Verrat mir wo du bist
Der Klang seiner Stimme? Sein Lachen? Sein Gang? Schon merkwürdig, ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich habe nur noch ein verschwommenes Bild von Mark im Kopf, dabei war ich vor zwei Jahren fest davon überzeugt, dass ich mein Leben mit ihm verbringen würde. Oder jedenfalls habe ich es unbedingt glauben wollen. Damals in den Bergen von Gran Canaria, in diesem kleinen Dorf, das drei Autostunden zu weit von Meer entfernt liegt, als dass sich die Touristen dafür interessieren würden. Mein Vater war vor vielen Jahren mit seiner neuen Familie hierhin ausgewandert und hatte sich sein kleines Paradies aufgebaut, ein Häuschen mit Gemüsegarten, Ziegen, Hühnern... ich verbrachte fast jede Ferien dort. In diesem Sommer 2001 konnte ich es kaum noch erwarten, ich war achtzehn und fand das Leben seit einer Weile ein wenig zu anstrengend. Dieses vorletzte Schuljahr, in dem jede schlechte Note plötzlich eine ernste Sache war; diese bewusst vorsichtig formulierten Fragen meiner Mutter: „Kind, hast du denn mittlerweile eine Idee, was du aus deinem Leben machen willst?“ Ich hatte keine Ahnung. In Gran Canaria war der Himmel blau und zumindest in den ersten Tagen verkniff sich mein Vater seine Fragen. Ich hatte meinen Platz am Fluss, einen winzigen Kiesstrand hinter dem Schiff, nicht größer als eine Parklücke, an dem ich allein sein konnte. Ich war überhaupt nicht begeistert, als ich an meinem zweiten Urlaubstag mit meinen Badesachen dort ankam und dieser schwarzhaarige Junge dort saß und las. An meinem Platz! Ihm ging es offensichtlich ähnlich, wir warfen uns einen kurzen Blick zu, dann schaute er wieder in sein Buch. Ich breitetet so weit wie möglich meine Badematte aus, setzte mich, und schaute ins wasser. Vielleicht hätten wir ein Wort miteinander gewechselt, wenn er nicht ausgerechnet „Schiffmeldungen“ von Anne Proulx gelesen hätte. Erstens war er offensichtlich auch Deutscher und zweitens las er genau das Richtige. Ich liebte diesen Roman, der so in die Tiefe ging und trotzdem so humorvoll war. In „Schiffmeldungen“ stellt sich der Außenseiter Quoyle auf Neufundland endlich seiner Geschichte und bekommt am Ende sogar sein Leben in den Griff. Ich schaute zu dem Jungen rüber. „Toller Roman, oder“? nicht gerade die originellste Eröffnung. -„Mhm!“ „Also, die Stelle, wo er...“- „Hey, Stopp, das würde ich schon ganz gerne selber lesen.“ Trotzdem klappte er das Buch zu und sah mich an. „W ie bist du denn hier her gekommen?“ So kamen wir ins reden oder besser: Ich redete. Von meinem Vater mit seinem verrückten Ideen, von meinen Freunden, von zu Hause. Seine Antworten waren eher kurz. Er heiße Mark und arbeite hin und wieder unten im Dorf in einer Bar. Nein, seine Eltern seien nicht mit hier, er habe keine Eltern mehr. Mark war schon vierundzwanzig und dieses verschlossene, geheimnisvolle, das kannte ich von anderen Jungs nicht. Ich fand es großartig. Anziehend. In der Sekunde hatte ich den Ehrgeiz, diejenige zu sein, die er in seine Welt mit hineinnimmt, der er das Geheimnis verrät. Ist das „verlieben“? Damals war ich mir sicher. Wir blieben den ganzen Nachmittag am Fluss und ich wurde schleichend nervöser, dachte plötzlich über meine Sätze nach, bevor ich sie aussprach. Ich sagte dann auf einmal gar nichts mehr, weil mir auf einmal alles langweilig vorkam, oder verkrampft. Mark blieb cool, aber er schaute mich nun anders an. Länger, aufmerksamer. Was mich noch mehr verunsicherte: Eine Woche lang hörte ich nichts von ihm, obwohl ich ihm meine Telefonnummer und Adresse gegeben hatte. Einmal schlenderte ich so selbstverständlich wie möglich an der Bar vorbei, in der er arbeitete, und sah ihn lachend im Gespräch mit zwei Mädchen. Schnell ging ich weiter, bevor er mich sehen konnte. Gefallen hatte mir das nicht. Dann fuhr mein Vater mit seiner Frau und dem Baby zu einem Seminar und ich wollte das Haus hüten, die Pflanzen gießen, die Tiere füttern. Plötzlich stand Mark vor unserer Tür. Wir verbrachten den ganzen Tag zusammen, spazierten durch die Berge, gingen schwimmen und machten am Abendein Feuer am Kamin. „Schiffsmeldungen“ hatte er mittlerweile zu Ende gelesen und wir diskutierten über den Schluss und überlegten, ob so eine Geschichte wirklich passieren könnte. Irgendwann fragte er mich, ob er mich massieren dürfte. Dann küsste er meinen Nacken. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, küssten wir uns immer noch. Ich war berauscht, konnte nicht mehr denken. Aber warum sollte ich auch? Ich wollte dieses Gefühl immer weiter spüren, das so gar nichts mit Schulnoten und ängstlichen Müttern zu tun hatte. Nichts mit einer ungewissen Zukunft. Im Gegenteil: Diese Nacht ließ sich ausbauen. Ich malte mir ein Leben mit Mark auf Gran Canaria aus. Natürlich würde wir vorher eine Ausbildung machen, vielleicht sogar in Deutschland studieren und dann hierher ziehen. Gerade mal zwei Begegnungen reichten mir als Basis dafür. Vielleicht habe ich meine Gefühle auch gleich zur großen Liebe erklärt, damit das Fundament nur nicht wackelt. Zumindest sage ich mir das heute. Von nun an sahen wir uns täglich, uns blieb ja nicht mehr viel Zeit. Eine Woche später ging mein Rückflug. Wir wurden immer vertrauter miteinander, bis Mark mir an einem Abend sogar sein ganzes Leben erzählte: Dass seine Mutter ihn schon früh ins Hein gegeben hatte, den Vater hatte er gar nicht kennen gelernt. Vom Heim sei er zu Pflegeeltern gekommen, abgehauen, auf Gran Canaria in die Drogenszene geschlittert. Hier im Hinterland wollte er nun endlich zur Ruhe kommen. Und er sagte noch etwas: Dass er noch nie so jemanden kennen gelernt habe. Dass ich das erste Geschenk seines Lenbens sei. Ich war stolz. Ich war glücklich. Ich war die Frau, die er in seine Welt mitnahm, der er sein Geheimnis verriet. Seine traurige Geschichte bestärkte mich nur noch darin, für immer mit ihm zusammen bleiben zu wollen. Was könnte es wichtigeres geben, als Mark zu beweisen, dass das Leben sich zum Guten wenden kann? Damals habe ich das natürlich nicht so gesehen, für Fragen, Analysen war überhaupt kein Platz. Schließlich liebte ich! Und tatsächlich machten wir gemeinsame Pläne, er dachte genau wie ich, hatte die gleichen Träume. Ich weiß noch, dass ich mir immer wieder gedacht habe: „Und dies alles wird wirklich passieren! Und dies alles wird wirklich passieren!“ Als ob ich mir selbst Mut machen, jeden Zweifel unterdrücken wollte. Am letzten Tag fuhren mein Vater und ich zu einem Freund, der unten am Meer in der Nähe des Flughafens wohnt. Bei ihm wollten wir übernachten, weil der Flieger am nächsten Morgen sehr früh starten würde. Mark musste am Tag arbeiten und wollte am Abend zu einem letzten Treffen nachkommen. Ich rief ihn an, als wir unten angekommen waren, und erklärte ihm noch mal den Weg. Gerade als ich auflegen wollte, sagte er noch: “Ich Liebe Dich!“ Das war das letzte was ich je von ihm gehört habe. Zwölf Stunden habe ich gewartet und bin, ohne eine Minute geschlafen zu haben, zum Flughafen gefahren. Ich habe die ganze Zeit geheult und bis zuletzt gehofft, dass er noch auftaucht. An Bord hat mich die Stewardess immer wieder gefragt, ob sie mir irgendwie helfen könne und mein Sitznachbar hat mich so besorgt angeschaut, dass ich ihm schließlich die ganze Geschichte erzählt habe. Ich musste sie einfach loswerden. Ich habe ein dreiviertel Jahr nur an Mark denken können und immer wieder gab es Momente, wo ich für einen Moment mit rasendem Herzen gedacht habe :“Da ist er!“ ich habe versucht, ihn ausfindig zu mache, aber keiner seiner Freunde hatte mehr von ihm gehört. Nach einen Jahr war ich noch mal auf Gran Canaria, an all unseren Orten und musste wieder furchtbar weinen. Was wäre passiert, wenn er damals gekommen wäre? Heute sage ich mir, dass wir beide uns damals aufeinander gestürzt haben, um all das anstrengende um uns herum zu vergessen. Wenigstens für eine kurze Zeit. Vielleicht hat Mark gewusst, dass man das nicht ein Leben lang halten kann. Aber vielleicht sind diese schlauen Gedanken auch reiner Selbstschutz. Ich habe mich seitdem in keinen Jungen mehr verliebt, und weder vorher noch nachher hatte ich solche Gefühle. Was, wenn es Mark genauso ging? Er aus Angst vor dem Glück davongerannt ist? Ich weiß es nicht.