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- 31.01.2016
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Veros Herz
Vom Bett aus sieht sie durch das Fenster nur einen winzigen Teil Himmel, vereinzelt Wolkenfetzen, die Krone einer Pappel, an deren Zweige wenige silbrige Blätter zappeln, die es nicht abwarten können, davonzufliegen. Ist ja Herbst. Vero lächelt und reckt die Arme für die morgendlichen Dehnübungen in die Höhe. Dabei stellt sich ein stechender Schmerz in der Brust ein und sie fasst instinktiv ans Herz. Er geht so schnell vorbei, wie er gekommen ist.
Da hinten, unter diesen Laubbäumen, küsste Nicolas sie zum ersten Mal. Es war einer dieser Frühlingstage Ende April, die ohne Vorwarnung über Nacht den Winter ablösten. Vero wachte am späten Morgen auf. Das Zimmer war gleißend hell und die Luft stickig, obwohl am Vortag noch Frost auf dem Gras gelegen hatte. Sie zog sich schnell an und lief hinaus, um so viel wie möglich vom Tag auszukosten.
Nicolas tauchte auf wie dieser Frühling, den Vero erwartete, der sich viel Zeit gelassen hatte und als sie nicht mehr an ihn dachte, kam er aus dem Nichts und umfasste alles mit großer Kraft, Wärme und Licht. Augenblicklich füllte sich ihr Herz, wurde dadurch nicht schwerer, sondern leichter. Er passte genau hinein und breitete sich aus, wie flüssig gewordenes Glück.
Nicolas fragte, ob alles mit ihr in Ordnung wäre. Es sei viel zu kalt, um im Gras zu sitzen. Kaum beendete er den Satz, nahm er neben ihr Platz. Er war auf dem Weg in die Bibliothek, plauderte drauf los, träumte von einer Bar mit Büchern. Die Austernernte wäre auf Dauer nichts für ihn. Zu einsam und zu nass, er wäre auch nicht mehr der Jüngste, scherzte er und zupfte Grashalme zu ihren Füßen heraus und Vero bemerkte, wie jung er war. Sie hielt das Büchercafé für eine wundervolle Idee und teilte seine Begeisterung, verfing sich in der Vorstellung darin, erzählte von einer Bar in Lissabon, die sie mit ihrem Mann vor vielen Jahren besucht hatte. Dort gab es vor Bücherregalen kaum mehr Platz für Tische und Stühle und es war reine Glückssache, einen freien Tisch zu erwischen. Nicolas betrachtete Vero in ihrem Redefluss, mit ruhigem Blick und der ihm eigenen Offenheit forderte er sie auf, von sich zu erzählen. Vero sprach vom Tod ihres Mannes und wie verloren sie sich vorkam und albern dabei, schließlich war sie eine reife Frau und mitten im Satz, da ist sie heute noch sicher, dass sie den Satz nicht beendet hatte, legte er seine Lippen auf ihre. Ohne Hast, in aller Ruhe. Sonst berührte er sie nicht. Nur seine Lippen auf ihren. Auch heute noch wunderte sie sich über seine Selbstsicherheit. Nicolas wunderte sich nicht. Er tat, was er tun musste, meinte er lapidar, wenn sie über diesen Frühlingstag sprachen, als ihrer beider Leben einen gemeinsamen Weg einschlug.
Anfang der Woche feierten sie seinen fünfzigsten Geburtstag. Kurz vor Mitternacht musste Vero in ihre Wohnung begleitet werden, die sich direkt über seinem Café befindet. Das Herz beginnt bei ihr offenbar als erstes schwach zu werden, auf das sie immer hörte, das sie die letzten sechsundzwanzig Jahre in Atem hielt, das sie wieder und wieder in seine Arme trieb, sich lebendig fühlen ließ und den Verstand ausschaltete, wenn er ihr riet, diese ungleiche Beziehung zu beenden.
Sie bemerkte nicht, ob es andere Frauen für ihn gab. Bis auf ein einziges Mal. Eine Fremde kam ins Café. Die Saison neigte sich dem Ende, die Touristen kehrten wieder in die Städte zurück. Deshalb fiel sie Vero auf. Eine Städterin war sie. Elegant, in seidigen Sommerkleidern und teuren Schuhen. Tagelang kam sie, saß auf demselben Platz in einer Ecke und starrte Nicolas an, redete auf ihn ein, wenn er zu ihrem Tisch kam. Später gab er zu, sie gekannt zu haben. Mehr nicht. Vero wurde den Verdacht nicht los, dass sie etwas mit seinem Verschwinden am Anfang ihrer Beziehung zu tun hatte. Einige Wochen nach dem ersten Kuss verschwand Nicolas nämlich so plötzlich wie er gekommen war. Unnötig zu sagen, dass der Sommer zu Ende ging. Vero wusste nicht, warum sie glaubte, diese Frau wäre der Grund dafür. Ein Gefühl eben. Vero ist voll davon. Besteht nahezu ausschließlich aus Gefühlen. Er erwähnte diese Begegnung nie wieder. Dabei gab sie ihm zu verstehen, dass sie Verständnis hätte, wenn er sich eine junge Frau suchte, Kinder bekäme und all das. Nicolas wollte mit ihr nicht darüber sprechen. Er versicherte ihr, dass niemand verstehen müsse, was sie beide verbände. Nicht einmal sie beide bräuchten das. Mit großer Sicherheit vermied er dieses Thema und die Zeit verging. Die junge Frau kam nie wieder.
Wo er wieder bleibt? Er weiß doch genau, dass sie um diese Zeit auf ihn wartet. Dann hört sie, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird und ihr Herz bewegt sich wie das Laub dort draußen vor dem Fenster. Sie fühlt wie es bis in den Hals schlägt, sich mit Blut füllt. Vero fährt mit gewohnter Geste durch das ergraute Haar, richtet ihre Bluse, schlägt die Beine übereinander und blickt erwartungsvoll zur Tür.
„Guten Morgen, Vero." Er trägt ein Tablett und schließt umständlich die Tür mit dem Fuß.
„Recht spät für Frühstück", sagt sie gespielt beleidigt.
Nicolas ignoriert diese Begrüßung, weil er weiß, dass es nicht viel braucht, um sie zu besänftigen. Außerdem hat sie bereits gefrühstückt. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual, sie jeden Morgen mit Tee aufzusuchen. Er stellt das Tablett in die Mitte, setzt sich auf die andere Seite des Bettes und schlägt ebenfalls die Beine übereinander.
„Was für ein Morgen!" Er klatscht die Handflächen auf seine Oberschenkel und lächelt fröhlich. „Habe mich jetzt erst aus dem Café stehlen können. Der Andrang zu den Austernfahrten ist diese Saison extrem hoch, reichlich Gäste. Gibt wohl kein gutes Frühstück in den Hotels. Na, uns soll's recht sein, nicht wahr? - Hast du vor, zum Mittagessen herunterzukommen?"
Er ahnt schon, dass sie ihre Wohnung nicht verlassen wird. Trotzdem möchte er sie dazu anregen. Seit Wochen geht sie nicht aus. Nach all den Jahren weiß Nicolas genau, dass er Geduld mit ihr braucht. Er küsst ihre Wange und reicht ihr eine Tasse Tee, nimmt sich selbst die andere und nippt daran.
„Ich war gestern im Kunstmuseum", sagt sie anstelle einer Antwort.
„Du hast mir gar nicht gesagt, dass du das vorhast." Nicolas sieht sie mit geweiteten Augen an, hat es nicht gern, wenn sie unterwegs ist und er nicht weiß, wohin. Er sorgt sich, seit sie Anfang des Jahres einen leichten Herzanfall erlitt.
„Dort ist mir ein Frau aufgefallen. Sie ging allein, nahm sich viel Zeit beim Betrachten der Bilder. Dabei befand sich eine steile Falte auf ihrer Stirn. Das fiel mir sofort auf, weil sie viel zu jung für Falten war. Ihre Haare wirkten ungebändigt und es ragten weiß gefärbte Strähnen hervor. Auch rotgefärbte."
Vero nimmt eine Strähne ihres langen Haares und wickelt sie gedankenvoll um einen Finger.
„Sie war gekleidet, als würde sie alles tragen, was sie besaß. Ich könnte nicht auf Anhieb sagen, was sie genau anhatte. Und obwohl ich sie regelrecht anstarrte, beachtete sie mich überhaupt nicht. Sie trug eine große Tasche über der Schulter und in den Händen hielt sie viele Zettel und Hefte. Sie wirkte irgendwie geheimnisvoll, aber auch unerschrocken, so ganz bei sich selbst. Weißt du, was ich meine?"
Nicolas weiß, was sie meint. Von Beginn an kann er sich in sie einfühlen, in ihre Gedanken, so wie sie in seine.
„Beim Verlassen des Raumes bemerkte ich auch einen kleinen, alten Mann. Bereits an die siebzig. Es kam mir vor, als hätte er sich dorthin verirrt. Mit seinem weiß-blauen Trainingsanzug wäre er auf einem Sportplatz nicht aufgefallen. In diesen Räumen unterschied er sich doch vom Rest der Besucher. Er schlenderte mehr, als dass er ging. Es war nicht möglich, seine Augen zu sehen, weil er unentwegt nach unten blickte. Ich überlegte, ob er sich womöglich nur versehentlich hier aufhielt oder eventuell gar nicht wusste, wo er sich befand und ob man ihn vielleicht bereits suchte, und ich machte mich gerade auf den Weg in seine Richtung, als sich die junge Frau an seine Seite stellte. Wie aus dem Nichts stand sie neben ihm."
Vero wird lebhaft und ihre Stimme zittert leicht, sie gestikuliert mit ihren mageren Händen.
„Es sah nicht aus, als hätte sie ihn gesucht, sie hatte ihn einfach ... wiedergefunden. Er wandte sich ihr nicht zu, aber er lächelte. Ihrer beider Arme drückten sich aneinander, während sie sich zu seinem Ohr hinunterbeugte und etwas hineinflüsterte. Dabei berührten ihre Lippen sanft seine Ohrmuschel. Er verhinderte das mit keiner Bewegung, stand da, rührte sich nicht und ich bildete mir ein, er wünschte, sie würde nie wieder aufhören, das zu tun. Er drehte für einen Moment nur die Augen zu ihr nach oben, begann leise eine Melodie zu summen, aber laut genug, dass ich sie auch hören konnte. Die Stirnfalte der Frau glättete sich im gleichen Moment und sie legte ihren Kopf auf seiner Schulter ab, lachte verhalten. Er kreuzte die Arme vor seinem Bauch. Dann fügte er der Melodie einen italienischen Text hinzu. Das wunderte mich seltsamerweise gar nicht, ich dachte ohnehin gleich an italienische Liedweisen, obwohl ich mich nicht erinnerte, welche zu kennen. Mein Herz flutete sich ohne Vorwarnung und ich betrachtete das Paar ungeniert. Es gab nur die beiden und die Bilder in diesem Raum und als sie den gemeinsam verließen, begann ich zu weinen.“
Nicolas hört still zu, liebt es, wenn Vero erzählt. Sie ist lebhaft und er kommt zur Ruhe, indem er in ihre Geschichten taucht, verbindet sich mit Vero, steht mit ihr in diesem Raum, in dem sie das Paar beobachtet. Eine Träne läuft über Veros Wange und er trocknet sie schnell mit den Fingern, als hoffte er, sie würde ihre eigene Traurigkeit nicht bemerken. Sie litt von Anfang an mehr unter ihrer Beziehung als er selbst. Das Gerede über sie, der Altersunterschied, das Café, berührten ihn weit weniger als sie. Veros Ehe zuvor blieb kinderlos. Nicolas liebte Vero und die Arbeit. So einfach war das für ihn. Und so vergingen die Jahre.
„Wer waren die beiden? Was denkst du?" Er nimmt ein Stück Toast mit Quittengelee, weil sie das am liebsten mag, beißt ab, führt es an Veros Mund und wartet, bis auch sie davon genommen hat. Vero hebt die Schultern: „Na ein Liebespaar, denk' ich."
Sie rutscht etwas hinunter, legt den Kopf an seine Brust und schließt die Augen, als sie sein Hemd öffnet. Ihre Hand fährt über seine Haut und bleibt auf seiner Brust liegen. Sie ist glatt und fest und duftet nach dem Eau de Toilette, das sie ihm seit Jahren schenkt. Er benutzt kein anderes.
„Vero", flüstert er, „was tust du da?" Es ist ihm nicht unangenehm, aber diese Art der Vertrautheit liegt viele Jahre zurück. Er legt seine Hand auf ihre, schließt die Augen.
„Mich erinnern", flüstert sie und für eine lange Weile liegen und schweigen sie.
Gegen Mittag betritt Vero das Café. Augenblicklich begrüßt sie ein Angestellter, küsst sie auf beide Wangen und begleitet sie an einen freien Tisch. Nicolas winkt ihr vom Tresen zu. Neben ihm steht ein junger Mann, den Vero noch nicht kennt. Ein neuer Kellner sicherlich. Sie wird morgen früh nach ihm fragen. Nur aus Interesse. Nicolas entscheidet alles allein. Ein hübscher Kerl Anfang zwanzig, denkt sie und lächelt ihm zu, als er in ihre Richtung blickt.
"Guten Tag, Vero. Ich habe dich lange nicht in deinem Café gesehen."
Ein Mann in einem altmodischen Anzug und mit einer Frisur, die er selbst fabriziert haben könnte, steht an ihrem Tisch und sie bittet ihn mit einer einladenden Handbewegung, sich zu setzen. Eine hochgezogene Augenbraue deutet darauf hin, dass sie es aus Höflichkeit macht.
"Du weißt genau, dass es mir nicht gehört", sagt sie gelangweilt, während sie in der Handtasche nach dem Feuerzeug sucht. Er hat mittlerweile neben ihr Platz genommen, streicht sich mit arthritischen Händen die Haare aus dem Gesicht. Sie knufft vertraut mit der Faust gegen seinen Oberarm.
"Es gehört Nicolas." Dabei betont sie jedes einzelne Wort gedehnt und es klingt, als rede sie mit einem tauben Hundertjährigen.
„Gut, dass das dein Mann nicht erleben musste", grantelt der Alte und ordert per Fingerzeig die Bedienung. Vero zündet eine Zigarette an. Sie genießt dieses Privileg und niemand würde es ihr verbieten.
„In deinem Alter", nörgelt der Alte und wedelt mit der Hand im Rauch herum, nippt am Cognac. „Du hättest mich heiraten sollen nach seinem Tod."
Vero rollt mit den Augen und erinnert an ein Kind, dass von seinem Vater zurechtgewiesen wurde.
„Nenn mir auch nur einen Grund, weswegen ich das hätte tun sollen?" Dabei pustet sie den Rauch provozierend in seine Richtung. „Weil du mich kennst, seit ich ein halbes Kind war? Weil ich deinen besten Freund geheiratet hab? Weil du jemanden brauchst, an dem du herumnörgeln kannst?"
Vero trinkt das Glas Champagner in einem Zug leer.
Der Alte hustet und sie klopft seinen Rücken. Spucke sprüht auf die weiße Tischdecke, bevor er sich endlich die Hand vor den Mund hält.
„Ich muss gehen. Schön, dich gesehen zu haben", sagt sie, nimmt ihre Tasche, den leichten Mantel und geht zum Ausgang. An der Tür fängt Nicolas sie ab und umarmt sie, hält sie länger fest, als es für eine Verabschiedung nötig wäre.
„Ich freue mich, dass du heruntergekommen bist", flüstert er in ihr Ohr, seine Lippen berühren ihre Ohrmuschel. Vero schließt die Augen und irgendetwas durchflutet sie, was sie kurzentschlossen als Sehnsucht bezeichnet. Nachdem er sie aus seinen Armen lässt, küsst er ihre Lippen und Vero verlässt das Café mit einem Gang, der nicht an eine betagte Frau erinnert.
"Vero! Ich habe jemanden mitgebracht, den ich dir vorstellen möchte", ruft Nicolas. Mit dem Frühstückstablett und dem jungen Mann von gestern aus dem Café betritt er das Schlafzimmer, das er so gut kennt, das gefüllt ist mit Erinnerungen von Leidenschaft.
Vero liegt tot in ihrem Bett, das Gesicht ist bleich und entspannt, sie könnte auch schlafen. Nicolas fällt schwer auf die Bettkante, betrachtet ihr Gesicht. Zögernd nimmt er ihre kalte Hand, senkt den Blick. Yannis setzt sich auf die andere Seite. Sie starren auf die Frau in ihrer Mitte und über Nicolas' Gesicht finden Tränen ihren Weg.
„Ich kann es nicht erklären", flüstert er, legt sich neben sie, umklammert sie, „ich habe nicht darüber nachgedacht, weil es mich von ihr weggetrieben hätte. Es hätte mehr Argumente gegen uns gegeben. Ich wollte es nicht wissen und will es auch jetzt nicht.“
„Und Mama?", fragt Yannis, „hast du sie nicht geliebt?“
Nicolas` Herz ist schwer, als Yannis das Zimmer verlässt.