- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Verzweiflung
"Wo bist du? Felix?" Ich hörte die Rufe schon seit gut fünf Minuten, wenn mich mein Zeitgefühl nicht trügte. Allerdings war ich mir absolut nicht sicher. Alles, was ich in den letzten paar Minuten gesehen hatte, waren die Autos und Lastkraftwagen unter mir auf der Autobahn. Eigentlich nahm ich sie aber gar nicht wahr, sie waren nichts anderes als graue Lichter im endlosen Schwarz unter mir. Es war aber auch nicht wichtig, ob sie da waren oder nicht. Ich schloss die Augen und auch das Geräusch der vorbeifahrenden Wagen schien zu verstummen. Ein anderes, leiseres Geräusch trat an ihre Stelle. Eine Stimme, die ich doch immer so gerne hörte, die mir Kraft gab. Immer habe ich diese Wärme gefühlt, wenn ich sie hörte, immer sprach sie sanfte Wörter zu mir. Auch jetzt sprach sie sanft. Doch die Worte, die ich höre, durchstachen mich wie Messer in meinem Herzen. "Geh weg, lass mich endlich in Ruhe" Immer wieder hallten die Worte in meinem Kopf wieder. Warum hatte sie mir das angetan? Sie hatte mir doch geschworen, sie würde mich ewiglich lieben.
"Felix" Der Schrei klang anders als die davor, viel näher und auf eine gewisse Weise schockiert und erleichtert zugleich. Schritte näherten sich schnell, doch stoppten sie, bevor sie mich erreichten. Noch bevor ich die Augen öffnete, wusste ich, was ich sehen würde. Als ich den Kopf von der Fahrbahn abwandte, erblickte ich Nina. Nina, warum war sie hier? Warum tut sie das alles für mich? Meinte sie es etwa ernst? Liebte sie mich wirklich mehr als ihren Mike? Mit einem Mal verstummte die Stimme in meinem Kopf und ein unangenehmes Gefühl ergriff mich. Dieses Schuldgefühl, dass ich Nina das alles antat. Sie hatte wegen mir geweint, wegen mir litt sie. Wie konnte ich ihr das nur antun? Sie war doch immer für mich da.
Plötzlich fühlte ich auch etwas anderes wieder, was ich die ganze Zeit wohl ignoriert hatte. Einen drückenden Schmerz in meinem Rücken. Kein Wunder, die ganze Zeit hatte ich mich damit an das Geländer gedrückt. Ich stand auf nur wenigen Zentimetern. Vor mir ging es fast zehn Meter in die Tiefe. Hinab in das endlose Schwarz der Straße, zu den grauen Lichtern der Wagen. Nina stand nur noch wenige Meter von mir entfernt. Eine Sekunde sah ich in ihre angsterfüllten Augen. Länger hielt ich den Anblick nicht aus. Ich schloss die Augen und drückte mich vorsichtig mit meinen Armen nach oben und setzte mich auf das Geländer. Erst jetzt fiel mir auf wie mein Herz raste. Ich atmete zwei-, dreimal tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Ich öffnete die Augen ein weiteres Mal. Was ich dann sah, war ein schwarz-graues Meer aus Asphalt und verschwommen Lichtern. Es schien nach mir greifen zu wollen und ich war ihm schon so nahe gewesen. Nina hatte mich gerettet, von diesem endlosen Loch weggezogen. Ob sie wusste, was sie für mich getan hatte?
Ich wandte meinen Kopf wieder zu meiner Retterin, doch war mein Blick inzwischen von Tränen vernebelt. Ich spürte, wie sich die Tränen schon den Weg über meine Wange bahnten. Schnell senkte ich den Kopf und wischte mir hastig die Tränen weg. Nina sollte nicht sehen, dass ich weinte, dass würde sie nur noch trauriger machen. Noch einmal holte ich tief Luft. Dann schwang ich mich über das Geländer und drehte mich Nina zu.
Ich war ernsthaft schockiert, als ich ihr Gesicht sah. Die Tränen liefen schon bis zu ihrem Kinn herab und das Schlimmste waren ihre Augen. Sie sah so fertig aus, so ängstlich und besorgt. Und das nur wegen mir? So was hatte ich nicht verdient, ich hatte sie nicht verdient. Sie war viel zu gut für diese Welt. "Du... du springst nicht, oder?" Sie sah mich verzweifelt an. Selbst, wenn ich es ernsthaft vorgehabt hätte, hätte ich es bei diesem Blick nicht sagen können. Dennoch blickte ich wieder zur Straße. "Brina will das doch auch nicht" Brina - die Stimme in meinem Kopf wurde wieder lauter: "Geh weg, lass mich endlich in Ruhe" Immer wieder hörte ich ihre Stimme. Mit einem Mal war das Schwarz der Straße nicht mehr so abstoßend, erschreckend. Viel eher wirkte es plötzlich anziehend. Die letzten zwei Monate hatte ich alles für Brina getan. Es war schwer, war sie doch so weit weg, aber ich habe nicht aufgehört sie zu lieben, ich habe versucht, immer für sie da zu sein. Ich habe alles für sie getan. Ich war bereit, mein ganzes Leben aufzugeben, nur für sie. Und jetzt schickte sie mich einfach weg. Sie wollte nichts mehr von mir wissen. Mein Leben hatte keinen Sinn mehr. Warum sollte ich noch leben, wenn Brina mich nicht mehr wollte.
Mein Fuß setzte sich wie von alleine auf den Mittelbalken des Geländers. Meine Hände umgriffen den obersten Balken. Ein kleiner Ruck und ich stand auf schon auf dem mittleren Balken. Eine einzige falsche Bewegung und ich würde fast zehn Meter in die Tiefe stürzen. Doch erschien mir das nicht gefährlich oder schrecklich. Im Gegenteil, es wäre eine Erlösung. Ich würde tun, was Brina zu mir gesagt hatte. Ich würde aus ihrem Leben verschwinden.
Ich nahm die Arme vom Geländer und blickte in die Ferne. Wie kleine Ameisen krabbelten die grauen Schatten über den schwarzen Asphalt, weit unter mir. Und in ihnen lauter Menschen: Geschäftsmänner, Hausfrauen, Familien. Und sie alle fuhren unter mir entlang, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Niemand brauchte mich hier. Also, warum sollte ich nicht springen? Die Muskeln in meinem rechten Bein spannten sich langsam an, um einen weiteren Schritt oben auf das Geländer hinauf zu machen. Noch wenige Sekunden und es ist soweit. Was mich wohl erwarten wird? Es gibt doch so viele Theorien über den Tod. Werde ich wiedergeboren werden? Oder komme ich in die Hölle? Nur wenige Augenblicke verschwendete ich an diesen Gedanken. Noch einen letzten Atemzug nahm ich. Ich genoss ihn richtig. Auch, wenn die Luft von der Straße nicht frisch war und nach Abgasen stank, so war es doch Luft, Grundlage des Lebens. Meine Augenlieder senkten sich über meine Augen und alles verdunkelte sich. Ich sah nur noch schwarze Leere. Doch nicht nur mein Blick ging in dieses Nichts, auch meine Gedanken landeten dort. Ich hatte alles vergessen, mein ganzes Leben war vorbei.
Eine Wärme durchfloss meine rechte Hand. Nina stand nun direkt neben mir. Ihre Hände umhüllten meine Rechte, aus ihren Augen flossen die Tränen und ihr Blick war so verzweifelt flehend, dass mich ein Schuldgefühl ergriff, dass so heftig war, dass mir die Tränen in die Augen schossen. "Spring nicht", ihre sonst so feste Stimme zitterte. Was habe ich nur angerichtet? Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf und bohrte sich dann tief in mein Herz. Es tat weh, Nina so zu sehen. Alles war meine Schuld. Ihr Griff wurde fester und sie zog mich sanft vom Geländer herunter. Obwohl sie nur leicht an meiner Hand zog, stolperte ich auf sie zu. Mir wurde erst jetzt bewusst, wie schwach meine Glieder in den letztens Sekunden wurden. Sie erschlafften mit einem Mal. Ich fiel Nina in die Arme.