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Veronika sieht anders
Sie setzt sich mit einer Tasse in der Hand an den Küchentisch. Toni sitzt gegenüber und widmet sich konzentriert dem Zubereiten seines Frühstücks. Sie nippt am Tee und sieht dabei zu, wie er mit langgliedrigen Fingern das Messer hält, jeden Schnitt genau ansetzt und leicht durch das Obst gleiten lässt, als operiere er ein offen gelegtes Herz.
Veronika trägt noch das Nachthemd. Als sie erwacht und Toni nicht neben ihr liegt, verlässt sie schnell das Bett, um nicht zu versäumen, neben ihm zu sitzen. Für einen Augenblick fürchtet sie, er habe nicht bemerkt, dass sie sich zu ihm gesetzt hat, und deswegen spricht sie ihn an: "Möchtest du, dass ich dich heute Nachmittag begleite?" Etwas anderes hat sie gerade nicht zu sagen. Sie ist kaum hörbar.
Er sieht nicht auf und sie zweifelt einen Moment, überhaupt etwas gesagt zu haben.
"Wie du willst." Er schaut sie an und sie denkt sich ein Lächeln um seine Lippen, bevor er sich erneut dem Pfirsich widmet.
"Erinnerst du dich an den letzten Sommer? Wir sind nicht weggefahren", sagt Veronika.
Seit Beginn des Sommers denkt sie darüber nach.
Es ist schade, gerade dann zu reisen, wenn es zu Hause am schönsten ist.
Der Wunderbaum beginnt seine Blüte im August und sie kann schon erste Brombeeren pflücken, aus denen sie Marmelade kocht. Toni isst sie gerne nachmittags zu weichem Brot. Sämtliche Nachbarn sind verreist. Es ist ruhiger als sonst und alle Farben sind intensiver.
Langsam hebt er den Kopf und blickt sie an, als erkenne er sie nicht. Die Falte zwischen den Augen ist tief, der Blick dunkel. Jemand anderes als Veronika könnte denken, das wäre ein übellauniger Gesichtsausdruck. Aber so blickt Toni oft und Vero hat sich von Anfang an nicht davon beeindrucken lassen und erkannt, dass er versucht, zu verstehen.
"Wie kommst du denn jetzt darauf?", sagt er. Den Satz betont er gar nicht als Frage.
Sein Löffel klappert dazu unrhythmisch an der Schale, weil er die Müslireste vom Rand schabt.
Sie kann vom Platz durch das bodenlange Fenster in den Garten sehen. Der Rasen ist gemäht und zwei Sperlinge springen im Gras herum. Sie sind einander vertraut, bleiben nah zusammen, kommunizieren dennoch nicht sichtbar. Plötzlich fliegen sie gemeinsam davon.
Sie denkt über Tonis Frage nach und vermutet, dass sie einfach keine Lust hätte, in Südfrankreich mit ihm am Frühstückstisch zu schweigen. Hier kennt sie sich aus. Diese Stille kann sie aushalten.
"Möchtest du nicht verreisen? Im letzten Jahr hatten wir keine Pflegehilfe für Mutter. In diesem Sommer schon", gibt Toni zu bedenken.
Veronika stellt die Teetasse vor sich auf den Tisch und betrachtet sie.
Sie ist angeschlagen. Oben am Rand hat sie einen Sprung und etwas Porzellan ist abgeplatzt. Sie kann sich nicht von ihr trennen.
Über zwei Fragen gleichzeitig nachzudenken ist nicht leicht für Veronika. Wie kommt sie darauf, nicht verreisen zu wollen? Möglicherweise fürchtet sie noch mehr Einflüsse, die es zu verarbeiten gilt. Oder sich in der Fremde zurechtfinden zu müssen. Dort herrscht eine Vielzahl an Pflanzen und Düften, die sie zu begreifen hätte. Einfache Wege und Konversation auf dem Markt würden sie schnell überfordern. Ihr ist bewusst, dass die meisten Mitmenschen sie für ungewöhnlich halten. Sehr früh war sie sich der Macht der Worte bewusst, sagte schon als Schülerin nur das Nötigste und wurde dafür oft verbal attackiert. Ein Missverständnis.
Sicher spielte das eine entscheidende Rolle für Toni, als er sie vor acht Jahren fragte, was sie von der Ehe halten würde. Sie sah darin eine Einrichtung, die sie schützen könnte. Sie wäre zugehörig und aufgehoben und sagte ihm das. Da es für ihn vernünftig klang und nichts dagegen sprach, sein Akademikergehalt mit ihr zu teilen, heirateten sie noch im selben Jahr. Ihre Eltern lebten zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr und auch sonst war sie allein. Das war sicher auch eine Überlegung für ihren zukünftigen Ehemann. Tonis Nase ist schmal, seine Augen waren früher größer und die Farbe ist jetzt ausgeblichen. Sie waren blau. Nun sind sie etwas matt und grauer. Aber es gibt keine Farbveränderungen, welche die Zeit mit sich bringen, die Veronika von Toni trennen könnten. Seine Haut ist längst nicht mehr hell und zart. Sie beide lieben den Sommer und sind viel draußen. Toni mäht den Rasen hinter dem Haus, während sie die Pflanzen kultiviert und erntet. Aber sie gehen auch durch die Wälder und picknicken an Seen oder auf einem Berg.
"Veronika."
Sie reagiert immer sofort auf ihren Namen, mitunter ist das die einzige Möglichkeit für sie, aus sich herauszutreten. Ähnlich einem Schlüsselwort während einer Hypnose.
Veronika sieht Toni erneut ins Gesicht. Mit Öl und Pipelines kennt er sich als Ingenieur gut aus. Sie scheint anders zu funktionieren. Er weiß offenbar nicht immer so genau, an welcher Schraube bei ihr zu drehen ist, wenn alles zu schnell in ihr zu fließen scheint. Sie weiß es ja selbst nicht.
Veronika kann stundenlang draußen herumstromern und Pflanzen zuordnen. Sie pflückt Blüten vom Johanniskraut, um daraus eine Tinktur herzustellen, die ihr gut bekommt. Sie stellt auch Cremes her, die bei Hautverletzungen helfen, wenn Toni unvorsichtig ist und sich verletzt. Der Professor, den sie hin und wieder aufsucht, meint, krank wäre sie nicht, sofern eine Hypersensibilität nicht als Krankheit eingestuft werde würde. Im Garten ist sie ruhig und denkt weniger. Hier kann sie sehen, ohne zu werten.
"Du kannst hierbleiben, wenn du willst", schlägt er vor.
Es hört sich an wie 'Ich fahre auch allein.'
Veronika hat Toni gerne in ihrer Nähe. Die Umgebung hat mehr Kontrast, wenn sie sie mit vier Augen betrachten. Wenn sie beide auf dem Rasen liegen und sein Arm ganz dicht neben ihrem, dann ist es nicht die Berührung, die sie elektrisiert. Deswegen hält sie ihren Arm immer ganz leicht auf Abstand zu seinem. Es ist dieses Wärmepolster dazwischen, das sie verbindet.
Wenn Sie dann schließt die Augen und es gibt keinen einzigen Grund, sie wieder zu öffnen.
Sie kann alles sehen, was es zu sehen gibt.
Toni kann sehr gut allein reisen, Boot fahren, angeln, auf dem Rasen liegen. Das Gras ist dort im Süden fester, nicht so weich wie in ihrem Garten. Zu Beginn ihrer Ehe ist Toni jedes Jahr im frühen Herbst ohne sie nach Frankreich gefahren.
Er käme vermutlich auch dieses Mal zurück. Ausgeruht wäre er und gefüllt mit Eindrücken vom Meer und mit der Wärme der südfranzösischen Sonne. Vielleicht würde er sogar eine kleine Affäre mit der portugiesischen Zugehfrau im Ferienhaus beginnen.
Er würde all diese Eindrücke mit zu ihr nach Hause bringen und mit ihr teilen.
Während dieser Zeit wird sie Toni vermissen. Sie ist ein bisschen neidisch. Gerne würde sie auch einmal ohne sich selbst verreisen, um Abstand zu gewinnen, sich zu vergessen, sich nicht dabei haben.
"Möchtest du heute mit zu Mutter oder bleibst du hier?", fragt er und ist gar nicht ungeduldig. Sie hört seine Zärtlichkeit und wenn sie ganz genau hinsieht, erkennt sie das Blau in seinen Augen, wie es aufblitzt und sie darin erinnert, dass er sie vom ersten Augenblick geliebt hat.
Er steht auf, um die Schale in die Spüle zu räumen. Den Becher lässt er stehen. Vielleicht setzt er sich zu ihr zurück.
Er besucht seine Mutter jeden Samstag. Oft geht Veronika mit. Sie sitzt dann an Mutters Seite, legt die Hand auf die ihre, bis sie sie wegzieht. Damit demonstriert sie vielleicht den Vorwurf, dass sie keine Kinder bekommen haben, glaubt Veronika. Natürlich haben Toni und sie oft daran gedacht, wie es wäre, ein gemeinsames Kind wachsen zu sehen. Im ersten Ehejahr war er sehr von diesem Gedanken beeindruckt. Veronika dagegen war sich selbst genug. Sie fürchtete zudem, ihre Liebe, die ganz Toni galt, wäre ausgeschöpft und nichts mehr übrig für einen anderen Menschen, der doch so sehr von ihren Gefühlen abhängig gewesen wäre. Toni hat das schließlich wohl genauso gesehen und sie blieben kinderlos.
"Schön, dass du mich besuchst, mein Sohn!"
Veronika würdigt sie keines Blickes und so nimmt sie neben dem Bett Platz und ergreift Mutters Hand. Die fühlt sich an wie in Pergamentpapier gewickelte Hühnerknochen.
"Wie lange bist du eigentlich schon wieder zu Hause, Veronika?", wendet sie sich unvermittelt an sie.
Noch bevor Veronika antworten kann, spricht Toni: "Ich habe dir doch erzählt, dass ich Vero letzte Woche aus der Klinik abgeholt habe", sagt er ohne einen Vorwurf in seiner Stimme. "Sie war ja nur ein paar Tage dort."
"Na, der Professor ist dir ja mit den Jahren sehr vertraut geworden, was, Toni?"
Veronika legt die Hände auf die Beine und blickt Toni an. Er lächelt das Lächeln von früher, nicht das schnelle, zwinkernde, das ihr signalisiert, alles halb so wild. Dieses Lächeln kommt ihr ganz nah und lässt sie aufatmen.
"Vero hat ab dieser Woche eine Ausstellung in der Städtischen Galerie. Wir könnten sie besuchen, wenn du dich gut fühlst. Was meinst du, Mutter?"
"Hast du deine verrückten Bilder jetzt auch noch ausgestellt?"
"Vero hat ausschließlich Naturmotive gemalt. Sie sind sehr schön geworden. Am besten gefallen mir diese riesigen Samenkapseln, die einen Hang hinunterzurollen scheinen. Wie heißen diese dunkelbraunen Dinger noch gleich?"
"Rizinuskapseln", beantwortet Veronika seine Frage, ohne zu zögern.
Toni sieht seine Mutter milde lächelnd an, als wäre sie ein vorlautes Kind, und sie blickt eingeschnappt auf Veronikas Hände.
"Wenn ihr Kinder hättet, hätte Veronika eine sinnvolle Beschäftigung", zetert die Mutter und wackelt mit dem Kopf. Ihre schwarz gefärbten Haare bleiben starr, nur ihre hellen Augen blitzen, die rotgeschminkten Lippen sind schmal.
"Hast du mir etwas mitgebracht, Veronika?", fragt sie nach einer Weile und blickt auf die kleine Papierbox auf dem Nachttisch, die Veronika zu Hause sorgsam bemalt, gefaltet und jetzt dort abgestellt hat. Es sind blühende Mandelbäume darauf.
Veronika ist sich nicht so sicher, ob sie Mutter die selbstgebackenen Mandelherzen heute geben sollte. Vielleicht wäre sie erneut enttäuscht.
"Ja, Mutter, Vero hat netterweise für dich gebacken. Die Zutaten kommen direkt aus dem Garten."
"Seit wann habt ihr denn Mandelbäume?"
"Nein, die haben wir tatsächlich nicht. Vero verwendet zusätzlich Gewürze für das Gebäck."
Toni sieht Veronika an. In seinem Blick liegt Wissen. Und Verständnis. Und noch etwas, das wie Zustimmung aussieht.
Veronika öffnet die Papierschachtel.
"Hier, Mutter. Für dich."
Geschmeichelt nimmt Mutter einen Keks. Geziert nagt sie an einem frisch gebackenem Herzen.