüber und erbrach schwarzes Blut auf den Läufer vor dem Bett. Benommen wischte er sich den Mund an der dünnen Schlafdecke ab.
„Wir setzen uns in den Garten. Es ist schönes Wetter. Die Sonne scheint und ein sanfter Wind wird deine Haut streicheln, Nataschka. Die Kinder sind schon draußen und werden sich freuen, dich zu sehen.“
Harold nahm ihr die Mullbinde ab, mit der er ihren Unterkiefer fixiert hatte. Der Mund blieb geschlossen. So sollten die Kinder sie noch ein letztes Mal sehen. Er küsste sanft Nataschas fahle Lippen. Dann hob er sie mit beiden Armen aus dem Bett und wandte sich dem Ausgang zu. Vor dem Spiegel am Schlafzimmerschrank verharrte er einen Augenblick und betrachtete seinen geröteten Körper. Sein Gesicht, die Arme, der Hals, selbst seine Augen waren betroffen. Die Haut war mit punktförmigen Blutungen überzogen. Nataschas Unterschenkel schillerten in blau-violetten, länglichen Färbungen. Ihr Kopf war nach hinten geneigt und das blonde Haar reichte fast bis auf den Boden. Harolds Augen füllten sich mit Tränen.
„Das war es dann“, sprach er tonlos und blickte in seine blutunterlaufenen Augen, in denen das helle Blau seiner Iris nicht mehr zu erkennen war. Er schaute auf Nataschas Gesicht im Spiegel.
Warum hätten sie auch davonkommen sollen. KrK4 hatte ganze Arbeit geleistet. Erst lag die Todesrate bei fünfzehn Prozent, dann bei siebzig und schließlich bei über fünfundneunzig. Er sog die Lippen in den Mundraum und ließ sie zurückweichen.
„Ja … verlassen sie nicht Ihre Wohnung, meiden Sie alle Kontakte." Dabei hatte es schon fast alle erwischt. Vierzig Tage Inkubationszeit … dem Virus blieb alle Zeit der Welt, um sich zu verbreiten. Harold lachte bitter. ´Die relativ hohe Todesrate bei neuen Viruserkrankungen ist nicht ungewöhnlich´, hieß es. ´Der Mensch hat so gut wie keine Abwehrkräfte gegen diesen Virustyp. Eine erfolgreiche Therapie nach Krankheitsbeginn ist bisher noch nicht bekannt, aber unsere fähigsten Köpfe arbeiten daran´. Die waren wahrscheinlich auch schon alle tot. "Hat uns nicht weit gebracht, mein Schatz."
Harold wendete den Blick ab und ging die enge Stiege hinunter. Er musste seinen Oberkörper ein Stück weit seitlich drehen, was die Schmerzen in seinen Muskeln und Gelenken ins kaum Erträgliche steigerte. Er hatte vergessen, die Stellung von Nataschas steifem Körper zu verändern. Er stöhnte und rang nach Luft für seine brennenden Lungen, als er den Treppenabsatz erreicht hatte.
Mit mühsam beherrschten Schritten stapfte er in das Wohnzimmer und schaute auf den gekrümmten Rücken eines Mannes. Er stand bewegungslos vor dem laufenden Fernseher.
„Das Militär hat die Auslieferung der Virostatika Ribavirin und Lamivudin wegen zur Neige gehender Vorräte eingestellt. Es wird weiterhin empfohlen, einzelne Krankheitszeichen zu behandeln. Nehmen sie fiebersenkende und kreislaufstabilisierende Mittel zu sich und...“
„Garry?“ Erstaunt blickte Harold auf die sich umwendende Gestalt. Es war tatsächlich Garry Walsh. Er und seine Frau wohnten im Nachbarhaus. Sein Gesicht war von einem dunkelroten, fast schwarzen Adernetz überzogen und kaum noch zu erkennen. Er war im Endstadium. Die Lider waren zur Hälfte geschlossen. Er blutete aus der Nase und wischte mit dem verschmierten Ärmel darüber.
„Was machst du hier?“ Harold legte Natascha auf das Sofa. Er konnte vor Müdigkeit und Erschöpfung kaum noch stehen. „Was ist mit Andrea?“ stieß er mühsam hervor.
Garry blickte ihn apathisch an. Seine Augen hatten einen wässrigen und leblosen Ausdruck.
„Sie ist kaum noch ansprechbar. Ihre Haut blutet, ihr Mund blutet, sie hat blutigen Durchfall. Überall ist Blut. Du musst mir helfen, Harold, bitte.“
Es erschien Harold, als würde der Körper von Garry in sich zusammensacken.
„Was könnte ich schon tun?“ Er blickte betroffen auf Natascha.
„Hatte sie es schwer?“ fragte Garry matt.
„Sie ist ohne Schmerzen eingeschlafen. Wir hatten aber nur Medikamente für eine Person.“
„Und die Kinder?“
Harold wendete das Gesicht ab und blickte durch die offene Verandatür in den Garten. Amy und John waren nicht auszumachen. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund.
„Was möchtest du, Garry?“
„Ich will es beenden. Geb mir bitte eine von deinen Waffen.“
Harold nickte, blickte einen Moment lang zu Boden und dann auf Garry.
„Warte einen Moment. Der Schrank ist in meinem Arbeitszimmer.“ Er ging durch die geöffnete Tür zu seiner Rechten, griff unter eines der unteren Regalbretter eines Schrankes und zog den Doppelbartschlüssel von seinem Magneten. Dann öffnete er den daneben stehenden doppelwandigen Tresor und entnahm eine seiner drei Kurzwaffen. Er drehte den steckenden Schlüssel eines gesonderten, abschließbaren Faches und ergriff zwei gefüllte Magazine, von denen er eines in die Waffe schob. Einen Augenblick lang schaute Harold verstört auf die Schrotflinte neben dem Jagdgewehr. Er nahm eine offene Packung ihrer Munition und schüttete die Patronen neben den Kolben der Waffe. Dann kehrte er zurück ins Wohnzimmer und legte die beiden metallischen Teile auf den Tisch.
Sie blickten sich schweigend an. Garry presste die Lippen zusammen und nahm mit kraftlosen Bewegungen die Waffe und das Magazin an sich. Wortlos wandte er sich ab und verließ den Raum. Harold schaute ihm gedankenverloren nach und nahm den Ton des Fernsehers wieder wahr.
„Sollten sich keine Symptome bei Ihnen zeigen, verlassen Sie auf keinen Fall einen gesicherten Raum. Seien Sie geduldig“, sagte eine gesunde junge Frau auf dem Display. „Die Regierung mobilisiert alle zur Verfügung stehenden Mittel für den Aufbau von Quarantäneeinrichtungen. Wenn der Höhepunkt der Krise überstanden ist, werden wir Sie finden und sicher unterbringen.“
Harold schaltete das Gerät aus. Keiner hier draußen wird überbleiben, dachte er. Und vielleicht auch nicht einmal diese privilegierten Leute in ihren Bunkern. Ihm war es egal.
Harold setzte sich auf die Kante des Sofas und griff unter Nataschas Beine. Er musste mit aller noch vorhandenen Kraft drücken, um die Starre zu brechen und sie in eine sitzende Position zu bringen. Dann nahm er Natascha wieder auf, trug sie auf die Terrasse und setzte sie vorsichtig in einen der hölzernen Gartenstühle. Wie oft hatten sie sich hier gegenüber gesessen und den Abend lachend verbracht. Er verdrängte den Gedanken. Es würde ihm nicht helfen, in Erinnerungen zu zerfließen.
„Was ist mit Mutti?“ Der fünfjährige John hatte sich neben Harold gestellt und betrachtete seine Mutter verwirrt. Die dreijährige Amy stand mit müden Gesichtszügen neben ihm. Beide hatten hochrote Gesichter.
„Mutti muss sich nur ein bisschen erholen. Sie hat nicht so gut geschlafen. Warum deckt ihr beide nicht schon mal den Tisch für unser Frühstück? Dann kann Mutti noch etwas verschnaufen. Holt doch mal das Besteck und die Teller.“
Die beiden gingen langsam davon. Er hätte sie gerne noch einmal in den Arm genommen, über ihre kleinen Gesichter gestreichelt, aber er konnte sich nicht dazu überwinden. Der bittere Schmerz hätte ihm die letzte Entschlussfähigkeit aus dem Leib getrieben. Harold presste die Augen zusammen und weinte mit zitternden Lippen. Er vernahm zwei dumpfe Schüsse und blickte zu dem Haus der Walshs hinüber. Entschlossen lief er erneut zum Waffenschrank und zog das Schrotgewehr aus seiner Halterung. Er löste die Verriegelung, kippte den Lauf und setzte zwei Patronen ein. Nach dem Verschließen waren die Schlosse gespannt und die Flinte schussbereit. Er steckte sich eine handvoll Patronen in die Hosentasche und kehrte zurück auf die Terrasse. Amy und John verteilten gerade Teller auf dem Tisch. Er blickte sie aus geschwollenen Augen an und zögerte. Das er seine eigenen Kinder töten würde ... aber sie würden so elendig krepieren wie Andrea und die vielen anderen, die in den Fernsehbildern gegen ihre Schmerzen anschrien. Langsam hob er die Waffe und zielte auf den Jungen, der sich umdrehte und zu ihm aufblickte. Er hatte die traurigen Augen seiner Mutter. Sie hatten sich angeschaut, bis sie eingeschlafen war. Harold verzog die Lippen. Durch die Tränen konnte er John nicht mehr scharf erkennen. Er drückte auf den ersten Abzug. John stürzte gegen den Tisch und zu Boden. Amy blickte ihn erschrocken an, knickte ein wenig ein und rannte davon. Harold schoss ihr in den Rücken. Sie fiel vornüber in ein Blumenbeet. Er senkte den Kopf und schloss die Augen. Nun gab es nur noch eines zu tun. Er wollte den Schmerz nicht noch tiefer in sich dringen lassen und länger ertragen. Er knickte den Lauf der Flinte. Die Auszieherkrallen zogen die Patronenhülsen heraus. Harold blickte benommen auf seine Natascha, als er in die Tasche griff, um eine Patrone herauszuziehen.