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- 15.03.2008
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Vier Häfen
Die dunklen Wolken schienen das Versprechen auf ein Gewitter an diesem Tag nicht mehr einlösen zu können. Schnelle Winde schoben die letzten Ausläufer Richtung Horizont und klärten den Himmel. Die davoneilenden Wolken sahen aus, als wollten sie an bekannte Formen erinnern, aber ich entschied mich gegen das Spiel mit der Fantasie. Es war keine Zeit zum Wolkenschaufeln, kein Grund für Himmelsguckerei.
"Wie schön das alles ist", sagte ich. Er bugsierte den Grashalm von einer Seite seines Mundes zur anderen. Schlug die Augen auf. Sah ohne Blinzeln nach oben. Drückte meine Hand. Ich antwortete ebenso. Wortloses Verständnis kann schön sein, aber die Häufigkeit und Intensität seines Schweigens irriterten mich und warfen einmal öfter die Frage auf, ob seine Gefühle für mich so stark waren, wie meine für ihn.
Als es Abend wurde und kühler, schlenderten wir durch die Hauptstraße der kleinen Stadt. Kauften an der Straßentheke eines Eisladens drei Kugeln für jeden, in den Farben Rot, Gelb und Braun. Löffelten langsam während des Gehens und leckten Eisnasen, die an der Waffel herunterliefen. Auf dem kopfsteingepflasterten Marktplatz spielten Kinder in einem Springbrunnen, das Wasser wurde von einer bronzenen Nackten gespien, die auf einem Stein saß. Die Kleinen bespritzten sich und quietschten vor Lachen. Ein paar Schauspieler hatten einen Tisch vor die Tür des Theaters gestellt und diskutierten und lachten bei starkem Kaffee und schwarzem Tabak. Als die Schatten länger wurden, begannen die gusseisernen, schwarz ornamentierten Straßenlaternen zu leuchten.
Ich öffnete den Knoten in meiner Bluse und steckte sie in die Hose, das sah zwar weniger sexy aus, hielt dafür aber warm genug, dass ich es noch eine Weile draußen aushalten könnte. Vor einem kleinen Programmkino blieben wir stehen. Robert wollte es unbedingt von innen und vielleicht einen Film sehen. Typisch, dachte ich und musste über diesen Gedanken lächeln. Ich kannte ihn doch erst zwei Wochen - reichte die Zeit, das Typische von jemandem zu erkennen? Mir war, als kennte ich es.
Wir sahen einen Film über das Gedicht eines Beatniks, das für einen Skandal in Amerika gesorgt hatte. Das war, glaub ich, in den fünziger oder sechziger Jahren. Das Gedicht fand ich überspannt, den Film ziemlich langweilig. Ich umfasste sein unrasiertes, kantiges Kinn, drehte seinen Kopf zu mir und küsste ihn. Als ich einmal schnell und heimlich sein Küssgesicht sehen wollte, erspähte ich, dass er zur Leinwand schielte. Da ließ ich ihn in Ruhe und schmollte im weichen Kinosessel.
Der kräftige Rote und die fast perfekte Pizza beim Italiener ein Haus neben dem Kino trösteten mich - oder war es die Atmosphäre? Dass es so was noch gab: Die rotweißkarierte Tischdecke mit dem Kerzenständer darauf, ein zuvorkommender Kellner, der ein paar nette Sachen sagte, und mir das Gefühl gab, willkommen zu sein, bevor er sich diskret zurück zog. Total nett, provinziell im besten Sinn.
Nach dem zweiten Glas knotete ich die Bluse wieder über dem Bauch zusammen, strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann sagte ich etwas über den Film, wie langweilig er gewesen sei. Robert sprach von der Bedeutung dieses Gedichts für die Geistes- und Redefreiheit, welche nachfolgenden Werke es erst ermöglicht habe. Sein Gesicht im flackernden Kerzenschein, der tiefe, wilde Schatten auf der einen Gesichtshälfte warf, leuchtende Augen, der beschwörerische Blick - bevor es peinlich wurde, zuckten seine Mundwinkel. Rede- und Geistesfreiheit, soso!
Wir waren ziemlich beschwipst, als wir endlich zahlten. Er gab zehn Euro Trinkgeld! Da musste ich selig lächeln, weil ich dachte: Also doch verliebt! Das wird furchtbar einfältig ausgesehen haben, ich habe es in seinen Augen kurz blitzen sehen, bevor er sich mit ärgerlich verzogenem Mund abwendete und vorschlug, an der Promenade entlang zurück zum Hotel zu gehen, um noch was von der herben Seeluft zu haben.
Es war eine milde Nacht und ich bekam das seltene Gefühl, diese Nacht wäre einer der Gründe, weswegen man lebte, wofür es sich lohnte. Wir nahmen jeden Schlenker mit und setzten uns an das Ende eines Stegs, schauten über das Wasser und verfolgten die fernen Lichter eines Containerschiffes, das die Flussmündung hinauf fuhr. Robert legte seinen Kopf auf meine Schulter, ich zog die Schuhe aus und ließ die Füße im Wasser baumeln. Wir hörten gar nicht auf, uns zu küssen, als hätten wir Schokolade am Mund.
In der Ferne gingen ein paar Leute die Promenade entlang, die sangen laute Lieder und machten derbe Späße. Als sie auf Rufweite herangekommen waren, sahen sie uns wohl auf dem Steg sitzen – einer zeigte in unsere Richtung und sagte etwas: die anderen lachten. Sollten sie ruhig, ich gönnte in dem Moment jedem Menschen alles Glück.
Es waren vier, drei Männer und eine Frau. Sie ließen eine Flasche herumgehen. Redeten und lachten, stritten, zum Spaß, wie es klang. Jetzt zeigte einer aufs Wasser - in Richtung einer Boje, die Leuchtsignale durch die Dunkelheit sendete.
"Was meinst du, Robert - was haben sie vor?", fragte ich ihn. "Vielleicht wollen sie schwimmen gehen", sagte er und küsste meinen Hals. "Aber ehrlich gesagt, ist es mir fast egal." Ich lächelte und sagte etwas, das ich gleich darauf vergaß, beobachtete die vier. Einer zog sich Schuhe und Kleidung aus und sprang zusammengekauert mit dem Hintern zuerst ins Wasser, sodass er die anderen nass spritzte. Die taten empört und schimpften lachend. Auch die anderen entkleideten sich. Die schwarze Unterwäsche der Frau hob sich von ihrem weißen Körper ab. Als wären BH und Slip ein Teil der Nacht.
Sie schwammen gemeinsam und immer weiter hinaus. Vorbei an dem Steg, auf dem wir saßen, der schon ziemlich weit auf das Wasser ragte.
Als sie auf unserer Höhe waren, riefen sie uns etwas zu. Ich verstand kein Wort, winkte aber. Sie wirkten so ausgelassen und fröhlich. Heute ist der Glückliche-Menschen-Tag, dachte ich noch. Robert winkte ebenfalls, legte den Kopf wieder auf meine Schulter und sah den Schwimmern nach, die sich stetig entfernten.
Klara
Wir mussten einfach mal raus. Die Großstadt hinter uns lassen. Die Jungs waren ziemlich am Ende, deswegen schlug ich vor, in die kleine Stadt am Meer zu fahren. In Miguels Augen glaubte ich schon das Paragraphenzeichen zu sehen, so oft und lange hing er über seinen Büchern und büffelte für das Staatsexamen. Tag und Nacht, mit Pausen nur zum Essen, zum Sport und einmal die Woche zum Kino. Funktionspausen nannte er das. Körper und Geist bei Laune halten, damit beides weiter funktionierte, wie es sollte.
Natürlich verstand ich, dass er einfach das Beste aus sich heraus holen wollte und respektierte seine Disziplin. Machte mir aber auch Sorgen, weil er von Tag zu Tag fertiger wirkte. Er schlief damals zu wenig, aß irgendwelches Fastfoodzeug und lachte zu selten. Oh, habe ich damals gesagt?
Also das ist ja noch gar nicht so lange her, wenige Wochen jetzt, aber ... das muss einfach an dem liegen, was passiert ist - so unglaubliche Ereignisse, die verzerren alles, das gibt ganz schiefe Zeitachsen.
Bei Justus war es sogar etwas schlimmer, weil ich nicht wusste, was mit ihm los war, warum er nicht mehr zur Arbeit ging. Ich vermutete, man hätte ihn gefeuert, aber er redete nicht darüber, und ich fragte nicht. Wenn wir uns in der Küche begegneten oder im Wohnzimmer, erwähnte er mal einen Artikel, den er schreiben müsste oder ein Konzept für eine Radioshow, das er ausarbeiten wollte. Doch wenn ich nachfragte, nuschelte er Vagheiten, so dass ich den Eindruck bekam, das seien eher Wunschvorstellungen als konkrete Jobs. Jan war zu der Zeit kaum zu Hause, er fuhr nur mit, weil er an dem Wochenende nichts Besseres vorhatte, vermute ich. Er ging seine eigenen Wege. Von ihm weiß ich nicht genau, ob er gut drauf war. Aber wahrscheinlich ja, ihm scheint es immer gut zu gehen.
Wir hatten uns das Wochenende genau ausgemalt: Deichspaziergänge, durch das Städtchen bummeln, nachmittags Kaffee und Kuchen, Wattwanderungen, abends Essen gehen oder vielleicht mal ins Theater.
Zum Wohnen mieteten wir ein Vierbettzimmer in einem Hostel, das war karg aber billig und reichte für unsere Zwecke. Das Zimmer buchten wir telefonisch, unser bisschen Gepäck suchten wir schnell zusammen.
Eine halbe Stunde nachdem ich den Vorschlag zum Ausflug gemacht hatte, saßen wir in dem kleinen Auto von Justus Mutter, das ausnahmsweise nicht rumzickte und brav startete. Jede Reifendrehung führt uns ein Stück näher ans Meer, dachte ich und zählte die roten Wagen auf der Strecke. Über zehn, ganz sicher.
Es wurde genau so, wie wir es uns vorgestellt hatten. Premiere. Normalerweise funkt doch Realität dazwischen: Schlechteres Wetter, unfreundlichere Leute, das Auto von Justus Ma. Manchmal wird so ein ausgemalter Ausflug ganz anders, aber anders schön. Das finde ich schon einen Glückstreffer. Aber dieses Mal klappte einfach alles, wie wir es uns vorgestellt hatten. Als hätten wir die richtigen Worte zur richtigen Zeit gesagt.
An dem Abend waren wir erst beim Italiener und danach, schon leicht angeheitert, im Kino. Der Film war ziemlich langweilig, irgendwas mit drogenabhängigen Schwulen, denen der Prozess gemacht wurde wegen Obszönitäten - uns wurde nahegelegt, den Saal zu verlassen, wenn wir nicht aufhörten zu lachen. Wir haben dann draußen weitergealbert. Sind in eine Bar an der Promenade gegangen, in der Reggae und so tanzbare Sachen gespielt wurden. Wir tranken mehr Cocktails als wir gesollt hätten, aber unsere Laune war so gut, und was sprach schon dagegen, sich mal ein bisschen gehen zu lassen. Den Kopf freizumachen.
Ich tanzte abwechselnd mit den Jungs, und wenn wir saßen, versuchte ich meine Aufmerksamkeit fair zwischen den dreien aufzuteilen. Das war gar nicht so leicht, vor allem, weil Justus schnell beleidigt war, wenn er der Meinung war, nicht genug abbekommen zu haben. Einmal kam es mir vor, als würde ich immer mit einem Ball mehr jonglieren, als ich sicher konnte, aber an diesem Abend beschloss ich einfach, alle Bälle in der Luft zu halten, und es funktionierte.
Auf dem Rückweg ins Hostel gingen wir an der Promenade entlang, es war schon ein Stück weit nach Mitternacht und wir hatten alle ziemliche Schlagseite. Vor allem Justus in meine Richtung. Ich versuchte ihm dezent klar zu machen, dass er nervt, aber die Zwischentöne kriegte er diese Nacht nicht mehr mit. Ziemlich ärgerlich auch, dass die anderen beiden nichts dazu sagten, die hätten das mit einem Spruch unter Männern regeln können. Aber die redeten ganz angeregt, die Scheuklappen wohl angelegt.
Irgendwann entdeckte einer das Pärchen auf dem Steg. Wir sahen zu ihnen hinüber, blieben stehen und ließen eine Flasche kreisen. Und redeten über dieses Bild, wie die beiden so romantisch da saßen, vor sich nur das Meer und den Mond. Kann sein, dass wir uns ein bisschen darüber lustig machten. Ich habe mitgemacht, einfach froh, dass Justus abgelenkt war. Mich störte nicht, kein Teil eines solchen Bildes zu sein. Mit der Sehnsucht habe ich es nicht so, egal worum es geht. Mir reicht das, was da ist.
Während wir quatschten und klatschten, schlug einer, ich glaube, das war sogar Miguel, vor, zu dieser Boje zu schwimmen. "Klar!", rief ich, "da denken wir gar nicht drüber nach, das machen wir jetzt einfach!" Wieder so eine spontane Idee, das Gelungene noch besser machen! Und warum nicht, erwachsene Leute können doch baden, wenn sie wollen. Konnte ja niemand ahnen, dass die Dinge so schnell aus dem Ruder laufen. Verdammter Mist. Das konnte doch keiner ahnen.
Miguel
Mir war schon den ganzen Abend lang unwohl gewesen, zwischendurch beim Tanzen hatte ich zweimal das Gefühl, als stächen tausend kleine Nadeln in mein Herz. Beim zweiten Mal habe ich mich entschuldigt und an die Bar gesetzt – den freien Platz hat sich natürlich Justus gekrallt. Das Stechen ließ nach, hörte aber nicht auf.
Eifersucht, nahm ich den Schmerz nicht ernst und tauschte einen schnellen Blick mit Jan, der genauso mitgekriegt hatte, wie Justus auf Klara abging. Sie schien das seltsamerweise nicht zu bemerken, obwohl sie sonst so viel sah, dass es schon unheimlich war. Aber vielleicht tat sie auch nur, als merke sie es nicht, um ihn nicht zu verletzen, und wartete, dass es von selbst aufhörte. Ich jedenfalls mischte mich nicht in ihre Angelegenheiten, da ist sie empfindlich.
Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, in der Bar dieser kleinen Stadt. Es war das erste Mal seit vielen Wochen, dass ich einen Tag ohne meine Bücher verbrachte. Klara hatte mir verboten, welche mitzunehmen. Ich hatte mir diese Einmischung lachend verbeten. Da haute sie mir die eigenen Termini mit anderen Vorzeichen um die Ohren: Es sei Zeit für eine etwas längere Funktionspause, meinte sie, Miguel müsse mal in Ruhe gewartet werden. Ich fühlte mich ertappt: Funktionieren, Leistungsbereitschaft abrufen und solche Worte gehörten zu meinem Stammvokabular, als wäre ich eine Maschine. Da fühlte ich mich charmant mit den eigenen Waffen geschlagen und gab nach.
An dem Abend waren wir nett Essen und wollten einen spannenden Film sehen. Da hat uns aber Klaras Rumalberei einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schade, anhand der Anklage und des Verhörs durch den Staatsanwalt bekam man faszinierende Einblicke in die Moralvorstellungen eines vergangenen Zeitalters, das tatsächlich noch gar nicht so lange her war. Aber na ja, wer beschwert sich schon über das Lachen schöner Frauen. Danach waren wir Tanzen gegangen.
Ich hatte seit mindestens zehn Stunden nicht mehr ans Examen denken müssen und fühlte mich wunderbar. Bis auf dieses Stechen. Aber das, sagte ich mir, ist nicht so schlimm. Dabei war es eigentlich schon schlimm, zweimal schien mein linker Brustbereich Kissen für unsichtbare Nägel zu sein, ein fieses Stechen, das aber schnell vorbei ging. Zweimal zehn Sekunden. Wer würde denn da einen Arzt rufen oder ins Krankenhaus fahren? Was sollte das schon sein. In meinem Alter macht man sich noch keine Sorgen über ein Stechen hier oder einen Druck da, ich bin doch kein Hypochonder. Und es kam ja nach dem zweiten Mal nicht wieder.
Als wir später am Wasser standen und Jan hineinsprang, verschwendete ich keinen Gedanken mehr daran, zog Hemd und Hose und Schuhe aus und sprang hinterher. Es tat gut: was machen, ohne nachzudenken.
Das Wasser war kühl genug, zu erfrischen, und nachdem ich warm geschwommen war, fühlte ich mich quicklebendig. Nach vielleicht der Hälfte der Strecke sagte Jan, es sei Zeit für den Endspurt. "Auf drei!", rief ich und zählte laut.
Ich habe mir keine Illusionen gemacht, schließlich hockte ich seit Monaten fast ausschließlich in Bibliotheken und hatte an Bewegung nur die Wege nach Hause, zur Imbissbude und - okay, ins Fitnessstudio. Aber dort lag ich vor allem in der Sauna und tauschte mit alten Männern Witze und Wetterprognosen oder saß am Tresen und trank Kaffee. Doch kampflos konnte ich die beiden nicht ziehen lassen, das ist bei mir einfach nicht drin.
Klara machte bei unserem kleinen Wettrennen nicht mit, sie schwamm entspannt hinter uns her, wie sie mir am nächsten Morgen im Krankenhaus etwas weniger gelassen erzählte. Jan hatte die bessere Technik, dafür war die Entschlossenheit auf meiner Seite, ich kraulte wie ein Blöder. Wir müssen ganz schön Welle gemacht haben. Klara erzählte später, dass sie uns gar nicht mehr als Einzelpersonen hatte ausmachen können, so sehr spritzte es um uns.
Wir hatten wohl die Entfernung unterschätzt. Diese Boje wollte und wollte nicht näher kommen. Ich schaute während des Luftholens einmal nach unserem Ziel, und es schien mir genauso weit weg zu sein, wie zu Beginn des Wettkampfes.
Zu dem Zeitpunkt konnte ich eigentlich schon nicht mehr. Arme und Beine brannten mit einer Intensität, die mich wunderte. Auf einmal etwas wie ein Band aus Stahl, das mir die Brust abschnürte und die Luft nahm. Das war ernst, das wusste ich sofort. Ich wollte noch etwas rufen, aber auch dazu braucht man Atem. Mein ganzer Körper wirkte mit einem Mal so schwer, als hätte jemand Gewichte an Hände und Füße gehängt. Ich bewegte mich weiter, machte dieselben Bewegungen, aber sie hielten mich nicht mehr über Wasser, langsam versank ich, wie in Zeitlupe durch die Schichten, dem Dunkel entgegen, der Mond wurde immer blasser und verschwommener, ich sah ihn an, während ich schwimmend sank.
Robert
Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie und warum wir ausgerechnet in dieser Hafenstadt gestrandet waren. An die Zeit vorher allerdings auch nicht. Ich war seit Monaten im Straussenmodus unterwegs gewesen, ging nur zum Einkaufen raus, mit aufgesetzter Kapuze und Tunnelblick, oder, mit erschreckender Regelmäßigkeit, abends in die Assi-Kneipe, wo ich mich schnell und effizient dicht machte. So dicht, dass keine Ritze mehr zu einem Unterbewusstsein führte, aus dem die Träume kriechen könnten.
An einem dieser Abende lernte ich sie kennen. Juana. Keine große Sache. Eine Frau, die jemanden suchte, die gerade verlassen worden war, wie sie mir anvertraute, nervös nach meiner Reaktion schielend. Ich hatte wohl gerade ein gutes Level, so zwischen viertem und siebtem Whiskey, und habe das Richtige auf die richtige Weise gesagt, oder genau das Falsche, auf jeden Fall das, was das Spiel weiterlaufen ließ.
Sie wollte ja spielen, ob sie es wusste oder nicht, und bog sich meine Worte zum Soundtrack ihres Films. Ebenso mein Schweigen, auf das ich mich bald verlegte, um keinen der zynischen Kommentare entschlüpfen zu lassen, die in dem Nest aus Enttäuschung und Überdruss, das ich bin, vor sich hin brüten.
Sie hatte ne Menge zu erzählen, tausend kleine Kränkungen, Beobachtungen und Mutmaßungen – anscheinend hatte sie keine Freundin, bei der sie sich leerreden konnte. Mir egal, nach dem fünften Drink hör ich mir alles an, am nächsten Morgen ist es dann eh weg und die Tafel wieder blank.
Juana war nicht ganz mein Typ, aber sie hatte an mir einen Narren gefressen. Sie brachte mich auf andere Gedanken - und wirkte glücklich in ihrer Illusion. So haben wir beide was davon, redete ich mir zu, als sich das schlechte Gewissen meldete, weil ich ihr etwas vormachte.
Es waren besondere Momente dabei. Das heitere Stadtbild eines sommerlichen Spätnachmittags: im Brunnen spielende Kinder, das große Palaver der Theaterleute. Juana und ich, Eis essend, Hand in Hand. Aber das waren eben nur Momentaufnahmen, die schnell vom Wirbel der Minuten und Stunden verschluckt wurden und nichts zurück ließen.
Ich war zu dem Zeitpunkt, an dem der eine Schwimmer auf einmal verschwand, schon ziemlich müde. Sein Verschwinden war ganz unspektakulär, wenn man bedenkt, dass mit einem Mal ein Leben fast ausgelöscht worden wäre. Die drei Schwimmer kraulten hinter einer Wand aus Spritzwasser, da war eigentlich kein Einzelner zu erkennen. Kann sein, dass ich gesehen habe wie das Gespritze etwas nachlässt, kann auch sein, dass ich mir das im Nachhinein nur so zurechterklärte.
Sicher ist: Irgend etwas elektrisierte mich auf einmal, ich bekam das Gefühl, etwas Schlimmes wäre passiert, das riss mich aus meiner Lethargie: Ich war schon ganz deppert geworden von dem vielen Wein und der doppelten Anstrengung, mein Gewissen in Schach zu halten und mich gleichzeitig so zu verhalten, als wäre ich verliebt. Während meine Füße im Wasser baumelten und ich mit Juana rumknutschte, sah ich zum Mond und überlegte müßig, wann er wohl endlich ins Meer fallen würde. Nebenbei beobachtete ich das Wettschwimmen.
Dann das innere Alarmsignal. Ich war sofort hellwach – was hatte mich aus meiner Lethargie gerissen? - und löste mich aus der Umarmung und suchte mit den Blicken im aufgewühlten Wasser, ohne zu wissen, was ich finden wollte. Wenige Augenblicke später war mir klar: Einer fehlte – und wieder wäre ich nicht in der Lage zu sagen, wie ich zu dieser felsenfesten Überzeugung gekommen war.
Ich stand auf und rief und gestikulierte der Frau, die hinter den dreien schwamm, schrie sie an, dass sie sofort tauchen solle, da ertrinke jemand. Cleveres Mädchen. Die fragte nicht, sondern kraulte drauf los, als würde sie so etwas jeden Tag tun.
Juana wirkte wie in Stein gehauen. Als ich in der Notrufzentrale anrief, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Juana da saß, wie gelähmt. Dieser Anblick prägte sich mir ein. Das clevere Mädchen aber sah ich erschreckend lange Zeit nicht mehr - als sie endlich auftauchte, hielt sie jemanden im Rettungsgriff.
Ich hatte mich aus meinen Klamotten geschält, machte einen halbgelungenen Kopfsprung – man merkt sich ja die albernsten Details - und schwamm den beiden entgegen. Gemeinsam hielten wir den fast Ertrunkenen über Wasser, bis zum Steg, wo sich Juana aus ihrer Erstarrung löste und ihn hinauf zog. Das clevere Mädchen massierte seinen Brustkorb, beatmete ihn und fragte, ob wir einen Krankenwagen gerufen hätten. Ich bejahte.
Juana guckte hilflos von dem Liegenden zu mir, als erwartete sie eine Erklärung. Ich sagte ihr, dass sie noch einmal den Notruf wählen solle und fragen, wo zum Teufel der Krankenwagen bliebe. "Ich gehe zur Promenade, um ihnen den Weg zu zeigen", sagte ich.
Unterwegs rief ich vorsichtshalber selber nochmal an, aber schon während der Ruf das zweite Mal rausging, hörte ich die Sirenen. Ich winkte den Wagen heran, lief den Sanitätern voraus und sah ihnen bei der Erstversorgung zu, verfolgte, wie sie ihn auf eine Trage hievten und zum Wagen trugen. Das clevere Mädchen stieg mit ein. Die Sirene quäkte durch die Nacht, wir hörten sie noch lange, während der Wagen durch die nachtschlafenen Straßen fuhr, immer leiser werdend.
Juana und ich blieben zurück in einer nun unheimlichen Stille, warteten und sahen die hellen Kopfpunkte der Schwimmer vor dem dunklen Grund des Wassers größer werden. Sie marschierte auf dem Steg auf und ab, ich fand den Takt ihrer Schritte furchtbar lästig, sagte aber nichts. Als die Schwimmer beim Steg angekommen waren, erzählten wir das Vorgefallene und begleiteten die beiden zu den Klamotten. Einer rief ein Taxi und meinte, dass sie zum Krankenhaus fahren sollten. Wolkenfetzen schoben sich wie zerrissene Schleier vor den Mond. Wieder warteten wir, wünschten ihnen Viel Glück und schlossen die Taxitür von außen.
Wir sahen dem Taxi hinterher, bis es um die nächste Ecke bog. Sie drehte sich zu mir und hob die Hände, als wollte sie etwas sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Juana wirkte fremd und befremdet zugleich. Die wenigen Schritte zum Hotel legten wir schweigend zurück, unter einem Nachthimmel, dessen Sterne funkelten wie Strass-Steine. Im Zimmer zogen wir uns schamhaft und verstohlen aus, als kennten wir uns nicht mehr, legten uns ins Bett als wären wir uns alle fremd, sie mir, ich ihr, ich mir, sie sich. Stumm und starr wie Statuen. Irgendwann schaltete ich den uralten Hotelfernseher ein, ohne Ton. Amerikanische Sitcoms flimmerten auf dem kleinen Bildschirm. Ich meinte die Lacher zu hören.
Ein- oder zweimal begann sie etwas zu sagen, über den Abend, den Unfall, über uns. Sie warf die Themen wie ein Jongleur seine Bälle in den Raum, stockte aber jedesmal und hörte auf, als ob einer zu schwer wäre, oder im Flug Stacheln bekommen hätte. "Schlaf mal drüber", sagte ich, zappte weiter und dachte, während ich durch die ätzenden Nachtprogramme schaltete, dass es genug sei mit uns beiden.
Das Vorgefühl des Abschieds. Nicht unbedingt das Schlechteste - ich fühlte mich erholt und hatte Lust auf neue Ufer. Es wäre auch gut für sie, dachte ich, ihre Illusion nicht weiter zu stützen.
Irgendwann hörte ich ihren Atem deutlicher, sie lag mit leicht geöffnetem Mund auf dem Rücken, den Kopf in der Beuge des rechten Arms. Ich setzte mich in einen lockeren Schneidersitz, zündete eine Filterlose an und beschaute sie, dem absurden Impuls nachgebend, mir ihr Bild einzuprägen, um etwas von ihr mitzunehmen. Das linke Bein guckte unter der Decke hervor, der lange Milchkaffeschwung mit dem dunklen Flaum auf der Wade.
Scheinwerfer krochen die Wand hinter dem Fernseher hoch, Kieselsteine knirschten, dann der Ruck und das Einrasten durch die Stille, als eine Handbremse angezogen wurde. Ich lehnte mich vor und nah an sie heran, so schön war sie, die schlafende Frau - und pustete Rauch in ihr Gesicht. Niedlich, wie sie ihre Nase kraus zog. Juana betrachtend, entschied ich, dass es Zeit sei, das Weite zu suchen. Schnell jetzt, den Impuls nicht durch Reflektion verfälschen! - ich drückte die erst halb gerauchte Kippe aus und dachte, als ich die Tür hinter mir schloss, bald werden wir glauben, alles war nur ein Traum.