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Versagen
Es ist Zeit, einen Kaffee zu trinken. Seit zwei Stunden bin ich auf der Piste und ohne wache Lebensgeister ist das Laufen eine Zumutung. Die verdammten Wolfskin-Wanderschuhe scheuern an den kleinen Zehen, der zentnerschwere Rucksack zieht heute besonders an den Schultern und ich befürchte, gleich in der Taille auseinander zu brechen. Aber was soll das, ich brauche keine Ausreden, um mir einen Kaffee zu gönnen. Ich muss niemandem Rechenschaft über meine Befindlichkeiten ablegen, nicht einmal mir selbst.
Die kleine Bar fällt mir nur auf, weil die roten Plastikstühle mitten auf dem Weg wie Signalbojen aus dem Meer der gelbroten Pflastersteine leuchten. Wie ferngesteuert peile ich einen der Tische an der Hauswand an. Mauern, Umzäunungen, Hecken geben mir die Illusion von Sicherheit. Immerhin habe ich so meine Flanken im Blick und bin für eventuelle Angriffe gewappnet. Angriffe, immer diese Übertreibungen. Aber seit ich diese Reise angetreten habe, überfallen mich oft solche bizarren Ideen. Man sagt, Pilgern mache den Kopf frei. Eine haltlose Behauptung, mehr nicht.
Umständlich winde ich mich aus den Trageriemen des Rucksacks, um bloß nicht den straußeneigroßen Bluterguss am Oberarm zu berühren. Ein Andenken an die Anfangszeit meiner Reise, als ich das Monster im freien Fall mit meinem Bizeps abfangen wollte. Ein Fall von fataler Selbstüberschätzung.
Auf dem Fußabstreicher kriecht eine winzige Nacktschnecke, achtsam steige ich über sie hinweg. Der Perlenvorhang klimpert leise, als ich mich in die düstere Bar schiebe. Dunkles Holz und Naturstein, schlicht und rustikal, eine archaische Höhle wie hundert andere auch.
„Buenos dias.“ Ich lächle den Mann hinter dem Tresen an. „Un café con leche, por favor.“ Ich sollte auch eine Kleinigkeit essen. „Y un bocadillo con queso“, füge ich schnell hinzu.
Er brummt etwas Unverständliches in seinen Schnauzer und macht sich mit schwerfälligen Bewegungen am Kaffeeautomaten zu schaffen. Ein verirrter Schafhirte, der die Rolle des Baristas nur mimt, genauso schlecht wie ich die Pilgerin. Ich trete von einem Bein aufs andere, es gibt jetzt nichts Wichtigeres für mich, als die Schnecke zu bergen. Ich habe Angst, sie könnte in der Zwischenzeit von groben Wanderstiefeln zerquetscht werden. Hätte ich mich nur gleich um sie gekümmert! Wie lange dauert das denn noch?
Mein Geld liegt schon lange auf dem Tresen, als ich Kaffee und Brötchen entgegennehme und nach draußen balanciere.
„Na, du Kleine, du lebst ja gefährlich“, spreche ich zur Fußmatte, nachdem ich die Teller abgestellt habe. Aus meiner Seitentasche angle ich ein Papiertaschentuch und breite es vor dem Winzling aus.
„Spielst du schon wieder den Schutzengel, mein Spatz?“, höre ich die warme Stimme meiner Mutter. So klar, dass ich glaube, sie stände neben mir.
Die Schnecke macht mir die Freude und bewegt sich in die Richtung, in der ich sie haben will. Anfassen wäre keine Option, ich ekle mich vor dem Schleim. Auf ihrem fliegenden Teppich lasse ich sie auf das angrenzende Mäuerchen schweben. Meine Mission ist geglückt und ich bin zufrieden, nun kann ich meinen Kaffee genießen, der allerdings in der Zwischenzeit kalt geworden ist.
Ich schiebe die Sonnenbrille auf die Nase, dann schließe ich die Augen und lasse meine Gedanken treiben. Sie landen bei Robert, sein Gesicht erscheint wie ein Zerrbild, aber sein mitleidiges Lächeln kann ich erkennen. „Wer weiß, wofür diese Reise gut ist? Vielleicht spricht man dich in Santiago heilig oder selig oder sonst was. Die heilige Klara, Schutzpatronin aller vergessenen und gequälten Wesen, aller Hinfaller-und-nicht-wieder-Aufsteher.“
Es macht mich traurig und unsicher, dass mein Mann nicht begreift, ich muss mich um Kreaturen sorgen, die sonst keiner wahrnimmt. Ich nenne es Achtung vor dem Leben. Vielleicht hätte ich ihm das klar und deutlich sagen müssen, um ihm seine Überlegenheit aus dem Gesicht zu radieren.
Wenigstens hat er mir keine Steine in den Weg gelegt, darauf kommt es an. Das Wortspiel gefällt mir: Steine in den Weg legen, da hätte er alle Hände voll zu tun, achthundert Kilometer Camino. Jetzt sitze ich hier, alleine, lasse mich von der Sonne wärmen.
Die Schnecke ist verschwunden. Der Nachbar wird sich freuen, wenn sie sich über den Salat in seinem Garten hermacht.
„Unnützes Viehzeug!“ Ich zucke zusammen. Oma? Noch während ich aufspringe, sehe ich einen Schatten über die Hauswand huschen, der augenblicklich mit ihr verschmilzt, selbst zu Stein wird.
Schwerfällig schultere ich den Rucksack. Buen camino!
Mit gesenktem Kopf trabe ich weiter, starre auf den roten Staub der Maragateria, als wäre unter ihm die Antwort auf die Frage verborgen: Wer bin ich wirklich? Ich müsse nur genauer hinschauen. Mit einem Mal erscheint mir das Pilgern wie eine Schnapsidee, lächerlich, sinnlos und dumm.
Was mir bleibt, weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen und den gelben Pfeilen zu folgen, oder noch besser, wieder eine Pause einzulegen.
Ich nehme einen kräftigen Zug aus der Wasserflasche und schlucke die Zweifel hinunter. Wie aus dem Nichts erscheint ein Sandwirbel auf dem Pfad und tanzt wie ein verrückter Tornado. Ein Rotkehlchen flattert ein Stück neben mir her, lässt sich im Gestrüpp nieder und mustert mich mit dunklen Knopfaugen. Dann zwitschert es munter, einen Gruß oder ein Spottlied, ich verstehe die Botschaft nicht.
Nachdenklich beobachte ich eine einsame Wolke, die sich allmählich auflöst, so wie meine Hoffnung, jemals mein wahres Selbst zu erkennen. Mir ist, als wolle ich meinen Schatten fangen. Er ist so nah, doch immer wenn ich nach ihm greife, entwischt er.
Allmählich steigt der Weg an, vor mir erstreckt sich die Bergkette der Montes de León, sie ruft Erinnerungen an die Heimat wach, an Wanderungen durch dunkle Nadelwälder. Dahinter erwartet mich Ponferrada, wahrscheinlich die nächste Gelegenheit, um in den Fernbus nach Santiago zu steigen. Eine verführerische Idee, mich und meinen Rucksack die letzten zweihundert Kilometer über Schnellstraßen schaukeln zu lassen. Nur weg aus dieser Sinnlosigkeit. Irgendeinen Flieger würde ich finden, der mich nach Hause brächte. Endlich wieder im eigenen kuscheligem Bett schlafen, anstatt auf den durchgelegenen Matratzen in den Herbergen.
Der Anblick von Santa Catalina de irgendwas ist auch nicht geeignet, mein Stimmungstief zu heben. Im Glockenturm hat sich ein Storchenpaar niedergelassen. Die Idylle ist trügerisch, ich spüre es, das ist kein heiliger, sondern ein vergessener Ort.
Ich passiere Fassaden aus rotem Schiefer, die Fenster der Gebäude vergittert, die Türen geschlossen und ich frage mich, ob ihre Bewohner, Greise und Vergessene, das Licht der Mittagssonne scheuen. Die Werbetafeln und Blumenkübel vor dem Gasthaus und der Herberge sind die einzigen Farbtupfer, die die Eintönigkeit brechen. Irgendwo in der Ferne blafft ein Hund, die Luft flimmert über der gepflasterten Dorfstraße.
Auf den ausgetretenen Treppenstufen eines Bauernhofes sitzt eine dreifarbige Katze in der Sonne und putzt ihr glanzloses, struppiges Fell. „Hallo Miezi!“, begrüße ich sie. Unbeeindruckt schaut sie kurz zu mir auf, anscheinend hat sie keine Lust auf ein Gespräch von Frau zu Frau. Als ich sie streicheln will, huscht sie durch ein Loch des maroden Bretterzauns. Ich erhasche einen Blick auf ihren ausgemergelten Körper, auf ihren Bauch, der fast auf dem Boden schleift. Dann höre ich ihre Klagelaute, ihr jämmerliches Rufen. Wusste ich es doch, sie sucht ihren Nachwuchs.
Mir ist, als öffnete sich der Samtvorhang vor einer Kinoleinwand, bevor der Hauptfilm beginnt. Die erste Kameraeinstellung: Ein kleines Bauernhaus, weiß getünchte Wände, Geranien vor den Fenstern, gackernde Hühner im Garten. Ich sehe ein Mädchen aus der Haustür kommen und die Treppenstufen herunterspringen. Es summt ein Liedchen. Die leichten Sandalen sind viel zu groß und es rutscht in ihnen hin und her, als wären sie mit Schmierseife eingerieben. Die Frisur zum Schreien. Wahrscheinlich hat die Kleine selbst Hand angelegt.
Wie alt wird sie sein? Vier, fünf Jahre vielleicht?
Die Kleine legt den Kopf schräg, lächelt mich schüchtern an, nimmt mich bei der Hand und zieht mich mit. Bereitwillig folge ich ihr. Ich glaube zu wissen, was sie mir zeigen wird.
Wir schauen uns verstohlen um. Niemand hat gesehen, dass wir das Grundstück verlassen. Unser Weg führt zunächst am Zaun entlang, dann schlagen wir einen Haken zum nahe gelegenen Kornfeld. Am Rand des Feldes hat sich eine Katze im Gras ein Wochenbett gebaut. Nassglänzende Neugeborene drängen sich an ihren Leib und ringen mit piepsigen Stimmchen um die Milchdrüsen. So klein und schon so verfressen. Die alte Katze putzt und leckt die Feuchtigkeit vom Fell der kleinen Tiger.
Ein Schatten fällt auf das Gesicht des Kindes. Dann sehe ich das Entsetzen in seinen Augen.
Die Katze schleckt nicht. Sie frisst gerade ein Junges auf.
Beherzt, mit dem Mut der Verzweiflung rafft die Kleine ihr Schürzchen und packt ein Neugeborenes nach dem anderen hinein, um sie vor der Fressgier der Mutter zu schützen.
Ich schaue ihr noch nach, wie sie den Wurf ins Haus zur Mutti trägt. „Mama, Mama, die Miezi will ihre Babys fressen! Ich habe sie gerettet!“
Meine Mutter hatte über mich gelacht, mir zärtlich übers Haar gestrichen und mir erklärt, dass die Miezi niemals ihre Kinder fressen würde, dafür hätte sie sie viel zu lieb. Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen. Es kostete sie einiges an Überredungskunst, mich davon zu überzeugen, die jungen Kätzchen zurückzubringen. Aber irgendwann glaubte ich ihren Versprechungen, dass alles gut werde. Ich brachte die Schreihälse dorthin zurück, wo sie hingehörten. Dankbar und flink leckte die alte Katze die drei Entführten ab.
Dummköpfchen, denke ich. Aber woher sollte ich damals auch wissen, dass die Katze nur die Nachgeburt gefressen hatte, und soweit ich mich erinnere, hat mich niemand aufgeklärt, kein Wort über Bienchen und Blumen verlauten lassen und auch nicht über die anderen Dinge des Lebens.
Den ganzen Nachmittag war ich damit beschäftigt, mich immer wieder heimlich zum Bett im Kornfeld zu schleichen, um zu prüfen, ob meine Mutter die Wahrheit gesprochen hatte. Ich konnte mich überzeugen: Alles war gut. Die kleinen, wunderschönen Tiger saugten gierig und die alte Katze, erschöpft von der Geburt, schnurrte leise vor sich hin.
Was weiß eine Vierjährige schon vom Wunder des Lebens. Trotzdem muss ich das Besondere, das Großartige dieses Ereignisses erspürt haben. Still und verzaubert kauerte ich im Gras. Zaghaft streichelte ich die warmen, samtweichen Körper, darauf bedacht, ihnen nicht wehzutun.
Ich lächle glücklich. Die Erinnerung beflügelt mich, meine Schritte sind leicht und federnd. Der Duft von gemähtem Gras und weidenden Kühen liegt in der Luft. Ein Blitz zuckt durch mein Hirn: Meine Oma, braun gebrannt, mit hartem Gesichtsausdruck.
Geh’ weg!
Nein, ich will das nicht sehen! Aber ich bin wehrlos, die Erinnerung greift mit eisigen Fingern nach mir.
Großmutter nähert sich mit energischen, raumgreifenden Schritten dem kleinen Gehöft.
Freudestrahlend renne ich ihr in meinen viel zu großen Sandalen entgegen. Schon von Weitem rufe ich: „Oma, Oma, die Katze hat Junge!“
Sie lässt sich von mir zu der kleinen Familie am Feldrain führen. Ich hüpfte vor ihr her, die Grashalme kitzeln an meinen Beinen.
Plötzlich hat sie es sehr eilig. Ein kurzer Blick auf den Wurf, mit geübtem Griff reißt sie ein Katzenkind nach dem anderen von der Milchdrüse der Mutter und auch sie nutzt ihre geraffte Schürze als Transportmittel für die wimmernde Brut. Jetzt stolpere ich hinter ihr her und will sie um jeden Preis aufhalten, denn mir ist klar, hier läuft etwas falsch. Ich falle hin, rapple mich wieder auf, renne weiter.
Wie ein entschlossener Krieger postiert sich meine Großmutter vor dem Scheunentor, ihr Gesicht versteinert. Mit ihrer linken Hand hält sie den Schürzensaum umfasst, ihre Rechte greift sich das erste Kätzchen und schleudert es mit aller Kraft an das Tor. Ein dumpfes Geräusch, ein Leben ausgelöscht.
„Nein“, schreie ich wie am Spieß und laufe zu ihr, zerre an ihrem Rock, präsent, aber nicht hinderlich. Ehe ich mich versehe, fliegt das zweite Geschwisterchen durch die Luft, piepst entsetzlich, bevor der Aufprall seiner Angst und seinem Leben ein Ende setzt.
Vielleicht gibt es eine Möglichkeit für mich, wenigstens das letzte Kätzchen zu retten. Ich umklammere Omas Bein - sie soll ihren Halt verlieren - und flehe sie an: „Oma, Oma, bitte nicht!“
Sie hört mich nicht. Wieder das ängstliches Quieken, die hilflose Kreatur im Flug, der Laut, der den Tod bedeutet. Stille.
Oma hat entschieden. Ich habe versagt.
Sie nimmt mich endlich wahr, nur um mich wie ein lästiges Insekt wegzuschieben. Dann bückt sie sich nach den winzigen Kadavern und schmeißt sie achtlos auf den Misthaufen.
Meine Großmutter blafft: „Lass das Geflenne!“ Dann lässt sie mich stehen. „Unnützes Viehzeug.“
Ich schluchzte, als könnte ich mein Leben lang niemals wieder damit aufhören. Meine Hände sind zu Fäusten geballt. Ein hilfloser Zwerg am Rande der Verzweiflung.
Eine erwachsene Frau Jahrzehnte später, die leise vor sich hin weint. Salzige Rinnsale des Schmerzes. Und obwohl ich weiß, es ist das Kind in mir, das unter dem Gefühl der Trauer leidet, kann ich nicht damit aufhören.
Ich erkenne, ich muss den Schmerz aus dieser vergangenen Zeit zulassen. Ich muss ihn akzeptieren, nur für eine Weile. Irgendwann wird er schrumpfen, dann kann ich mich befreien von allen Zweifeln an mir selbst.
Ich öffne die Fäuste. Ich muss weiter, muss meinen Weg gehen.
Schwarze Knopfaugen beobachten mich. Das Rotkehlchen legt sein Köpfchen schräg und singt sein Lied.