Verloren im Wind
Mattes Sonnenlicht tauchte die enge Straße in ein gedämpftes Farbenspiel, kitzelte den schwarzen Feldspat in den Granitquadern des Gehsteigs wach und ließ die Einschlüsse glitzern. Eintönig klopften Absätze Vorübergehender über die unebenen Kopfsteinpflaster, wie ein Spielball verfing sich das Echo in den Hauseingängen, immer wieder zurückgeworfen, schwächer werdend und schließlich irgendwann nicht mehr hörbar.
Wie ein schwerer Samtvorhang hätte sich an diesem lauen Nachmittag Stille über den Ort ausgebreitet, doch etwas war immer wieder zu hören. Leise nur, zaghaft eigentlich, aber doch hörbar. Wie eine Melodie klang es, hell wie ein Glockenspiel, aber es fehlte eben das Selbstbewußtsein eines lauten und deutlichen Vortrags. Fast kam mir das Lied bekannt vor, das sich da Ton für Ton über die Straße erhob, sich leichtfüßig von den Bäumen in die Höhe schwang, dabei Finstersimse erklomm und schließlich wie ein kleiner Ballon in den Himmel wehte.
Mein Blick schweifte umher auf der Suche nach der Quelle der Melodie, bis ich sie sah, im Halbdunkel eines Geschäftseingangs stehend. Die Rolladen hinter ihr waren herabgelassen, der kalte Schimmer des Metalls wirkte sehr abweisend. Wohl musste das die junge Sängerin auch spüren, doch die Kälte und Ignoranz, die ihr eilig vorüberlaufende Manager und affektiert stöckelnde Damen entgegenbrachten, ließen sie in jenem Eingang Schutz suchen.
Begleitet von der Klaviermelodie einer Cassette, die eingelegt in einen Rekorder zu ihren Füssen schon leierte, wurde ihre Stimme immer leiser, als fürchte sie aufzufallen.
Zwei Meter vor ihr boten Sonnenstrahlen, die auf dem Gehsteig tanzten, die ideale Bühne für eine Gesangsdarbietung, und hätte sie dieses Angebot angenommen, so wäre auch der zerknitterte Filhut vor ihr besser gefüllt gewesen. So aber, in ihrer Angst durch ihre Musik Mißfallen zu erwecken, hatte sie sich zurückgezogen in das Halbdunkel des Eingangsbereiches. Traurig verfolgten ihre Augen Passanten, während sie verschiedene Lieder zum besten gab, manchmal senkte sie auch ihren Blick - es schien, als sei es ihr sogar peinlich hier zu sein.
Im Eissalon gleich daneben hatte eine Familie mit zwei kleinen Kindern Platz genommen. Zwillingsschwestern, beide in dunkles Rot gekleidet und die blonden Locken sorgsam zu Zöpfen geflochten, drehten sich immer wieder neugierig nach der schüchternen Sängerin um. Ganz versonnen betrachteten sie das junge Mädchen, dessen Musik sie vom genußvollen Verzehr ihrer Eiscreme abhielt. Schließlich konnten die Eltern ihre Töchter nicht mehr aufhalten. Noch auf wackeligen Beinen, aber doch schon kräftig genug, um vom Sessel zu springen und den eigenen Kurs zu bestimmen, liefen die Kleinen auf die Sängerin zu. Eine der Zwillinge hielt ganz vorsichtig eine Münze, die sie beide hartnäckig von den Eltern erbettelt hatten, in den kleinen Händchen. Einige wenige selbstbewußte Schritte und sie standen ganz erstaunt über die harmonische Melodie vor dem jungen Mädchen.
Und als wäre es dieser Augenblick wert, für alle Anwesend festgehalten zu werden, breitete gerade jetzt die Abenddämmerung ihr schönstes Farbenspiel über die Szene aus. Ein Lächeln huschte über das gerade zuvor noch so traurige Gesicht der jungen Musikstudentin - denn nichts Anderes konnte sie sein, beschämt und doch gezwungen, ihre Stimme zu üben.
Inzwischen hatte ein leichter Wind eingesetzt, der sanft über die Stadt strich. Einer Rebellion gegen das Festgefahrene und Starre gleich nahm er die Melodie auf, trug sie auf seinen leichten Böen dahin und ließ sie wie eine Siegesfahne weit durch das Stadtviertel wehen.
Noch immer prallten sämtliche Gefühlsregungen am eintönigen Klopfen verschiedener Absätze auf dem unebenen Kopfsteinpflaster ab, noch immer brachten ihr vorüberlaufende Manager und affektiert stöckelnde Damen die Kälte und Ignoranz entgegen. Doch jetzt konnte diese Mauer der Studentin nichts mehr anhaben. Sie war einen Schritt vorgetreten, hatte mit leichtem Lächeln das Angebot der Sonnenstrahlen angenommen und stand aufrecht darin, fröhlich trällernd und ihren dankbaren Blick auf die Kinder geheftet. Die Wirkung menschlicher Kälte war gebrochen. Sie ging verloren im Wind.