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Verrückt sind immer die Anderen
Schmidt wusste, noch 5 Minuten in diesem Raum und er müsste schreien, um sich schlagen und in die Ecke kotzen. Er wusste, dass er all das genau nicht tun durfte. Er musste zuhören, er musste sich konzentrieren, er musste an den richtigen Stellen nicken, Zwischenfragen stellen. Seine Hände waren schweißnass. Sein Rücken war schweißnass. Er hatte das dringende Bedürfnis auf die Toilette zu gehen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich das Hemd aufzuknöpfen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sein Gegenüber zu würgen. Aber das durfte nie und nimmer geschehen. Darauf warteten sie nur. Sie, dass waren doch alle um ihn herum. Wie hatte es eigentlich so weit kommen können. Er hatte doch alles im Griff gehabt. Immer schon.
Und jetzt schaute er in dieses satte, selbstzufriedene Gesicht gegenüber und musste würgen.
Hanske war gelassen. Er hatte nichts zu verlieren. Nie war es ihm besser gegangen. Er hatte ja auch eine professionelle Routine in diesen Dingen. Es war ja auch nicht sein erstes Gespräch. Er konzentrierte sich auf sein Gegenüber. Er liess sich einfach ein auf dieses Gespräch. Ja, es war ihm in letzter Zeit nicht so gut gegangen, die verpasste Beförderung, der Unfall, der Ausraster. Na und? Jetzt war er auf der Höhe.
„Aber Sie, Sie müssen doch wissen, wie ich das meine. Haben Sie gerade verstanden, was ich gesagt habe?“ Schmidt schaute auf. Die Frage überrumpelte ihn, er war grad wirklich abwesend gewesen. „Könnten Sie ihre Frage noch einmal wiederholen?“ Hanske wurde ungeduldig: „Welche Frage, ich habe gerade eine Feststellung getroffen. Ich habe gesagt, wir alle können mal in Situationen kommen, in denen wir die Kontrolle verlieren. Das ist doch nur menschlich.“
Schmidt musste sich jetzt in den Griff bekommen, er setzte ein professionell, freundliches, verständliches Gesicht auf.“Ja, ja, da haben sie natürlich recht, wir alle sind fehlbar.“ Er war hier im falschen Film, er hätte weinen und brüllen können. Gleichzeitig. Das ging ihm in letzter Zeit öfter so.
Hanske merkte, dass er langsam die Geduld verlor. „Lieber Herr Schmidt oder besser Dr. Schmidt?“ Schmidt winkte müde ab, „fahren Sie fort.“ „Herr Schmidt, wir kennen uns ja jetzt schon einige Zeit“, er machte eine Pause und deutete ein Lächeln an. „Wir hatten jetzt, lassen Sie mich nicht lügen, 10 Sitzungen? Wir sollten langsam zu einem Ergebnis kommen.“ Schmidt musste jetzt irgendwas sagen. Er musste an Marie denken. Wenn es so gekommen war, wie sie angedroht hatte, war die Wohnung wahrscheinlich sowieso schon leer. Was hatte es überhaupt für einen Wert, nach Hause zu fahren. Frau weg, Kind weg, Job so gut wie weg. Er steckte in der Sackgasse. Hanske schaute ihn an, lauernd wie es ihm schien. „Ja, Herr Dr. Hanske, 11 Sitzungen waren es sogar. Ich habe auch das Gefühl, das wir weit gekommen sind.“
Die Tür ging auf, der Pfleger schaute rein. Nach einer halben Stunde, so war es vorgeschrieben, seit dem letzten gewaltsamen Zwischenfall. Hanske winkte fröhlich. „Alles in Ordnung Michael“. Der Pfleger schaute Schmidt prüfend an, der nickte nur.
„Dr. Schmidt, wo waren wir grad stehengeblieben? Ach richtig, die Entlassung.“ Schmidt nickte, müde: „Ja, also von meiner Seite aus spricht nichts gegen ihre Entlassung Herr Dr. Hanske."
Hanske nickte zufrieden.