Vertrauen
Sein Flug wirkte so unbekümmert, federleicht flirrte er an mir vorbei. Seine Flügel waren gelb, leutend gelb wie reines Sonnenlicht. Bedächtig ließ er sich auf einer Blüte nieder. Er war zu weit weg, so daß ich nicht beobachten konnte, wie er seinen Rüssel ausrollte, um an den süßen Nektar auf dem Grund der Blüte zu kommen. Dann flog er auf und schwirrte weiter im Garten umher. Wie zerbrechlich er aussah, wie verletzlich. Ich war nicht wirklich erstaunt, als er um mich herumflatterte, obwohl ich sicher nicht wie eine Blume dufte und auch nicht im Entferntesten so aussehe. Ich öffnete die Hand und der Falter setzte sich auf meine schwielige Handfläche. Wie selbstverständlich nahm ich sein Vertrauen an. Nun konnte ich ihn genau betrachten. Die leicht ausgefransten, schlicht geformten Flügel ließen mich überlegen, durch welche Widrigkeiten er sich in seinem Schmetterlingsleben schon hatte kämpfen müssen. Ob er schon auf anderen Händen gesessen hatte? Vielleicht auf der eines Kindes oder der einer hübschen jungen Frau. Der schlanke, elegante Leib zitterte, als würde er sich fürchten, doch der Schmetterling blieb sitzen, wo er war. Ich fühlte ein ganz leichtes Kitzeln, als er mit dem Rüssel eine meiner Handlinien berührte. Wie unfassbar sanft diese winzige Berührung doch war. Kein Geräusch war zu hören, als ich schnell die Hand schloß und ihn zerdrückte.
Langsam öffnete ich die Faust und betrachtete die gesplitterten Flügel.
"Tut mir leid", flüsterte ich.
[Beitrag editiert von: raven am 12.02.2002 um 06:06]